Susanna Blaser-Meier
Die zwei Dekaden von 1965 bis 1985 standen ganz im Zeichen von Expansion. Das Kunstgeschichtliche Seminar wuchs in dieser Zeit von einem beschaulichen Betrieb mit zwei ordentlichen Professuren, einer überschaubaren Anzahl Studierenden und einem Lehrangebot, das nur selten über die Romantik hinausging, zu einem blühenden Betrieb mit fünf Ordinariaten, einem Extraordinariat und nahezu 400 Studierenden, in dem auch die Kunst der Moderne und Gegenwart einen ständigen Platz in Lehre und Forschung einnahm. Dass dieser Ausbau gelingen konnte, verdankte sich dem zielgerichteten Einsatz des Führungsduos, den Professoren Reinle und Maurer. Eingeläutet wurde diese Zeitspanne durch eine unglückliche Koinzidenz: einen Rücktritt und einen Todesfall.[1] Aufgrund dieser beiden Ereignisse war 1965 für das Kunstgeschichtliche Seminar ein einschneidendes Jahr. Auf das Sommersemester 1965 schied Peter Meyer, der seit 1944 am Seminar gelehrt hatte, altershalber aus dem Lehrkörper aus. Am 9. November 1965 verstarb Gotthard Jedlicka unerwartet im 67. Altersjahr auf einer Vortragsreise in Duisburg.[2] Seine bereits begonnenen Lehrveranstaltungen – das Wintersemester 1965/66 lief seit Mitte Oktober – konnten teilweise von den Privatdozenten Eduard Hüttinger und Richard Zürcher zusätzlich neben deren eigenen Veranstaltungen übernommen werden.[3] Immerhin war die Nachfolge Meyers bereits geregelt, so dass ab dem Sommersemester 1965 Adolf Reinle am Seminar lehrte, vorerst für ein Jahr als ausserordentlicher, ab 1966 dann als ordentlicher Professor. (Abb. 1)
Reinle (1920–2006) war zum Zeitpunkt seiner Berufung 45 Jahre alt und konnte auf eine beachtliche ausseruniversitäre Karriere zurückblicken. Nach seiner Promotion an der Universität Basel – notabene als Historiker bzw. Kulturhistoriker, wie er sich zeitlebens selber verstand – hatte er ab 1947 als Kunstdenkmälerinventarisator des Kantons Luzern gewirkt, bevor er ab 1952 für sieben Jahre die Stelle eines Konservators am Kunstmuseum Luzern innehatte. Bereits in dieser Zeit zeichnete sich seine schier unfassbare Schaffenskraft ab: zwischen 1953 und 1968 hatte er nicht nur fünf Kunstdenkmälerbände des Kantons Luzern, sondern daneben auch noch zwei Bände der von Joseph Gantner begonnenen Kunstgeschichte der Schweiz verfasst. Von 1956 bis 1965 war er zudem Denkmalpfleger des Kantons Luzern. 1963 habilitierte er sich an der Universität Basel. An der Universität Zürich knüpfte Reinle inhaltlich an seinen Vorgänger Meyer an, der als ausserordentlicher Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters und der neuen Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Architekturgeschichte gewirkt hatte.[4]
Die Vakanz, die durch den plötzlichen Tod Jedlickas entstanden war, konnte erst auf das Sommersemester 1967 mit Emil Maurer (1917–2011) neu besetzt werden. (Abb. 2) Das Seminar musste für die Lehre im ganzen Jahr 1966 entsprechend improvisieren. Welche Herausforderung es bedeutete, die Lehre in dieser Situation abdecken zu können, widerspiegelt sich im dürftigen Angebot in den Vorlesungsverzeichnissen. Sowohl im Sommersemester 1966 wie auch im Wintersemester 1966/67 konnten bei Drucklegung noch nicht alle Lehrveranstaltungen angekündigt werden. Die Lücken in der Lehre wurden weiterhin mindestens teilweise durch Zürcher und Hüttinger aufgefangen; im Wintersemester 1966/67 wurde zusätzlich ein zweistündiger Lehrauftrag an den Berner Universitätsprofessor Max Huggler erteilt.