Carola Jäggi
Bei den Diskussionen um die Nachfolgegestaltung des Rahn’schen Lehrstuhls im Jahre 1912 war auch Heinrich Wölfflin[28] (1864–1945; Abb. 7) um ein Gutachten gebeten und dessen Antwort von der Philosophischen Fakultät I dem Erziehungsrat als «Urteil des derzeitigen Führers in der Kunstwissenschaft» vorgelegt worden.[29] Wer hätte damals wohl gedacht, dass dieser hochgelobte Gelehrte zwölf Jahre später selbst als Professor in Zürich Einzug halten und ebendort Kollege von Josef Zemp, der ja 1913 infolge nicht zuletzt des Wölfflin’schen Gutachtens zum Extraordinarius ernannt worden war, werde! 1924, als Wölfflin seine Tätigkeit als Ordinarius ad personam an der Universität Zürich annahm, war er bereits 60 Jahre alt und hatte eine langjährige erfolgreiche Professorenlaufbahn hinter sich, zunächst (1893–1901) in Basel als Nachfolger von Jacob Burckhardt, dann (1901–1912) als Nachfolger von Hermann Grimm in Berlin, seit 1912 in München und damit jener Universität, wo er 1886 in Philosophie promoviert worden war und 1888 durch Habilitation die Venia in neuerer Kunstgeschichte erhalten hatte.[30] Offenbar hatte der gebürtige Winterthurer im Vorfeld seiner Berufung an geeigneter Stelle durchblicken lassen, dass er nicht abgeneigt sei, seine Lehrtätigkeit für die letzten Berufsjahre nach Zürich zu verlegen.[31] Aus einem Brief des Erziehungsdirektors vom 6. Juli 1923 an den Dekan der Philosophischen Fakultät I geht hervor, dass – unter anderem im Beisein von Josef Zemp – bereits Vorgespräche in dieser Sache stattgefunden hätten.[32] Allerdings könne es sich «nicht um die Schaffung einer neuen eigentlichen Professur handeln, sondern in Würdigung der wissenschaftlichen Bedeutung des Herrn Prof. Wölfflin darum, ihm durch eine persönliche Berufung Gelegenheit zu geben, an unserer Universität zu wirken. Der ihm zu erteilende Lehrauftrag für ca. 4 Stunden Vorlesungen oder Uebungen wäre ganz allgemein zu fassen und kann unseres Erachtens nach den besondern Verhältnissen neben den bestehenden Lehraufträgen einhergehen, zu denen er eine eigenartige und willkommene Ergänzung bieten wird.» Bisher seien die Gespräche sehr diskret verlaufen, doch sei es jetzt an der Zeit, die Fakultät zu befragen, wie sie sich zur «Frage der Berufung Wölfflins» stelle, «und sie um ihre Anträge hinsichtlich der Gestaltung des Lehrauftrages zu ersuchen» – die Sache habe eine gewisse Dringlichkeit. Die Fakultät äusserte sich erwartungsgemäss zustimmend, so dass Wölfflins Wahl durch den Regierungsrat am 18. Oktober 1923 erfolgen konnte: «Die Angliederung an den bisherigen kunstgeschichtlichen Unterricht denkt sich die Fakultät so, daß Prof. Wölfflin das Hauptgewicht seiner Vorlesungen und Übungen auf systematische Darlegungen von künstlerischen Entwicklungsgesetzen, Einführung zur Erkenntnis der Kunst als Lebenswert, ästhetische Deutung wichtiger Erscheinungen aus der Geschichte der Kunst, eindringliche Behandlung einzelner Meister legen würde. Die bisher an der Universität vorzugsweise gepflegte Darstellung der kunstgeschichtlichen Tatsachen und ihrer allgemeingeschichtlichen Zusammenhänge dürfte zu diesem Programm nach der Ansicht der Fakultät die notwendige Ergänzung bilden.»[33] Mit den angedachten vier Vorlesungsstunden pro Woche, die mit der Berufung von Wölfflin verbunden waren, ergäben sich zusammen mit den bereits bestehenden Lehraufträgen wöchentlich etwa 13 Stunden. Als Lehrgebiet wird – möglichst weit – «Kunstwissenschaft» vorgeschlagen. Für «die Bedienung des kunstgeschichtlichen Apparates» sei eine «Hülfskraft» beizuziehen, für besagten «Apparat» selbst – eine Sammlung von Kunstdrucken, Fotografien und Lichtbildern – habe Wölfflin seinerseits schon «beruhigende Zusicherungen» gemacht. Wölfflins Lohn, so heisst es weiter, entspreche nicht dem eines vollen Ordinariats, nicht zuletzt deshalb, weil von Anfang an gelegentliche Beurlaubungen «für die Dauer eines Semesters» vorgesehen seien.
