Carola Jäggi
Wölfflins Altersrücktritt 1934 bescherte seinem Kollegen Escher eine fünfjährige Alleinvertretung des Faches, da Wölfflins Ordinariat ad personam ausgesprochen worden war und deshalb keine automatische Nachfolgeregelung nach sich zog.[55] Schon zuvor hatte Escher «die Dissertationen auf dem Gebiete der mittleren und neueren Kunstgeschichte» alleine zu begutachten und sämtliche «Doktorprüfungen auf diesem Gebiet abzunehmen», da sich Wölfflin von Anfang an «von der Pflicht zur Abnahme von Prüfungen» hatte befreien lassen.[56]
In der Lehre wurde Escher unterstützt durch die Privatdozenten Franz Stadler (1877–1959; Abb. 12), der schon 1913 unter Zemp seine Lehrtätigkeit aufgenommen hatte und 1929 zum Titularprofessor ernannt worden war,[57] Hans Hoffmann, dem wir weiter unten als Nachfolger von Escher wieder begegnen werden, Gotthard Jedlicka und Josef Gantner. 1939 gelangte die Fakultät an den Erziehungsrat mit der Bitte um Wiederbesetzung der zweiten Professur unter Hinweis darauf, dass die Kunstgeschichte seit einigen Jahren «ungünstiger da[stehe], als vorher viele Jahrzehnte lang»; die Universität Zürich sei die einzige Hochschule in der Schweiz, «in der dieses Fach, das im Doktorexamen als Hauptfach gewählt werden kann, nur durch ein einziges Extraordinariat vertreten wird».[58] Es gehe «auf die Dauer nicht an, sich auf das Vorhandensein von Privatdozenten zu verlassen. Neben dem dringend notwendigen Ausbau des Faches legt auch die Rücksicht auf die Förderung des akademischen Nachwuchses es nahe, nicht auf unbeschränkte Zeit Kräfte unentgeltlich in Anspruch zu nehmen, die nach der Leistung Anspruch auf eine solche Förderung haben.» Es wird bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass die Fakultät bereits beim Rücktritt Zemps 1928 und der Ernennung Eschers zu dessen Nachfolger erklärt habe, «daß es notwendig sein werde, nach dem Rücktritt Wölfflins neben Escher eine zweite Persönlichkeit zu stellen, […] da es im Wesen der Sache liege, daß in diesem Fache eine mehr stofflich gerichtete Persönlichkeit ergänzt werden müsse durch eine zu Systematik und allgemein geisteshistorischen Gesichtspunkten neigende». 1934, beim Rücktritt von Wölfflin, sei es «nur die Rücksicht auf die Krise» gewesen, die die Fakultät daran gehindert habe, «ihren Standpunkt erneut zu vertreten». Nach wie vor sei sie – die Fakultät – der Meinung, «daß dieses gewaltige Gebiet nicht von einer einzelnen Persönlichkeit vertreten werden» könne. Hinzu komme «als außerordentliche Erweiterung […] die Kunst des 19. Jahrhunderts», die «zu den bisherigen Aufgaben hinzugetreten» sei, weshalb es sich «von selber ergeben» werde, dass das hier erneut beantragte Extraordinariat «besonders dieses Gebiet als Zentrum haben wird». Aus diesen Erwägungen heraus habe die Fakultät eine Kommission damit beauftragt, «für einen zeitgemäßen Ausbau des akademischen Unterrichtes in Kunstgeschichte Vorschläge zu machen.» Außer den drei eigenen Privatdozenten Stadler, Hoffmann und Jedlicka sei auch der akademische Nachwuchs der übrigen Schweizer Universitäten «in die Überlegungen einbezogen» worden, wobei «hiervon einzig Privatdozent Dr. Reinhardt in Basel nach Persönlichkeit und Leistungen eine ernsthafte und sorgfältige Berücksichtigung bedurfte».[59]
Vorgeschlagen wurde schliesslich Gotthard Jedlicka (1899–1965), der zunächst Primar- und Sekundarlehrer gewesen war und erst während seiner Lehrtätigkeit als solcher kunsthistorische Veranstaltungen an der Universität Zürich besuchte.[60] 1928 war er an seiner Alma Mater auf Basis einer Schrift über Toulouse-Lautrec, dessen Werk er während eines längeren Paris-Aufenthaltes kennengelernt hatte, promoviert worden (Abb. 13); für seine 1934 ebenfalls an der Universität Zürich vollzogene Habilitation hatte er eine Studie zum Meister der Karlsruher Passion und eine Schrift mit dem Titel Beiträge zu einer Charakteristik der Malerei von Edouard Manet eingereicht und die Venia für mittlere und neuere Kunstgeschichte erhalten.[61] Wölfflin und Escher als amtierende Fachvertreter hatten das Habilitationsgesuch von Jedlicka zwar unterstützt und seine «feine Einfühlungsgabe in künstlerische Werte» hervorgehoben, aber auch darauf hingewiesen, dass es aus Sicht des Faches derzeit (i. e. 1934) kein Bedürfnis nach einer weiteren Fachkraft gebe, da der aktuelle Lehrkörper mit seinen beiden Professoren und seinen drei das «Gesamtfach der mittleren und neueren Kunstgeschichte» abdeckenden Privatdozenten für die damals circa acht Fachstudierenden mehr als ausreichend sei.[62] Begründet wurde der Vorschlag zur Wahl Jedlickas zum Extraordinarius 1939 dann unter anderem damit, dass «der gegenwärtig einzige Fachvertreter der Fakultät, Professor Dr. Konrad Escher, […] bei all seiner umfassenden Tätigkeit […] die ältere Kunst einschließlich der Architektur» bevorzuge; «eine Hilfe und Entlastung würde er am ehesten in Hinblick auf Dissertationen und Vorlesungen über moderne Kunst begrüßen und erstreben. […]