[5] Mit Reinle und Maurer wurden innerhalb von zwei Jahren also gleich beide Lehrstühle neu besetzt. Mit der Aufwertung von Reinles Stelle zum Ordinariat im Wintersemester 1966/67 verfügte das Seminar nun über zwei ordentliche Professuren. Die inhaltliche Aufteilung ergab sich aus den Schwerpunkten der beiden Professoren. Während sich Reinle in Forschung und Lehre vornehmlich mit dem Mittelalter und der Architektur beschäftigte, deckte Maurer die Malerei ab. Bereits die Antrittsvorlesungen beider Professoren zeugen von dieser inhaltlichen Gewichtung; Reinle widmete seine Antrittsvorlesung am 30. Oktober 1965 dem Thema Der sakrale Turmbau im Mittelalter,[6] während Maurer am 11. Mai 1968 über Tradition und Revolution in der italienischen Malerei (Gedanken zu Masaccio) sprach.[7] Wie Reinle war auch Maurer erst nach einer Karriere als Denkmalpfleger und Kunstdenkmälerinventarisator an die Universität zurückgekehrt. Drei Jahre älter als Reinle hatte Maurer 1949 in Basel seine Promotion zu Jacob Burckhardt und Rubens abgeschlossen und wurde daraufhin für die Inventarisierung der Kunstdenkmäler des Kantons Aargau verpflichtet. Der von ihm verfasste Band zum Kloster Königsfelden erschien 1954. Nach seiner Habilitation in Basel folgte Maurer zum Sommersemester 1965 einem Ruf an die Universität Bern, den er zugunsten der ordentlichen Professur in Zürich als Nachfolger Jedlickas jedoch schon ein Jahr später aufgab. Maurer war beim Antritt seiner Stelle in Zürich bereits 49 Jahre alt. Die ähnliche Herkunft und der ähnliche Werdegang der beiden fast gleichaltrigen Männer – beide stammten aus dem Aargau, hatten in Basel promoviert und habilitiert, beide hatten ihre Sporen in der Kunstdenkmälerinventarisation verdient – führte dazu, dass sich zwischen den beiden kurz nacheinander berufenen Professoren schnell eine fruchtbare Zusammenarbeit zum Wohl des Seminars entwickelte. Angesichts steigender Studierendenzahlen musste der Ausbau von Ressourcen – Finanzen und Personal – vorangetrieben werden. Der erste fassbare Akt in dieser Hinsicht ist der Antrag auf eine Assistenzprofessur für Richard Zürcher, der seit 1947 als Privatdozent am Kunstgeschichtlichen Seminar tätig war.[8] Obwohl er so lange für die Kunstgeschichte an der Universität Zürich gewirkt hatte wie kein anderer, ist Richard Zürcher kaum jemandem aktiv in Erinnerung geblieben.[9] 34 Jahre lang, von seiner Habilitierung 1947 bis zur Emeritierung, lehrte Richard Zürcher ununterbrochen am Kunstgeschichtlichen Seminar – so lange wie keiner vor ihm und keiner nach ihm. Zürcher (1911–1982) hatte an den Universitäten München, Wien und Zürich Kunstgeschichte, allgemeine Geschichte und neuere deutsche Literatur studiert und anschliessend das Diplom als Hauptlehrer für Geschichte und Kunstgeschichte erworben. 1936 wurde er an der Universität Zürich bei Konrad Escher promoviert mit einer Arbeit, die 1938 unter dem Titel Der Anteil der Nachbarländer an der Entwicklung der deutschen Baukunst im Zeitalter des Spätbarocks publiziert wurde; die Habilitation erschien 1947 unter dem Titel Stilprobleme der italienischen Baukunst des Cinquecento. Die Publikationstätigkeit Zürchers schöpfte zeitlebens aus dieser Forschung, hatte er doch offenbar ein «geradezu missionarisches Bedürfnis, seine vertieften Interpretationen von Kunstwerken der Vergangenheit einem weiten interessierten oder zu interessierenden Kreis von Menschen aller Stände nahezubringen»,[10] was sich auch darin äusserte, dass er viele Jahre als Dozent an der Volkshochschule Zürich wirkte. Dass seine vielen Publikationen eher populärwissenschaftlich ausgerichtet waren, wurde ihm von den Kollegen auch vorgeworfen und hätte beinahe verhindert, dass er 1968 eine vollamtliche Assistenzprofessur am Kunstgeschichtlichen Seminar erhielt.