Tatsächlich liess sich Wölfflin nach seinem Amtsantritt zum Sommersemester 1924 sehr oft, bisweilen jedes zweite Semester, beurlauben.[34] Dennoch entfaltete er eine reiche Lehrtätigkeit, auch im Bereich der Grundausbildung, für die er Jahre zuvor (1915) mit seinen Kunstgeschichtliche[n] Grundbegriffe[n] selbst ein lange gültiges Standardwerk verfasst hatte, das der Kunstgeschichte «plötzlich zu einem Lehrgebäude und festen Massstäben» verhalf.[35] (Abb. 8) Seine Vorlesungen zogen aber auch Hörer und Hörerinnen von ausserhalb der Universität an, etwa seine einstündige Vorlesung zu Rembrandt im Wintersemester 1925/26, die von 122 Studierenden und 265 «Auditoren» besucht wurde.[36] In einem Brief des Dekans an den Erziehungsdirektor vom 18. November 1929 ist gar von einer «von seiner Hörerschaft aus gehende[n] Massenpetition» gegen eine weitere Beurlaubung Wölfflins die Rede, die Wölfflin prompt dazu bewogen hätte, «ein Gesuch um Urlaubsbewilligung zurückzuziehen».[37] Wölfflin selbst wertete den Erfolg seiner Lehrtätigkeit in Zürich deutlich weniger positiv. Zu den Zürcher Studierenden habe sich – wie er 1944 ex post beklagte – nie jene Beziehung ergeben, «die sich an den verschiedenen Universitäten in Deutschland selbstverständlich eingestellt hatte. Zwar hielt ich auch Uebungen, aber es entstand keine Beziehung zwischen den Studenten und mir, unser Verhältnis glitt rettungslos in das der einseitigen Hochachtung über.»[38] Und da «der Verkehr mit der Jugend fehlte», habe auch «das freie und großzügige Geben und Nehmen» gefehlt, was sich lähmend auf seine Forschertätigkeit ausgewirkt habe – er habe längst nicht so viel schreiben können, wie er «in der Muße von Zürich» fertigzustellen gehofft hatte. Zudem seien die räumlichen Verhältnisse eng gewesen, «keine Diapositive, keine Bibliothek, kein eigentlicher Seminarraum». Auch mit den Fakultätssitzungen habe er seine Mühe gehabt und schliesslich nicht mehr daran teilgenommen, so dass es «immer einsamer» um ihn geworden sei. Erst jetzt erkenne er, «wie fruchtbar und fördernd es ist, in eine größere Ordnung eingefügt und ihr verpflichtet zu sein».[39]
Nach zehnjähriger Tätigkeit wurde Wölfflin zum Wintersemester 1934/35 aus dem aktiven Universitätsdienst entlassen, notabene unter Verzicht auf ein Ruhegehalt – erst «bei eintretendem Vermögensverlust» werde er darauf zurückkommen.[40] Gleichzeitig erfolgte die Ernennung zum Honorarprofessor, wie dies bei Ordinarien damals üblich war, um sie auch weiterhin an die Universität zu binden. (Abb. 9) 1941 verlieh ihm die Medizinische Fakultät der Universität Zürich zudem die Ehrendoktorwürde und würdigte ihn damit in seiner Bedeutung als «Schöpfer einer ‹Naturgeschichte der Kunst›», als «Meister der Beschreibung künstlerischer Gestalt» und «Erzieher des menschlichen Auges zu methodischem Sehen».[41] Wölfflin habe, so heisst es in der Laudatio weiter, «durch exakte Beschreibung und Deutung des Sinnlich-Schaubaren in der Kunst und durch Aufzeigung des Visuell-Typischen im historischen Wandel des künstlerischen Sehens, welches in gesetzlicher Weise im Stilgefühl einer Epoche zum Ausdruck kommt, […] in hervorragender Weise dazu beigetragen, den optischen Sinn des Menschen zu schärfen und die Erkenntnis des psychophysiologischen Phänomens, welches dem künstlerischen Sehen zugrunde liegt, zu vertiefen». Es sei «nicht nur fruchtbare Methode für den Kunsthistoriker, sondern auch für den Arzt», aus einem «komplizierten optischen Ganzen das Wesentliche herauszuholen und in der Deutung synthetisch wieder aufzubauen […]. In der Vermittlung dieser mit Meisterschaft geübten Methode ist Wölfflin, selbst ein Kenner naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise, auch für den Mediziner Vorbild und grosszügiger Gebender gewesen.»[42] Wölfflin habe «auch die Mediziner sehen gelehrt, hat sie gelehrt, aus einem optischen komplexen Substrat das Wesentliche herauszugreifen und die wesentlichen Momente zu einer Synthese zu vereinigen», «als großer und vielleicht letzter Representant [sic] der Renaissance» habe er «lebhafte naturwissenschaftliche und biologische Interessen gehegt» und sei auch aus diesem Grund der Medizinischen Fakultät nahe gestanden.[43] Tatsächlich hatte Wölfflin bereits in seiner «Antrittsrede» vom 14. Juni 1924 auf die Notwendigkeit einer «Geschichte des Auges» hingewiesen, nehme doch das Auge «eine so wichtige Stellung in der Bildung der Weltanschauung als Orientierung in der Welt ein, dass es eigentlich eine unumgängliche Forderung sein müsste, die Geschichte des Auges zu kennen mit den einzelnen Sehformen, die allein in der Kunst abzulesen sind».[44]