Carola Jäggi: Kunstgeschichte in Zürich

Endlich: Ein Ordinariat für moderne und zeitgenössische Kunst (1982)

Carola Jäggi

Jedlickas Tod hatte vor allem im Bereich der modernen Kunst ein Vakuum hinterlassen, das durch das Duo Maurer/Reinle nur unzureichend ausgefüllt wurde. Dies wurde auch von den übergeordneten Institutionen so gesehen. So wandte sich im Mai 1968 die Erziehungsdirektion mit der Anfrage an den Dekan, wie die Fakultät mit dieser Lücke in Zukunft umzugehen gedenke: «im Zusammenhang mit dem Antrag der Philosophischen Fakultät I auf Wahl von P.-D. Dr. Richard Zürcher zum Assistenzprofessor für Kunstgeschichte» sei – so heisst es in dem betreffenden Schreiben – «sowohl in der Hochschulkommission als auch im Erziehungsrat dem Wunsche Ausdruck gegeben [worden], die moderne Kunst möchte im akademischen Unterricht stärker zur Geltung kommen».[160] Die umgehende Rücksprache des Dekans bei den Fachvertretern ergab, dass seit Wintersemester 1966/67 – also noch vor offiziellem Amtsantritt von Maurer – Dr. Franz Meyer, der Direktor des Kunstmuseums Basel, regelmässig im Rahmen eines Lehrauftrags an der Universität Zürich über Kunst des 20. Jahrhunderts lese. Diese Vorlesungen seien bei den Studierenden sehr beliebt, so dass vorgesehen sei, Meyers Lehrauftrag zu erweitern. Sowohl in den Augen des Dekans als auch in jenen der örtlichen Fachvertreter schien damit die erziehungsrätliche Anfrage vorerst beantwortet: «Die Herren Proff. A. Reinle und E. Maurer glauben, dass dadurch dem Wunsch der Hochschulkommission sowie des Erziehungsrates, die moderne Kunst möge im akademischen Unterricht stärker zur Geltung kommen, Genüge getan würde.»[161] Reinle und Maurer hatten zu jener Zeit eher eine Assistenzprofessur für die Kunst des 19. Jahrhunderts im Blick.[162] Die moderne und zeitgenössische Kunst musste danach noch jahrelang mit Lehraufträgen – wenn auch «in respektablem Ausmass» – vorliebnehmen.[163] In den Augen von Maurer und Reinle hatte diese Regelung «den Vorteil der Flexibilität innerhalb einer rasch wechselnden Szenerie», hatte aber zugleich auch «die gewichtigen Nachteile, dass es an Systematik, Kontinuität und Vollständigkeit mangelt, dass die Verantwortung verzettelt ist, dass nicht viele dauerhaften Impulse auf die Öffentlichkeit ausgehen und dass im übrigen die Studierenden, die auf diesem Gebiete promovieren wollen, doch von den beiden Ordinarien zu betreuen sind, die darin selbst kaum arbeiten.»[164] 1976 war es dann so weit: Nachdem 1971 auch «der Schweizerische Wissenschaftsrat […] die Schaffung von Professuren und Instituten zur modernen Kunstgeschichte an mehreren Hochschulen des Landes als dringlich empfohlen» hatte, stellte die Philosophische Fakultät I am 24. Februar 1976 bei der Erziehungsdirektion den Antrag auf Schaffung und Besetzung eines Ordinariats für moderne und zeitgenössische Kunst. Dieser Antrag wurde vom Regierungsrat zwar bewilligt und ein Berufungsverfahren in Gang gesetzt, doch scheiterte die Berufung des Erstplatzierten Max Imdahl aus Bochum schliesslich «nach längeren Verhandlungen».[165] Im Juli 1980 kam es zu einem zweiten Versuch, und wieder wurde zunächst wortreich auf die grundsätzliche Notwendigkeit einer solchen Professur hingewiesen: «Das Arbeitsfeld der Kunstgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hat sich in kurzer Zeit beträchtlich erweitert: durch die künstlerische Produktion selber, durch neue Methoden (strukturalistische, informationsästhetische, soziologische, psychologische usw.) und durch neue sachliche Schwerpunkte (offizielle Kunst, Volkskunst, Trivialkunst, Architektur und Umwelt, Kunst und Werbung, Design usw.).» Dabei habe sich «die Erforschung der Epochen seit 1870 und insbesondere seit 1910 zu einem speziellen Fach ausgewachsen. Innerhalb dieser hundert Jahre sind die Entwicklungen der bildenden Kunst ausserordentlich dicht und neuartig, so dass die Konstituierung eines eigenen Lehrbereichs in der Sache begründet ist. Gewiss hängt die neueste Kunstgeschichte mit der älteren vielfach zusammen, besonders innerhalb des 19. Jahrhunderts, aber sie hat ihre eigene Problematik (z. B. jene der ungegenständlichen Kunst) und ihren eigenen Begriff von Wissenschaftlichkeit.» Dieser Entwicklung der Kunstgeschichte «zur Dreistöckigkeit – 1) Mittelalter, 2) neuere Kunst von ca. 1500 bis ca. 1870, 3) moderne und zeitgenössische Kunst» – sei Rechnung zu tragen, was «in mehreren Hochschulen der Schweiz und des Auslandes bereits geschehen» sei. Auch seitens der Studierenden sei das Interesse an moderner Kunst auffällig gross: «Lehrveranstaltungen auf diesem Gebiet pflegen an unserer Fakultät – unabhängig von der Person des Dozenten – regelmässig 150 bis 300 Teilnehmer anzuziehen, davon etwa zur Hälfte Nichtkunsthistoriker. Lizentiats- und Doktorarbeiten zur modernen Kunst nehmen im Gesamtprogramm einen bedeutenden Anteil ein.» Darüber hinaus käme eine «bis in die Aktualität erweiterte, strenge Universitätskunstgeschichte […] auch der Rolle Zürichs als Ausstellungs- und Kunsthandelszentrum zustatten», ganz zu schweigen vom «Interesse seitens der zahlreichen Zürcher Kunstfreunde, der Zürcher Kunstinstitute und des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft in Zürich».[166]

Stanislaus von Moos im Kreise von Studierenden
Abb. 32: Holland-Exkursion im Juni 1985: Stanislaus von Moos im Kreise von Studierenden im Sitzungszimmer auf dem Dach der Van Nelle Fabrik in Rotterdam, erbaut 1926-1929 von Brinkman & Van der Vlugt unter Mitarbeit von Mart Stam.
Foto: Christof Kübler.