Die Ernennung Zürchers zum Assistenzprofessor erfolgte 1968 auf Antrag der beiden Professoren Maurer und Reinle. Die Hauptbegründung lag darin, dass die Studierendenzahlen in den vorangegangenen Jahren stetig angestiegen waren und dadurch die Belastung der Proseminare unerträglich geworden sei. Durchschnittlich betreuten die beiden Ordinarii in jedem Proseminar je 120 Studierende, was den Ruf nach Entlastung durchaus nachvollziehbar macht. Der Antrag wird ausserdem damit begründet, dass die Fokussierung auf die Lehrtätigkeit an der Universität den Vorgeschlagenen von der «Zersplitterung seiner Kräfte» entlaste. In der Sitzung vom 2. Mai 1968 stimmte der Regierungsrat dem Antrag zu. Das Lehrdeputat für Zürcher wurde auf vier bis fünf Wochenstunden Vorlesungen und Übungen festgelegt.[11] Bereits seit dem fatalen Wintersemester 1965/66 hatte Richard Zürcher regelmässig Lehrveranstaltungen im Umfang von vier bis fünf Wochenstunden übernommen (während es zuvor in der Regel 3, höchstens 4 Stunden gewesen waren), was aus den Vorlesungsverzeichnissen jener Jahre hervorgeht. Die Ernennung zum Assistenzprofessor institutionalisierte insofern also einen bereits etablierten Zustand. Ab dem Wintersemester 1968/69 lehrte Zürcher nun offiziell als Assistenzprofessor. Im Grundstudium wurde ab diesem Zeitpunkt eine klare Unterteilung vorgenommen: Die Hauptfachstudierenden besuchten Proseminare bei Maurer und Reinle, während Zürcher die Einführungsveranstaltungen für die Nebenfachstudierenden übertragen wurde.[12] Ab 1971 wurde der Lehrkörper um zwei neue Privatdozenten erweitert. Johannes Dobai (1929–1985), 1956 aus Ungarn emigriert, wurde von Emil Maurer gefördert, was ihm, nachdem er 1959 in Wien über Gustav Klimt promoviert hatte, einen Neuanfang an der Universität Zürich ermöglichte. Dobai lehrte bis zu seinem krankheitsbedingten Rücktritt 1983 regelmässig zu Themen der Malerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und erweiterte damit das Lehrangebot substantiell. Mit seiner freien Vortragsweise und unkonventionellen Art wusste er die Studierenden zu begeistern, wie in den Nachrufen auf den mit nur 66 Jahren Verstorbenen zu lesen ist.[13] Eine bedeutende Erweiterung des Studienangebots verdankte sich zudem Hans-Rudolf Sennhauser (* 1931), der seit dem Sommersemester 1968 regelmässige Lehraufträge zur Archäologie des Mittelalters übernahm. Mit der Ernennung zum Privatdozenten 1971 verstetigte sich dieses Angebot. Praxisnahe Übungen und Arbeitswochen, Vorlesungen und Seminare zum frühchristlichen und mittelalterlichen Sakralbau gehörten fortan zum regelmässigen Lehrangebot. 1980 wurde Sennhauser schliesslich zum ausserordentlichen Professor ernannt.[14] Ein grosses Anliegen von Reinle und Maurer war seit Jahren die Schaffung eines Lehrstuhls für moderne und zeitgenössische Kunst, was schon im Antrag auf Ernennung von Hans-Rudolf Sennhauser zum Assistenzprofessor vom 19. Februar 1971 wörtlich betont wurde: «Es wäre äusserst fruchtbar, wenn für die Gebiete der frühmittelalterlichen Kunst einerseits, der modernen und modernsten Kunst anderseits je eine Assistenzprofessur geschaffen werden könnte.»