Soziale Mobilität bezeichnet den Auf- bzw. Abstieg einer Person innerhalb eines sozioökonomischen Bezugsrahmens, also die Bewegung in eine andere soziale Position. Diese potenzielle Bewegungsfreiheit gilt – nebst der Emanzipation – heute als Merkmal für Fortschritt und Gleichstellung in einer Gesellschaft. Faktoren, die eine soziale Mobilität spezifisch im stalinistischen Russland begünstigten oder erschwerten, sind das Kernthema dieses Beitrags; dabei werden wir konkreten Gegebenheiten, wie geografischen Abwanderungen, ebenso auf den Grund gehen wie gesellschaftlichen Konstrukten. Relevant sind bei all dem auch die Lebensumstände früherer Generationen. Bildungsgrad und Chancen(un)gleichheit sind determinierende Faktoren, welche die Lebenswege einer Gesellschaft und ihrer Individuen prägen.
Soziale und räumliche Mobilität als wichtige Indikatoren
Je höher die soziale Mobilität einer Gesellschaft ist, desto durchlässiger sind deren Strukturen. Diese Durchlässigkeit hat einen direkten Einfluss auf das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gesellschaft oder auch einer Nation, was sich wiederum indirekt auf die Lebensqualität oder die Produktivität auswirkt. Die Vermutung liegt nahe, dass Menschen glücklicher sind und mehr Einsatz in ihrer Arbeit zeigen, wenn sie am Ende eine Verbesserung ihrer sozioökonomischen Situation sehen. Deshalb ist soziale Mobilität ein wichtiger Faktor für die Analyse eines Landes.((Vgl. Wilkinson und Pickett, The Spirit Level))
Ein wichtiger Faktor für die soziale Mobilität auf dem Land war die Kollektivierung der Landwirtschaft seit den späten 20er-Jahren. Sie führte dazu, dass die Bauern das Land wieder verloren, das ihnen im Zuge der Oktoberrevolution einige Jahre zuvor erst zugesprochen worden war. Vor der Revolution war das Leben – trotz Mangel an Besitz – von grösseren wirtschaftlichen Freiheiten und damit einhergehenden Aufstiegschancen geprägt gewesen als unter Stalin.
Neben der sozialen Mobilität ist die räumliche Mobilität ein weiterer wichtiger Faktor. Darunter versteht man zum einen die unmittelbare Mobilität, also die Fortbewegung mit Verkehrsmitteln. Zum anderen ist damit die Freiheit gemeint, seinen eigenen Lebensmittelpunkt zu wählen. Ist Letzteres nicht gegeben, kann von einem Mangel an Freiheit gesprochen werden.
Der Spielraum räumlicher Mobilität kann als Indikator für den Entwicklungsstand eines Staates genommen werden. Je höher die räumliche Mobilität, desto einfacher ist es für die Bevölkerung, sich innerhalb der Landesgrenzen zu bewegen. Seit jeher sind dabei Strassen und Schifffahrt die wichtigsten Faktoren, später auch die Eisenbahn sowie die Luftfahrt. Je besser ausgebaut und je zugänglicher diese Strukturen für die allgemeine Bevölkerung sind, desto fortgeschrittener ist eine Nation in der Regel.
Die Intelligenzia unter Stalin
Für eine tiefgründige Verwurzelung der sozialistischen Lehren waren die neuen Machthaber auf eine gebildete Bevölkerung angewiesen. So galt es nun vor allem, das immer noch weit verbreitete Analphabetentum zu bekämpfen und eine sozialistische Gesellschaft heranzuzüchten. Vor allem die Menschen auf dem Land sollten nun erstmals eine obligatorische allgemeine Schulbildung erhalten. Damit einhergehend entstand bald eine neue Bildungsschicht, eine sozialistische Intelligenzia, die ihren Ursprung vorwiegend in der Arbeiter- und Bauernklasse hatte.
