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Industrialisierung – Stalins Umbau des Agrarstaates

Die Bolschewiki übernahmen 1917 einen Agrarstaat, dessen Bevölkerung zu rund 85% auf dem Land lebte und in der Landwirtschaft tätig war. Der Industrialisierung des ehemaligen Zarenreiches massen sie eine zentrale Bedeutung bei. In ihr sahen sie die einzige Möglichkeit, sich in einem kapitalistischen internationalen Umfeld behaupten zu können.
Die russische Industrie lag zwar bezüglich Produktivität und technischer Innovation weit hinter der westeuropäischen zurück, entwickelte sich aber seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in grossen Schritten. Ausländische Investitionen und enorme Getreideexporte begünstigten die Kapitalbeschaffung und damit den industriellen Aufschwung, der sich vorwiegend auf die Schwerindustrie konzentrierte. Verglichen mit dem übrigen Europa war das Russische Reich 1913 nach wie vor auf einem mittleren Entwicklungsstand, konnte aber bereits grosse Erfolge erzielen. Der Erste Weltkrieg unterbrach diese Entwicklung jäh, und erst ein knappes Jahrzehnt nach der Machtübernahme der Bolschewiki befand sich das Wachstum wieder auf dem Vorkriegsniveau. Unter Stalin erfuhr die industrielle Entwicklung einen gewaltigen Schub und erfolgte gleichzeitig mit der Kollektivierung der Landwirtschaft. Grosse Entbehrungen und Opfer in der Bevölkerung wurden dabei in Kauf genommen.

Der erste Fünfjahresplan

Noch während der liberaleren Wirtschaftsphase der NEP wurden die zentrale Planung der Industrie und der ihr zugrundeliegende Fünfjahresplan ausgearbeitet. Die angestrebte Planwirtschaft sollte damit auch das Ende der NEP bedeuten. Eine Parteikonferenz verabschiedete den ersten Fünfjahresplan (1928-1933) im April 1929, wobei dieser Plan mit dem ursprünglichen, gemässigteren Wachstumsplan nicht mehr viel zu tun hatte. Den entscheidenden Unterschied erklärt Kirstein: «… Planung [bedeutete] ausdrücklich nicht ‘Vorhersage auf der Basis vorhandener statistischer Erkenntnis über die künftige Entwicklung der Wirtschaft’, sondern Planung war, losgelöst von den Beschränkungen des Marktes, Zielsetzung in die Richtung einer sozialistischen Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft.»((Kirstein, Die Bedeutung von Durchführungsentscheidungen, S. 14.))
Der Fünfjahresplan war also nicht mehr nur auf die Steigerung der Wirtschaftsleistung ausgelegt, sondern verfolgte auch das Ziel einer Transformation der Sozialstruktur. Da sich der Sozialismus überwiegend auf ein Proletariat stützte, musste sich ein solches in der Sowjetunion erst noch richtig entfalten und gleichzeitig der Zentrale unterworfen werden. Ebenso sollten nun konsequent alle Überbleibsel der kapitalistischen Ordnung, die während der NEP noch in gewissen Zügen Bestand hatte, beseitig werden. Dazu zählte auch das Geldsystem, dessen Substitution durch Arbeitseinheiten angeregt wurde.((Vgl. Haumann, Geschichte und Gesellschaftssystem der Sowjetunion, S.52.))
Mit der administrativen Planung wurde GOSPLAN betraut. GOSPLAN entstand 1921 als Suborganisation der GOELRO, die für die Neustrukturierung der Volkswirtschaft und die Elektrifizierung der Sowjetunion zuständig war. Deren Tätigkeit erachtete Lenin als elementar für den Sozialismus und propagierte einst: «Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.»1 Der technischen Modernisierung des Staates wurde demnach der höchste Wert beigemessen. Nach der Herrschaftsstabilisierung der Bolschewiki konnte nun also mit dem Umbau der Wirtschaft begonnen werden.
Trotz der allgemeinen Zustimmung für eine zentralisierte Wirtschaft herrschte innerhalb der bolschewistischen Elite Uneinigkeit über die Umsetzung. Während die als Genetiker bezeichneten Wissenschaftsexperten den ersten Fünfjahresplan als utopisch erachteten und einen langsamen Übergang aus der NEP propagierten, setzten sich die «Partei-Teleologen» für den schnellen Umbruch ein. Ganz im Sinne von Marx erachteten die Letztgenannten die sozialistische Planwirtschaft als vorbestimmt und wollten keine Zeit mehr verlieren.((Vgl. Hildermeier, Sowjetunion 1917-1991, S.32.))

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Propagandaplakat zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1932; russianphoto.ru.