[15] Es sollte noch über zehn Jahre vergehen, bis dieser zweite Wunsch verwirklicht werden konnte. Das Lehrangebot in der Kunstgeschichte der Gegenwart blieb jahrelang dürftig, obwohl die Nachfrage seitens der Studierenden bei Themen, die über das 19. Jahrhundert hinaus gingen, gross war. Während die aussereuropäische Kunst schon seit 1960 durch die Privatdozentin Elsy Leuzinger ihren festen Platz im Lehrangebot des Kunstgeschichtlichen Seminars eingenommen hatte, wurde die Kunst des 20. Jahrhunderts und insbesondere die zeitgenössische Kunst weiterhin kaum gelehrt. Dass Vorlesungen wie «Europäische Baukunst von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart» durch Richard Zürcher oder «Plastik nach 1945» durch den damaligen Direktor des Kunstmuseums Basel, Franz Meyer, erstmals 1969 angeboten wurden,[16] mag mit den Forderungen der progressiven Studentenbewegungen der Zeit zusammenhängen. Zwar lässt sich diese Korrelation nicht beweisen; es fällt jedoch auf, dass ein vergleichbares Lehrangebot bis dahin komplett gefehlt hatte. Punktuell wurde das Lehrangebot seit den frühen 1970er-Jahren immer wieder mit Gastdozierenden ergänzt, die zu Themen des 20. Jahrhunderts lehrten. Willy Rotzler, der spätere Mitbegründer des Vereins Kunsthalle Zürich und der Stiftung für konstruktive und konkrete Kunst, übernahm während mehrerer Semester Lehrveranstaltungen zum Surrealismus; Josef Adolf Schmoll genannt Eisenwerth, Professor an der Technischen Universität München, wirkte als Gastdozent zu Photographie-Themen. Durch die Veranstaltungen von Johannes Dobai wurde zudem seit 1971 eine thematische Kontinuität in diesem Bereich garantiert und damit die Verstetigung vorbereitet.
Rücktritte und Ausbau des Lehrkörpers prägten die frühen 1980er-Jahre. Mit der Schaffung eines neuen ordentlichen Lehrstuhls für moderne und zeitgenössische Kunst ging endlich der langgehegte Wunsch nach einer Institutionalisierung von Lehre und Forschung in der neuesten Kunst in Erfüllung. Auf das Wintersemester 1982/83 wurde der Reinle-Schüler Stanislaus von Moos (* 1940) auf den neu geschaffenen Lehrstuhl berufen.[17] Seinen Einstand in der Lehre gab von Moos mit einem Proseminar zu Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus und einem Seminar über Aspekte der Schweizer Architektur, 1930–1940.[18] Im gleichen Jahr wurde Helmut Brinker, der seit 1978 als Extraordinarius ad personam mit halber Lehrverpflichtung für die Kunstgeschichte Ostasiens verpflichtet war, zum Ordinarius befördert.[19] Schliesslich traten zum Ende des Wintersemesters 1981/82 sowohl Emil Maurer wie auch Richard Zürcher altershalber in den Ruhestand.[20] Als Nachfolger Maurers wurde auf das Sommersemester 1983 der Österreicher Rudolf Preimesberger (* 1936) zum Ordinarius für Kunstgeschichte der Neuzeit ernannt. Gleichzeitig wurde Franz Zelger (* 1941) als zusätzlicher Extraordinarius für bildende Kunst berufen.[21] Damit war der Lehrkörper innert weniger Jahre auf sechs Professoren angewachsen, die das gewünschte inhaltlich breit angelegte Spektrum der Kunstgeschichte in Lehre und Forschung abdeckten.