Da die Bolschewiki keinen grossen Rückhalt in den hochschulischen Institutionen hatten, förderten sie anfangs die Aufnahme von Arbeiter- und Bauernkindern in die höheren Bildungseinrichtungen.((Vgl. Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S.48.)) Unter Stalin versiegte diese Unterstützung wieder. Der Hauptteil der Hochschulstudenten wurde nun aus den Sekundarstufen und nicht mehr auf der Grundlage von Parteiempfehlungen für Mitglieder benachteiligter Bevölkerungsschichten rekrutiert.
Eine Auflistung der sozialen Herkunft der Hochschulstudenten im Jahr 1938 zeigt,((Vgl. Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S.235.)) dass Bauern nun deutlich unterrepräsentiert waren. Ohne die parteiliche Unterstützung und mit der Wiedereinführung von Schulgebühren wurden traditionelle Faktoren wie die Stellung der Eltern wieder entscheidend. Trotzdem fanden die früheren Anstrengungen Niederschlag in den Statistiken. Im Jahr 1933 machten Arbeiter (55%) und Bauern (22%) einen Grossteil der parteizugehörigen Angestellten in der Administration aus.((Vgl. Fitzpatrick, Education and Social Mobility, S.241.)) Der Aufstieg von Parteimitgliedern suggeriert also, dass Systemloyalität – nebst Intelligenz – von grosser Bedeutung war.((Vgl. Solga, “Systemloyalität” als Bedingung sozialer Mobilität im Staatssozialismus.)) Auch im Wirtschaftssektor trieb die stalinistische Führung die Einsetzung von treu Ergebenen voran. Dazu bediente sie sich der parteiloyalen Wydwischenzy .((Figes, The Consolidation of the Stalinist Dictatorship, 2014.)) Die Wydwischenzy wurden gleich nach ihrem Abschluss – und zumeist ohne grundlegende Arbeitserfahrung – schnell die hierarchischen Betriebsstrukturen hinaufbefördert.
Die Modernisierung als Triebkraft der Mobilität
Die Modernisierung des Staates, die sich hauptsächlich auf die Industrialisierung und die damit eng verbundene Kollektivierung der Landwirtschaft stützte, bedeutete ein immer grösser werdendes Bedürfnis nach Arbeitskräften, vor allem für die arbeitsintensiven Sektoren wie die Kohlen- oder Bauindustrie. Das benötigte Personal fanden die Rekrutierer überwiegend unter der Bauernschaft in den Kolchosen. Mit grossen Versprechungen hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingungen wurden die Bauern in die Städte gelockt. Den Werbekampagnen folgten in den Jahren 1930-32 fast zehn Millionen Menschen – meistens junge Männer. Schlussendlich profitierten nicht wenige ehemalige Bauern vom Kräftehunger der Industrie. Der Weg in die Fabriken bedeutete einen sozialen Aufstieg aus der Bauernschaft und war besonders für die Jungen attraktiv. Zwischen 1929 und 1932 waren 70% der neuen Arbeiter unter 24 Jahre alt. Die Karrieremöglichkeiten waren für die Bauern in den Kolchosen begrenzt, denn ihnen wurden nur allzu oft parteinahe Wydwischenzy vorgezogen.((Vgl. Gorshkov, Peasants in Russia from Serfdom to Stalin, S.202; Vgl. Merl, Bauern unter Stalin, S.201.))
Den Kolchosen versprach man hingegen als Kompensation für die abgezogenen Arbeiter moderne Landwirtschaftstechnik oder Saatgut, ohne dass diese Versprechen aber konsequent eingelöst worden wären. Dieser Umstand war auch der mangelhaften Produktion geschuldet.((Vgl. Fitzpatrick, Education and Social Mobility in the Soviet Union, S.243.)) Der Kräftemangel in den Kolchosen konnte jedenfalls nur bedingt ausgeglichen werden. Zwar herrschte auf dem Land eine grosse Nachfrage nach Arbeit, dennoch waren nur wenige bereit, sich freiwillig in den Dienst der Kolchosen zu stellen. Dies hatte schliesslich zur Folge, dass die vormalig freie räumliche Mobilität eine Einschränkung erfuhr. Die Kolchosniki durften sich ohne Genehmigung nur noch in bestimmten, umliegenden Rayons bewegen, und die Abwanderung in die Industriezentren versiegte. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass in den Städten beispielsweise Frauen vermehrt in die Fabrikarbeit miteinbezogen wurden.((Vgl. Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.237f.))