Die Weite des Werks von Dr. Jedlicka offenbart eine geistige Spannkraft, die ihn vor den drei andern Anwärtern deutlich heraushebt. Sie zeigt seine Gabe, in geordnetem Wechsel sich in ein Bild zu versenken und wieder sich über das Material zu erheben, die Inhalte und ihre Darstellungen durch mannigfaltige Beziehungen vom Bild zum Künstler und zu dessen Absicht zu deuten und in ihrer Bedeutsamkeit zu erfassen und zu schildern und dem Künstler in der Kunst und Kultur seinen Platz anzuweisen.»[63] Auf dieser Basis wurde Jedlicka zum Wintersemester 1939/40 zum «außerordentlichen Professor für Kunstgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts mit Einschluß der Schweizerischen Kunst dieses Zeitalters» ernannt, wie damals üblich zunächst für eine Amtsdauer von sechs Jahren. Als Lehrverpflichtung wurden 5–8 Wochenstunden Vorlesungen und Übungen festgesetzt, und erstmals ist im Regierungsratsbescheid zur Wahl von Jedlicka davon die Rede, dass mit der Professur «die Mitbeteiligung an der Leitung des Kunstgeschichtlichen Seminars» verbunden sei. Zudem, so wird festgehalten, sei Jedlicka «bei der Wahl von Vorlesungen aus der älteren Kunstgeschichte […] gehalten, sich des Einverständnisses von Prof. Dr. K. Escher zu versichern».[64]
Mit seinem Schwerpunkt in der neueren und neuesten Malerei hatte Jedlicka allerdings ein ganz eigenes Profil, so dass es nur selten – etwa im Bereich der Renaissancekunst – zu Doppelungen kam.[65] Seine Vorlesungen, etwa jene zu «Greco, Velazquez, Goya» (im WS 1946/47) oder «Der französische Impressionismus» (im WS 1947/48), erfreuten sich beim Publikum grosser Beliebtheit und zogen jeweils über 150 Studierende und Hörer:innen an.[66] (Abb. 14)
Eschers krankheitsbedingter Rücktritt im Sommer 1944 bescherte Jedlicka ein unerwartet rasches Upgrade zum Ordinarius.[67] Obwohl Escher vor Erreichung der Altersgrenze ausschied, sein Rücktritt also zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeplant war, reagierte die Fakultät umgehend und nahm die Situation zum Anlass, «für die Kunstgeschichte die Schaffung eines vollen Ordinariates zu beantragen. Sie weist darauf hin, daß die Kunstgeschichte an Bedeutung ständig zunehme und sowohl im Rahmen der Fakultät als nach außen einer Vertretung bedürfe, die dieser Bedeutung angemessen sei. Mit Nachdruck hebt die Fakultät ferner hervor, daß nur eine planmäßig durch lange Zeit zentral und verantwortlich geführte Sammlung von Druckschriften und Kopien aller Art den Vorlesungen des Dozenten denjenigen Rahmen zu geben vermöge, der eine fruchtbare Vertiefung seitens der Studierenden ermögliche, und daß die Betreuung der stark anwachsenden und weiter sich vermehrenden Bestände der kunstgeschichtlichen Abteilung eine Aufgabe sei, die über den Aufgabenkreis eines Extraordinariates hinausgehe. Die Fakultät hofft, das heutige kunstgeschichtliche Seminar könne dereinst zu einem eigentlichen Institut ausgebaut werden. Wenn sie noch keinen festumrissenen Antrag in dieser Richtung stellt, läßt sie sich vor allem durch die Rücksicht auf die gegenwärtige Raumnot an der Universität leiten.»[68] (Abb. 15) Hochschulkommission und Erziehungsrat stimmten der Errichtung eines Ordinariates für Kunstgeschichte zu und schlugen «für das Ordinariat und die Betreuung des Seminars oder eines allfälligen künftigen kunstgeschichtlichen Institutes» Gotthard Jedlicka vor, da von den «denkbaren schweizerischen Anwärtern» keiner diesem gleichzustellen sei und das «deutschsprachige Ausland […] aus naheliegenden Gründen» – der 2. Weltkrieg war noch nicht beendet – «außer Betracht gelassen» werde.[69] Jedlicka wurde daraufhin zum Sommersemester 1945 ordentlicher Professor für neuere und neueste Kunstgeschichte mit einer Lehrverpflichtung von 8–12 Wochenstunden. Zusätzlich sei mit dieser Professur «die Leitung des Kunstgeschichtlichen Seminars und der Bibliothek verbunden».[70] Mehrfach also – und dies ist der Grund, weshalb dieser Regierungsratsbeschluss so ausführlich zu Worte kommt – wird hier auf eine Institutionalisierung der Zürcher Kunstgeschichte angespielt, auf die Notwendigkeit, sie zu einem ‹eigentlichen Institut› auszubauen und mit den nötigen Infrastrukturen, allen voran einer adäquaten Bibliothek und einer Bildersammlung, auszustatten. Weiter unten wird dieser Punkt nochmals gesondert thematisiert werden.