Der Mittelbau
Im Sommer 1971 reichten Maurer und Reinle beim Dekanat einen Antrag für eine wissenschaftliche Assistenzstelle ein, da ein Mittelbau bisher gefehlt hatte. Hilfsassistenzen waren zwar bereits vorhanden, dienten aber vor allem der Administration und Betreuung von Bibliothek, Diathek und Fotothek. Für die Stelle wurde auch gleich der passende Kandidat präsentiert: Werner Oechslin (* 1944), der nach seinem Studium in Zürich und Rom 1970 an der Universität Zürich promoviert worden war. Die Meriten Oechslins wurden im Antrag ausführlich präsentiert. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass im Antrag entschuldigend darauf hingewiesen wurde, dass der Antrag nicht früher erfolgt sei, weil zuvor kein geeigneter Kandidat aus «eigener Schule» zur Verfügung stand.[22] Man war offenbar bestrebt, den Mittelbau mit eigenen Leuten zu bestücken und die Stelle nicht öffentlich auszuschreiben, eine Praxis, die zu jener Zeit gang und gäbe war. Oechslin sollte die Stelle drei Jahre bis 1974 innehaben.[23] 1975 übernahm Beat Wyss (* 1947) die Assistentenstelle, nachdem er im selben Jahr bei Reinle seine Dissertation abgeschlossen hatte. Bis Ende der 1970er-Jahre blieb es bei dieser einen wissenschaftlichen Assistenz. Aus den Angaben zum wissenschaftlichen und administrativen Personal in den akademischen Berichten und im Vorlesungsverzeichnis der Universität Zürich wird häufig nicht klar, für welche Tätigkeiten die einzelnen Personen zuständig waren. Sowohl die Fotothek wie die Diathek werden von sogenannten Assistenten betreut, wobei diese wohl als administrative Assistenzen zu deuten sind. In der Bibliothek war jeweils eine Bibliothekarin tätig, die ebenfalls von einem Assistenten oder einer Assistentin unterstützt wurde. Erwerbungsfragen der Bibliothek wurden kurzzeitig auch von Johannes Dobai betreut.[24] Der Ausbau des wissenschaftlichen Mittelbaus erfolgte ab 1982 zeitgleich mit der Schaffung eines zusätzlichen Lehrstuhls für moderne und zeitgenössische Kunst. Die zweite Assistenzstelle wurde von Pietro Maggi (* 1948) übernommen, der kurz zuvor bei Reinle seine Lizentiatsarbeit zur romanischen Portalplastik abgeschlossen hatte. Der weitere Ausbau des Mittelbaus wurde offenbar zügig vorangetrieben, so dass im Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1985 bereits vier Assistierende aufgeführt werden.[25] Die Mitwirkung in der Lehre oder gar die Durchführung eigener Lehrveranstaltungen waren anfänglich für den Mittelbau nicht üblich. Erstmals führte Reinle gemäss Vorlesungsverzeichnis im Sommersemester 1973 sein Proseminar «Einführung in die Architekturgeschichte» zusammen mit seinem (namentlich im Verzeichnis nicht genannten) Assistenten durch.[26] Die Formulierung «A. Reinle mit Assistent» blieb im Vorlesungsverzeichnis bis zur Emeritierung Reinles bestehen. Einzig Beat Wyss hatte als Assistent ab 1977 wohl auf eigenen Wunsch begonnen, eigene kunstphilosophische und -theoretische Übungen anzubieten – Veranstaltungen, die gemäss Wyss besonders viel Zulauf seitens der Studierenden erhielten.[27] Erst mit der personellen Erweiterung ab dem Wintersemester 1982/83 wurde es möglich, ein spezifisches Einführungstutorat für Erstsemestrige durchzuführen, und zwar explizit unter Mitwirkung von Dozenten, Assistenten und Hilfskräften der Zentralbibliothek und der ETH-Bibliothek.[28]
Die Studierenden