Fazit
Unter den Zaren war sozialer Aufstieg nur einer dünnen Bevölkerungsschicht möglich. Der Aufstieg in den Adel blieb wenigen vorbehalten. Innerhalb des Adelsstandes war die soziale Mobilität grösser. Nach der Revolution und dann besonders unter Stalin änderte sich das System dahingehend, dass der soziale Aufstieg fast jedem gehor- und gelehrsamen Sowjetbürger offenstand, sofern er oder sie nicht aus der Familie eines (vermeintlichen) Konterrevolutionärs stammte. Durch die Bildungsoffensive wurde auch für die einfache Bevölkerung eine soziale Verbesserung möglich. Und auch die voranschreitende Industrialisierung und die räumliche Mobilität begünstigten die individuellen Entwicklungsperspektiven. Dabei gab es mehrere Wege zum Aufstieg in die sozialistische Elite – einer Elite, die sich in ihrem Gebaren und ihren Privilegien schon bald gar nicht mehr so sehr von früheren Eliten unterschied.((Vgl. Fitzpatrick, Education and Social Mobility in the Soviet Union, S.243.)) Entgegen der marxistischen Losung von der «Überwindung der Klassengesellschaft» wurde eine neue Nomenklatura herangezüchtet, die sich nur der Partei (und in der Praxis der Person Stalins) verschrieben hatte. Von einem Fortschritt für die Gesellschaft kann insofern gesprochen werden, als soziale Grenzen für die einfache Bevölkerung nicht mehr unüberwindbar waren.
Während die soziale Mobilität also tendenziell zunahm, erfuhr die räumliche Mobilität im Zuge der Kollektivierungsmassnahmen wieder eine Einschränkung. Dieser Umstand wird oft und zu Recht mit einem Rückschritt in Verbindung gebracht. Baberowski spricht in diesem Zusammenhang von einer erneuten Bindung an die Scholle,((Vgl. Baberowski, Wandel und Terror, S.109.)) die 1861 durch die Aufhebung der Leibeigenschaft unter Zar Alexander II. de jure abgeschafft worden war. In diesem Sinne kam es unter Stalin sogar zu einem gesellschaftlichen Rückschritt, den man als Leibeigenschaft 2.0 bezeichnen könnte.
von Alex Joho
Überarbeitung: Florian Wiedemann
Titelbild: russianphoto.ru
Literaturangaben:
Baberowski, Jörg: Wandel und Terror. Die Sowjetunion unter Stalin 1928-1941, Ein Literaturbericht, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43/1, München 1995, S.97-129.
Figes, Orlando: The Consolidation of the Stalinist Dictatorship. The New Stalinist Elites, in: <http://www.orlandofiges.info/section11_TheConsolidationoftheStalinistDictatorship/TheNewStalinistElites.php> [Aufgerufen am 19.10.2020].
Gorshkov, Boris B.: Peasants in Russia from Serfdom to Stalin. Accomodation, Survival, Resistance, in: The Bloomsbury History of Modern Russia Series, London 2018.
Lorenz, Richard. Sozialgeschichte der Sowjetunion 1 1917–1945. Frankfurt 1976.
Merl, Stephan: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930–1941, in: Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen, Reihe 1 (Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, 175). Berlin 1990.
Solga, Heike: “Systemloyalität” als Bedingung sozialer Mobilität im Staatssozialismus, am Beispiel der DDR. In: Berliner Journal für Soziologie. Wiesbaden 1994.
Wilkinson, Richard und Pickett, Kate: The Spirit Level. Why Greater Equality Makes Societies Stronger, London 2011.