Zum Profil der für diesen Lehrstuhl gesuchten Persönlichkeit heisst es, dass «der Inhaber» – mit einer Inhaberin wurde offenbar weiterhin nicht gerechnet – in der Lage sein müsse, «die Entwicklungen der letzten hundert Jahre nicht nur nach historischen und formalen Gesichtspunkten zu vertreten, sondern dabei auch die Beherrschung moderner Methoden mit der Aufgeschlossenheit für die jüngsten Forschungsfelder der ‹Visual Arts› zu verbinden.» Leider sei die Auswahl an Kandidaten, die den Anforderungen an eine solche Stelle entsprächen, ausgesprochen eingeschränkt, «weil für die moderne Kunst weithin missionarisch oder mit einseitigem Engagement oder in der Art von ‹critique d’art›, nur selten aber wissenschaftlich eingetreten wird.»[167] Im August 1981 wurde der Luzerner Stanislaus von Moos (* 1940; Abb. 32) auf den neuen Lehrstuhl berufen, trat die Stelle aber erst zum 1. September 1982 an, da er erst wenige Monate zuvor, 1980, ein Ordinariat für Kunst- und Architekturgeschichte an der Technisch Hogeschool Delft angetreten hatte.[168]

Stanislaus von Moos im Treppenhaus des 100 Jahre zuvor von Karl Moser errichteten Kollegiengebäudes
Abb. 33: Stanislaus von Moos im Treppenhaus des 100 Jahre zuvor von Karl Moser errichteten Kollegiengebäudes der UZH, 2014; als Spezialist für moderne und zeitgenössische Architektur würdigte von Moos in diesem Jubiläumsjahr mehrfach den Moser’schen Hochschulbau.
Foto: Marc Latzel.

Von Moos hatte zunächst Architektur an der ETH Zürich, dann Kunstgeschichte an der Universität Zürich studiert und dort 1967 sein Studium mit der Dissertation Kastell, Palast, Villa. Studien zur italienischen Architektur des 15. und 16. Jahrhunderts abgeschlossen; seine Habilitation erfolgte 1974 an der Universität Bern auf Basis der Schrift Turm und Bollwerk. Beiträge zu einer politischen Ikonographie der italienischen Renaissancearchitektur unter zusätzlicher Berücksichtigung der 1968 erschienenen Monografie über Le Corbusier.[169] Die Architektur der Moderne und Gegenwart standen stets im Fokus von von Moos’ Lehre und Forschung. (Abb. 33)

Anders als bei den beiden Ad personam-Professuren von Sennhauser und Brinker bot die Besetzung des neuen Ordinariats auch Gelegenheit, die Infrastruktur des Seminars – konkret: das Institutssekretariat – auszubauen, ausserdem den Bibliotheks- und den allgemeinen Betriebskredit aufzustocken und nicht zuletzt den wissenschaftlichen Mittelbau.[170] Seminarleitung und Fakultät hatten auch nicht versäumt, im Antrag von 1980 auf die stark angestiegenen Studierendenzahlen im Fach Kunstgeschichte – im Sommersemester 1980 waren es 250 Hauptfach- und etwa ebenso viele Nebenfachstudierende – hinzuweisen und darauf, dass Zürich damit das mit Abstand grösste kunsthistorische Institut in der Schweiz sei, in Hinblick auf die «festen Professuren» aber schlechter dastehe als etwa Bern, Genf und die ETH mit ihren jeweils drei Ordinarien oder Basel und Lausanne, wo zu den jeweils zwei Ordinarien beiderorts drei weitere Dozenturen kämen.[171]

[160] Schreiben der Erziehungsdirektion vom 1. Mai 1968 (UZH-Archiv AL.7.43).
[161] Schreiben des Dekans vom 1. Mai 1968 an die Erziehungsdirektion (UZH-Archiv AL.7.43).
[162] Siehe oben, mit Anm. 141 bzw. 140.
[163] Zitat aus dem Antrag des Dekanats vom 11. Juli 1980 an die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich bzgl. Schaffung und Besetzung eines Ordinariats für moderne und zeitgenössische Kunst an der Philosophischen Fakultät I (UZH-Archiv E.3.1.294).
[164] Ebd.
[165] Ebd.
[166] Ebd.
[167] Ebd.
[168] RRB vom 12. August 1981, Nr. 3045 (UZH-Archiv E.3.1.294). Der Altersrücktritt erfolgte zum 31. August 2005; JbUZH 2005, S. 129.
[169] Ich verdanke diese Angaben Stanislaus von Moos (Mail vom 31. August 2021).
[170] Dies geht aus diversen, noch der Geheimhaltung unterliegenden Dokumenten im Dossier E.3.1.294 im UZH-Archiv hervor.
[171] Wie Anm. 163.

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150 Jahre Kunstgeschichte an der UZH Copyright © 2022 Carola Jäggi. Alle Rechte vorbehalten.

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