Die Kollektivierung – Stalins Kampf gegen die Bauern

Neben der Industrialisierung zählt die Kollektivierung der Landwirtschaft zu den Kernthemen des Stalinismus. Die Kollektivierung hatte zum Ziel, sozialistische Organisationsformen auch auf dem Land durchzusetzen und die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. Diese Kollektivierung war aber keineswegs ein geregelter, von Beginn weg durchdachter Prozess. Weder die Parteiführung noch die regionalen Parteiorgane auf dem Land hatten eine klare Vorstellung, wie die Umwandlung der familiären, privaten Bauernwirtschaften in gemeinschaftlich organisierte Kommunen vonstatten gehen sollte. Die Kollektivierung der Landwirtschaft war deshalb ein Prozess, der vielerlei Probleme mit sich brachte. Die Konsequenzen für die ländliche Bevölkerung werden in diesem Beitrag beleuchtet.

Der Beginn der Kollektivierung

Stalin verstand es, die Parteiführung für seine Visionen zu gewinnen. So nutzte er die versorgungstechnischen Engpässe, um den Vorwurf der Getreidehortung, insbesondere durch die Kulaken, zu verbreiten und so eine Mehrheit von seiner Kollektivierungspolitik zu überzeugen. Diese Politik wurde erstmals während der Zeit des Kriegskommunismus erprobt, fand aber keine nachhaltig Umsetuzng und wurde mit der Einführung der liberaleren Neuen Ökonomischen Politik (NEP) vorläufig beendet. 1928 ordnete Stalin nun «ausserordentliche Massnahmen» an, um Getreide und Inventar der Bauern zu beschlagnahmen und so definitiv von der NEP abzukehren und gleichzeitig die benötigten Mittel für die forcierte Industrialisierung zu erlangen.1 Damit einher gingen erste Massnahmen zur Kollektivierung der Bauernwirtschaft. Die Entprivatisierung und Beschlagnahmung des bäuerlichen Inventars hatten zum Ziel, die Bauern «freiwillig» in die Kolchosen beziehungsweise in die Sowchosen zu treiben. 1929 wurde endgültig der Entschluss zur vollständigen Kollektivierung gefasst. Die Massnahmen verschärften sich nun drastisch. Neben der Zwangskollektivierung wurden auch Deportationen und Morde angeordnet, um den Widerstand der Bauern zu brechen. Die repressiven Massnahmen schränkten zudem die Mobilität der Landbevölkerung so drastisch ein, dass von einer neuen Leibeigenschaft gesprochen werden kann.((Vgl. Baberowski, Wandel und Terror, S.109.))
Das allgemeine Vorgehen zeichnete sich nicht durch eine klare Strategie aus. Vielmehr kann man von einem revolutionären Selbstlauf sprechen. Stalin griff zwar in gewisse Entscheidungen ein, überliess das Vorgehen aber hauptsächlich den lokalen Parteiorganen. So ist auch das drastische Ausmass der Deportationen und der nun überaus schnellen Kollektivierung und Entprivatisierung der Bauern zu erklären, denn die einzelnen Funktionäre befanden sich geradezu in einem Wettlauf entsprechender Massnahmen. Dieses Problem wurde durch die hohen, realitätsfernen Forderungen von oben noch verstärkt, da diese kaum durch regelkonformes Handeln erfüllt werden konnten. Übergriffe und Willkür von lokalen Parteifunktionären waren deshalb keine Seltenheit.2

1928 1929 1929 1930 1930 1930 1931 1932
Anteil der Haushalte in Kolchosen((Tabelle in: Hildermeier, Die Sowjetunion 1917-1991, S.389.)) 1,7% 3,9% 7,5% 18,1% 57,2% 21,8% 35,3% 56,1%

 

Verständlicherweise stiess diese Politik auf heftige Gegenwehr der Bauern, die wiederum repressiv bekämpft wurde. Der Widerstand erwies sich jedoch als unermüdlich: 1930 sah sich Stalin gezwungen, gewisse Kompromisse einzugehen. Im Rahmen des «Artel» gestand er den Bauern weiterhin eigene Wohnhäuser und Land zu, das sie für ihre eigenen Zwecke bestellen konnten.