Wer zwischen 1965 und 1985 am Kunstgeschichtlichen Seminar studierte, wurde durch die symbiotische Zusammenarbeit und inhaltliche Dichotomie der Professoren Reinle und Maurer geprägt. Durch ihre Schule, die sie nie als «Schule» verstanden wissen wollten,[29] gingen manche Kunsthistoriker und manche Kunsthistorikerinnen, die später eine beachtliche Karriere vorweisen konnten. Beat Wyss, der Assistent, erinnert sich aus seiner Studienzeit vor allem daran, dass er sich mit dem «Gemütsmenschen» Adolf Reinle gut verstand, während er sich als Pazifist und Dienstverweigerer gegenüber dem Offizier Emil Maurer eher befangen fühlte.[30] Im Juni 1968 erfassten die Studentenunruhen mit dem Globuskrawall auch Zürich; verschiedene studentische Gruppierungen engagierten sich für eine Demokratisierung des Hochschulwesens und studentische Mitbestimmung. Dass in diesem Rahmen Studierende des Kunstgeschichtlichen Seminars mit konkreten Forderungen nach besseren Betreuungsverhältnissen, mehr Räumlichkeiten und modernen Lehrformen an die Seminarleitung herangetreten wären, kann nur vermutet werden. Die ungünstigen Betreuungsverhältnisse waren ja bereits durch die Professoren selbst bemängelt worden und hatten in der Festanstellung Zürchers gemündet. Ganz unbeleckt von den zeitgenössischen Studentenbewegungen und deren radikalen Ideen waren wohl auch die so oft als apolitisch verschrienen Kunstgeschichtestudierenden nicht. Beat Wyss erinnert sich, dass er in dieser Zeit an einem Marxismus-Lektürekurs teilnahm: «Die Parallelgesellschaft der Studentenbewegung bot die überwachende Geborgenheit einer Sekte. Ein bis zwei Mal die Woche traf man sich zur Lektüre von Das Kapital. Nie hätte ich es gewagt, einer Sitzung einfach fernzubleiben. Der Gruppendruck heizte sich auf unter dem Tarnnetz des Konspirativen. Viel einfacher war es, die Proseminare zu schwänzen, da der offizielle Lehrbetrieb anonym auf den Anfänger wirkte. Was interessierte die christliche Ikonographie, die Kathedralen der Île-de-France, die italienische Skulptur der Frührenaissance einen Initianden, der eben in die Marxschen Theorien des Mehrwerts eingeweiht wurde?»[31] Eine andere Wirklichkeit drückt sich in den Erinnerungen Oskar Bätschmanns aus: um sein Studium zu finanzieren, musste er nebenher arbeiten. Zeit für die Teilnahme an Demonstrationen oder ein politisches Engagement blieb nicht.[32] Gar von einer Spaltung in zwei Gruppen von Kunstgeschichtsstudenten und -studentinnen berichtet Jacqueline Burckhardt, die 1979 bei Emil Maurer ihre Lizentiatsarbeit über den manieristischen Künstler Giulio Romano geschrieben hatte: «Mitte 70er gab es bei den Kunstgeschichtsstudenten eine Spaltung. Die eine linke Gruppe nannte sich Basisgruppe und reflektierte marxistische Theorie und interessierte sich sehr für das 19. und 20. Jahrhundert. Die anderen waren die apolitischen Braven, die sich mit historischer Kunst und denkmalpflegerischen Fragen beschäftigten. In der Basisgruppe gab es einige wenige die scheuten wie der Teufel das Weihwasser alles, was als Auftragskunst bezeichnet werden kann, womit natürlich der Grossteil der Kunstgeschichte auszuschliessen war. Wer sich wie ich für einen Hofkünstler wie Giulio Romano interessierte, galt bei ihnen als stockkonservativ.»[33] Bis Ende der 1960er-Jahre wurde am kunstgeschichtlichen Seminar primär eine Kunstgeschichte der Epochen, Gattungen und Stile gelehrt. Dass dabei seitens der Studierenden das Bedürfnis nach Neuerungen aufkam, ist zu erwarten. Eine Erweiterung des Themenspektrums ist ab 1969 erkennbar: im Wintersemester unterrichtete Richard Zürcher ein Seminar mit dem Titel Kunst und Gesellschaft. Ikonografie, Ikonologie und Aufgaben der Kunst tauchen nun verhalten, aber regelmässig als Themen im Vorlesungsverzeichnis auf.[34] In der Abschiedsvorlesung anlässlich seiner Emeritierung gedachte sogar Emil Maurer den revolutionären Jahren, denn ohne die 68er, so Maurer, hätte er nie «Marx gelesen und dabei ein Stück tiefen 19. Jahrhunderts kennengelernt».[35]
Das Seminargebäude Rämistrasse 73
Seit 1954 war das Kunstgeschichtliche Seminar zusammen mit dem Archäologischen Institut und dessen Sammlung im Gebäude der 1893–1895 erbauten ehemaligen Augenklinik an der Rämistrasse 73 untergebracht.[36] Beim Einzug der beiden Institute waren nur geringfügige bauliche Anpassungen vorgenommen worden. Das Gebäude war marode; insbesondere die Fassade bröckelte dermassen, dass im Lauf der Zeit immer mehr dekorative Bauelemente entfernt werden mussten, damit niemand von herabfallenden Gesteinsbrocken erschlagen würde. Der bereits beschlossene Abriss konnte 1973 dank der Intervention der Denkmalpflege unter Walter Drack verhindert werden. Im Frühling 1978 hiess der Regierungsrat einen Kredit von 13.6 Mio. Franken für die umfassende Sanierung des Gebäudes gut.[37] Gegen die vermeintliche Luxussanierung formierte sich Widerstand, der in ein Behördenreferendum mündete und das Anliegen im Februar 1979 vor das Zürcher Stimmvolk brachte. Im Vorfeld der Abstimmung wurde ein lebhafter Pro- und Kontra-Abstimmungskampf in der Presse ausgetragen. Die beiden betroffenen Seminare meldeten sich in einem durch die Professoren Reinle, Maurer und Brinker sowie den Archäologieprofessor Hans-Peter Isler gezeichneten nüchternen zweiteiligen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung zu Wort. Der Bau wurde darin als Bestandteil der Schanzenbebauung beschrieben und die Rämistrasse gleich zur «Ringstrasse Zürichs» erklärt. Betont wurde auch der Wandel in der Erforschung und Wahrnehmung der Architektur des 19. Jahrhunderts, «an der übrigens auch Dozenten und Doktoranden unserer Universität mitbeteiligt waren und sind», und dem daraus folgenden Umdenken in der denkmalpflegerischen Praxis. Im zweiten Teil des Artikels wurden die beiden Studienfächer in Zahlen und Aktivitäten vorgestellt und ihr Gegenwartsbezug und gesellschaftlicher Nutzen hervorgehoben. Nicht zuletzt wurden die beiden Bibliotheken als einzigartig für ihre Fachgebiete gelobt.[38] Auch wenn der Artikel in keiner Art und Weise Stellung auf den Abstimmungskampf bezog, diente er sicher dazu, die positive Wahrnehmung der Rämistrasse 73 und der darin untergebrachten Institute in der Öffentlichkeit zu verstärken. Die Befürworter der Vorlage behielten schliesslich die Oberhand, und der Kredit wurde am 18. Februar 1979 mit einer Zweidrittelmehrheit vom Zürcher Stimmvolk gutgeheissen.
Die vom Architekten Hans von Meyenburg durchgeführte Gesamtrenovation dauerte von 1980 bis 1984. Da das Gebäude komplett entkernt wurde, mussten die Archäologie und Kunstgeschichte vorübergehend in provisorische Räumlichkeiten im Biologietrakt des Hauptgebäudes der Universität an der Künstlergasse 16 umziehen. Im März 1984 bezog das Kunstgeschichtliche Seminar die neu renovierten Räume im zweiten Ober- sowie im neu hinzugefügten Dachgeschoss. Die Freude war gross, dass nun nicht nur jeder der «sechs Dozenten [Reinle, Preimesberger, Sennhauser, Brinker, Zelger, von Moos] ein eigenes Büro zur Verfügung» gestellt bekam,[39] sondern insgesamt für den Lehrbetrieb mehr Platz vorhanden war. Im Erdgeschoss befinden sich seither Seminarräume, die von der Archäologie und der Kunstgeschichte genutzt werden können, im zweiten Obergeschoss wurden die Diathek und die Bibliothek eingerichtet. Allerdings beklagten sich die Studierenden anfänglich über die kühle und sterile Atmosphäre und die leeren Wände und kritisierten die giftgrünen Bugholzstühle, mit denen die offene Cafeteria im ersten Obergeschoss möbliert worden war.