Quelle: Stalin über die Kollektivierung 1930

Das wichtigste Kettenglied der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, ihre gegenwärtig vorherrschende Form, die man jetzt anpacken muß, ist das landwirtschaftliche Artel. Im landwirtschaftlichen Artel sind die wichtigsten Produktionsmittel, hauptsächlich die der Getreidewirtschaft, vergesellschaftet: Arbeit, Bodennutzung, Maschinen und sonstiges Inventar, Arbeitsvieh, Wirtschaftsgebäude. Nicht vergesellschaftet sind im Artel: das Hofland (kleinere Gemüse- und Obstgärten), Wohnhäuser, ein gewisser Teil des Milchviehs, Kleinvieh, Geflügel usw. Das Artel ist das wichtigste Kettenglied der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, weil es die zweckentsprechendste Form zur Lösung des Getreideproblems ist. […] Den Kollektivbauern reizen durch Vergesellschaftung der Wohnhäuser, des gesamten Milchviehs, des gesamten Kleinviehs, des Geflügels, während das Getreideproblem noch nicht gelöst, die Artelform der Kollektivwirtschaften noch nicht verankert ist – ist es nicht klar, daß eine solche “Politik” nur unseren geschworenen Feinden gelegen kommen und vorteilhaft sein kann?

Stalin, Josef: Vor Erfolgen von Schwindel befallen. Zu den Fragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, 2. März 1930.

Für die Bauern bedeutete dies zwar einen kleinen Erfolg nach turbulenten, bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der Unterschied zur Leibeigenschaft, von der man sich 1861 loslöste, war aber nicht mehr evident. Darüber hinaus lag die praktische Umsetzung auch dieser neuen Pläne in den Händen der lokalen Parteiorgane. Der Prozess der Umsetzung war demnach geprägt von Willkür, Uneinheitlichkeit und Opportunismus. Eine Garantie für die Umsetzung der Versprechen, die von der Parteiführung durch das Musterstatut von 1935 geleistet wurden, gab es nicht.

Die Schrecken des Sozialismus auf dem Land

Mit der Zwangskollektivierung ging die so genannte Kulakenverfolgung einher. Beinahe jeder konnte als «Kulake» diffamiert werden, und das bedeutete dann eine grosse Gefahr für Besitz und Leben. Die repressiven Massnahmen gegen die Kulaken dienten einerseits dazu, den Widerstandes auf dem Dorf zu brechen; Widerspenstige wurden deportiert oder erschossen. Andererseits benötigten die Kolchosen Inventar und Land, das auf diesem Weg zu gewinnen war. «Kulaken» wurden zudem als Arbeitskräfte im Gulag eingesetzt. Die Zentrale definierte sogar Quoten, wie viele Personen «abzuliefern» seien. Als Reaktion versuchten die Bauern teilweise selbst, ihr Inventar und Vieh loszuwerden, um dem Tod oder der Deportation zu entgehen. Aufstände und heftige Gegenwehr waren zwar auch ein Mittel, doch ging diese Methode mit einer grossen Gefahr einher. Die Liquidierung der «Kulaken» betraf ca. 2,1 Millionen Menschen, die deportiert, erschossen oder, im glücklichsten Fall, einfach enteignet wurden3

Übergeordnetes Ziel der Kollektivierung war es, die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und dabei gleichzeitig den Sozialismus auf dem Land zu verwurzeln. Der Erfolg der Kollektivierungskampagne kann in dieser Hinsicht als mässig betrachtet werden. Der Ertrag der Kolchosen war wesentlich tiefer als in der Theorie angenommen, denn die versprochenen Traktoren blieben oft aus und das Vieh für die Bestellung des Landes war kaum mehr vorhanden. Ebenfalls widmete sich der Bauer viel lieber und motivierter der Bestellung seines eigenen Landes, das er im Rahmen des Artels zugeschrieben bekam. Die Etablierung des Sozialismus durch eine vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft wurde folglich ebenfalls nicht erreicht. Bis 1936 waren zwar beinahe alle bäuerlichen Kleinbetriebe ausgemerzt, doch hatten Kolchosenmitglieder weiterhin eigenes Land und Besitz.4 Die Kollektivierung der Landwirtschaft muss aber auch in einer Beziehung zur Industrialisierung betrachtet werden, denn schliesslich diente sie einerseits der Ernährungssicherheit der Industriearbeiter, andererseits der Beschaffung dringend benötigter Devisen durch Getreideexporte. Hier ist wohl der einzig wirklich erfolgreiche Punkt der Kollektivierung auszumachen. Doch dieser Erfolg forderte grosse Tribute. Neben den Deportationen und direkten Todesopfern kam es in den 30er-Jahren in einigen Gebieten der Sowjetunion zu schweren Hungersnöten.