Reinle und Maurer – eine Ära geht zu Ende
«Anderthalb Dezennien hat Emil Maurer mit mir Jahr für Jahr im Vorsitz abwechselnd das Kunstgeschichtliche Seminar geleitet. Ich gestehe neidlos, dass er mit seinem diplomatischen Geschick und finanziellen Vorstellungsvermögen der erfolgreichere Chef von uns beiden war. Wenn es darum ging, mit der Erziehungsdirektion, mit dem Rektorat, mit dem Dekanat, in unserer Seminarkonferenz zu reden und zu handeln, wirksame Unterlagen zu erstellen, Statistiken, die für uns zeugen konnten, Gesuche abzufassen, Verträge zu komponieren, Pflichtenhefte auszuarbeiten, Forderungen mit nötigem Nachdruck zu stellen und Finanzquellen zu erschliessen. Der Ausbau unserer Seminarbibliothek, die in diesen Jahren zu einer der grössten Kunstbibliotheken in Zürich wurde, unsere gewaltig wachsende Diasammlung verdanken Emil Maurer entscheidende Impulse. Der wertvollen Sammlung alter Alinari-Photos gewährte er in seinem burckhardtischen Herzen einen besonderen Platz.»[40] Mit diesen Worten anlässlich der Verabschiedung seines Kollegen Maurer fasste Reinle die Zusammenarbeit zwischen den beiden Professuren anschaulich zusammen. Was er hier so freundschaftlich ausdrückte, lässt sich auch in den Jahresberichten der Universität ansatzweise ablesen. Maurer hatte sich offensichtlich unermüdlich um finanzielle Zuwendungen bemüht, um die Seminarausstattung zu verbessern. Wiederholt erhielt das Seminar Zuschüsse aus der Jubiläumsspende für die Universität Zürich, um die Fotosammlung auszubauen.[41] Auch der Bibliotheksbestand wuchs derart an, dass im Akademischen Bericht für das Jahr 1977 vermerkt wurde, die Baukommission habe «eine weitere Belastung der Bibliotheksräume durch Aufstellung zusätzlicher Bücher streng untersagt.»[42] Der zunehmende Platzbedarf der Bibliothek war nicht zuletzt eines der Argumente für die Sanierung des Seminargebäudes; während die Bibliothek im Jahr 1940 aus gerade mal zwei Tablaren mit 70 Büchern bestanden hatte, belief sich der Bestand im Jahr 1979 auf rund 30’000 Bände.[43] Dank der bevorstehenden Gebäudesanierung konnte die Bibliothek stetig weiterwachsen: 1981 erwirkte Maurer kurz vor seiner Emeritierung eine Finanzierung von 4’000 Franken zur Anschaffung von kunstgeschichtlichen Dissertationen aus den USA.[44] Bücherschenkungen wurden in den Jahresberichten regelmässig erwähnt. 1966 gelangten 83 Bücher aus dem Nachlass von Oscar Reinhardt in die Bibliothek, 1972 übergab der emeritierte Professor Peter Meyer der Seminarbibliothek eine nicht näher bezifferte Menge an Büchern, Fachzeitschriften und Ausstellungskatalogen, um nur zwei Beispiele zu nennen.[45] Während Maurer in den Jahresberichten als derjenige erscheint, der zusätzliche Finanzquellen anzapfte, trat Reinle als Vermittler und Botschafter auf. Seit 1969 übernahm Reinle mehrfach die Aufgabe, anlässlich der jährlich stattfindenden Herbsttagung des Zürcher Hochschulvereins jeweils eine kunsthistorische Führung zu einer Schweizer Sehenswürdigkeit anzubieten. Seine prägnanten Worte und sachkundigen Ausführungen wurden von den Mitgliedern des Vereins offenbar sehr geschätzt. Seinen letzten Auftritt hatte Reinle 1983 in der frisch renovierten Klosterkirche Rheinau, die er den Teilnehmenden «bau- und kunstgeschichtlich in brillanter Art» näherbrachte.[46] Nach der Emeritierung Maurers übernahm Reinle ein letztes Mal den Posten des Seminarvorstehers, von dem er 1982 durch Helmut Brinker abgelöst wurde, der das Amt zwei Jahre behielt, bevor Hans-Rudolf Sennhauser übernahm. Die Zeit des jährlichen Abwechselns war damit vorbei, das Kollegium bedeutend grösser geworden, Kontinuität wurde durch längere Amtsdauern gewährleistet. Eine neue Ära hatte begonnen.