Diese Hungersnöte resultierten aus der weiterhin schwachen Getreideproduktion der Kollektivwirtschaften. Dazu kamen hohe Quoten, die eine Folge von überrissenen Versprechungen gegenüber Stalin gemacht wurden. Diese setzte zudem die Requierierungen gezielt ein, um vermeintlich aufständische Regionen zu bestrafen. Getreide wurde also weiterhin beschlagnahmt und der Hungertod auf dem Land hingenommen. Die Zahlen zu den Opfern der Kollektivierung schwanken sehr stark. Wenn man verschiedene Schätzungen der Forscher betrachtet, lässt sich die Zahl zwischen 7 und 14 Millionen Opfern benennen. Die Forscher weichen in ihren Schätzungen aber stark voneinander ab, auch weil betreffende Archivmaterialien lange gesperrt blieben.((Vgl. Merl, Kollektivierung, S.126.))
Die künstlich herbeigeführte Hungersnot, löste nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine kontroverse Genozid-Debatte aus, die auch geschichtspolitisch instrumentalisiert wird. In der Ukraine wird diese Periode als Holodomor bezeichnet. Die ethnische Vernichtungsabsicht fand vor allem unter ukrainischen und amerikanischen Historikern Zustimmung, während andere Forscher Stalins Intentionen in einen gesamtsowjetischen Zusammenhang stellen und die Genozid-Konzeption kritisch betrachten.((Vgl. Kindler, Hungersnot, 2018.))

Fazit

Die Kollektivierung der Landwirtschaft ging mit der forcierten Industrialisierung Hand in Hand. Den Bolschewiki lag nicht nur daran, kapitalistische Organisationsformen der Landwirtschaft und die Kulaken als Klassenfeinde auszumerzen, sondern auch die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und damit neue Formen der industriellen Produktion zu ermöglichen. Städte und Industrie mussten mit Agrarprodukten versorgt werden; gleichzeitig galt es, durch Getreideexport Kapital zu akkumulieren. Inwiefern die Organisationsform der kollektiven Landwirtschaft die zielorientierteste und ökonomisch beste Lösung war, ist eine Frage, die in der damaligen Debatte wie auch heute umstritten ist. Es ist zu erwähnen, dass die NEP nur eine langsame Entwicklung der Wirtschaft mit sich brachte und die Kapitalfrage auf dem Land nicht löste, was auch die Entwicklung der Industrie negativ beeinflusste. Für eine schnelle ökonomische Entwicklung und die Sicherstellung der agrarischen Versorgung schien vor diesem Hintergrund die Kollektivierung der Landwirtschaft zweckmässig. Ihre Umsetzung erfolgte aber teilweise unkontrolliert, und die Parteifunktionäre und lokalen Eliten versuchten sich, begünstigt durch Stalins Vorgaben, bei ihren Plänen stets zu übertreffen, was zu utopischen und völlig realitätsfernen Programmen führte – und letztendlich vielen Menschen Leid und Tod brachte.

Literaturtipp:
Applebaum, Anne: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, München 2019.

von Rouven Felix

Überabeitung: Florian Wiedemann
Titelbild: russianphoto.ru


Literaturangaben:

Baberowski, Jörg: Wandel und Terror. Die Sowjetunion unter Stalin 1928-1941, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 43/1, München 1995, S.97-129.

Hildermeier, Manfred: Die Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Oldenburg 2016.

Kindler, Robert: Hungersnot in der Sowjetunion 1932/33, in: Dekoder, 22.11.2018. < https://www.dekoder.org/de/gnose/hungersnot-holodomor-sowjetunion-kollektivierung#sub8> [Stand: 24.12.2021].

Merl, Stephan: Kollektivierung und Bauernvernichtung. In: Die Umwertung der sowjetischen Geschichte. Geschichte und Gesellschaft 14, Göttingen 1991, S.103-132.

Merl, Stephan: Stalins Irrweg der Kollektivierung. Destruktive Kräfte und Lähmung der Initiative, in: Osteuropa 8-10, S.55-80.

Stalin, Josef: Vor Erfolgen von Schwindel befallen. Zu den Fragen der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, 2. März 1930, in: 100(0) Schlüsseldokumente zur russischen und sowjetischen Geschichte <https://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0007_erf&object=translation&l=de> [Stand: 10.09.2021].


  1. Vgl. Merl, Stalins Irrweg, S.63. []
  2. Vgl. Hildermeier, Die Sowjetunion 1917-1991, S.34. []
  3. Vgl. Hildermeier, Die Sowjetunion 1917-1991, S.35; Vgl. Merl, Stalins Irrweg, S.76. []
  4. Vgl. Merl, Stalins Irrweg, S.73. []