Die Schrecken der forcierten Industrialisierung

Für die nachholende Industrialisierung der Sowjetunion benötigten Stalin und sein Planungskomitee Devisen, die sie grösstenteils mit dem Export von Getreide einnahmen. Stalin rechnete damit, dass die UdSSR, ähnlich wie das russische Zarenreich bereits zuvor, wieder zu einem zentralen Spieler auf dem globalen Getreidemarkt werden würde. Vor diesem Hintergrund wurden Exportquoten festgelegt, die angesichts der tiefen Produktionsleistungen unrealistisch hoch waren. Die geplanten Einnahmen konnten trotz Requirierungszügen und Exportsteigerung (von 1,3 Mio. Tonnen 1929 auf 4,8 Mio. Tonnen 1930) nicht generiert werden, auch weil sich gleichzeitig der weltweite Getreidepreis im Fall befand.((Vgl. Luks, Geschichte Russlands und der Sowjetunion, S. 266.)) Die Konsequenz der Exportpolitik war, dass sich der Lebensstandard und die Versorgungslage der russischen Bevölkerung dramatisch verschlechterte. Besonders in der Ukraine und Kasachstan führte dieses Vorgehen, das mit der Kollektivierungspolitik und der Rekrutierung von Arbeitern in den Kolchosen einherging, zu Hungersnöten mit vielen Todesopfern.((Vgl. Luks, Geschichte Russlands und der Sowjetunion, S. 267.)) Bei all dem wurde die Industrialisierung zusätzlich mit «günstigen» Zwangsarbeitern vorangepeitscht. Besonders in den unwirtlichen Gegenden Sibiriens wurden häufig politische Häftlinge eingesetzt, die unter widrigsten Bedingungen Pionierarbeit leisteten.

Von Beginn an lagen die geplanten Produktionsquoten und die Entwicklung der Industrie, die sich vorwiegend auf die sehr arbeitsintensive Schwerindustrie konzentrierte, hinter den Zielen zurück. Dies war auch der Tatsache geschuldet, dass der Startpunkt rückwirkend auf Oktober 1928 festgelegt wurde. Mangel an Rohstoffen und Fachwissen taten ihr Übriges. Hildermeier meint dazu: «Zweifellos schuf Stalins neuer Kurs in kurzer Zeit wichtige Grundlagen für die Industrialisierung der Sowjetunion, aber der Preis von Hast und Zwang war hoch.»((Hildermeier, Sowjetunion 1917-1991, S,33.))
Um dem Arbeitermangel entgegenzutreten und die Produktionsleistung zu steigern, führte die Regierung die ununterbrochene Arbeitswoche ein, um so einen Produktionsstillstand zu verhindern. Auf fünf Arbeitstage folgte jeweils ein (nach Belegschaftsgruppen gestaffelter) Ruhetag. Dies vergrösserte den Widerstand der Arbeiterschaft, die bereits über die mangelhafte Konsumgüterversorgung murrte.((Vgl. Loren, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.222f.)) Die Partei schenkte diesem Umstand wenig Beachtung. Zudem führte der von oben ausgeübte Druck zu einem regelrechten Überbietungskampf um die höchsten Zuwachsraten. Die Statistiken wurden dabei häufig an die Pläne angepasst, was zu noch unrealistischeren Zielvorgaben führte.((Vgl. Kirstein, Die Bedeutung von Durchführungsentscheidungen, S.14.)) Stalin beförderte diese verzerrten Wahrnehmung zusätzlich, als er 1932 kurzerhand erklärte, dass der erste Fünfjahresplan schon nach vier Jahren erfüllt worden sei – und gleichzeitig den zweiten verkündete.

Quelle: Stalins Bericht über die Ergebnisse des ersten Fünfjahrplans von Januar 1933

Gehen wir nun zur Frage des Fünfjahrplans selbst über.
Was ist der Fünfjahrplan?
Worin bestand die grundlegende Aufgabe des Fünfjahrplans?
Die grundlegende Aufgabe des Fünfjahrplans bestand darin, unser Land mit seiner rückständigen, mitunter mittelalterlichen Technik auf die Bahnen der neuen, der modernen Technik überzuleiten.
Die grundlegende Aufgabe des Fünfjahrplans bestand darin, die UdSSR aus einem Agrarland, einem machtlosen, von den Launen der kapitalistischen Länder abhängigen Land in ein Industrieland, in ein mächtiges, völlig selbständiges und von den Launen des internationalen Kapitalismus unabhängiges Land zu verwandeln.
Die grundlegende Aufgabe des Fünfjahrplans bestand darin, durch Verwandlung der UdSSR in ein Industrieland die kapitalistischen Elemente restlos zu verdrängen, die Front der sozialistischen Wirtschaftsformen zu erweitern und die ökonomische Basis für die Aufhebung der Klassen in der UdSSR, für die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft zu schaffen.
Die grundlegende Aufgabe des Fünfjahrplans bestand darin, in unserem Lande eine Industrie zu schaffen, die imstande sein würde, nicht allein die ganze Industrie, sondern auch das Verkehrswesen und die Landwirtschaft auf der Grundlage des Sozialismus neu auszurüsten und zu reorganisieren.
Die grundlegende Aufgabe des Fünfjahrplans bestand darin, die kleine und zersplitterte Landwirtschaft auf die Bahnen des kollektiven Grossbetriebs überzuleiten, dadurch die ökonomische Basis des Sozialismus im Dorfe sicherzustellen und auf diese Weise die Möglichkeit der Wiederherstellung des Kapitalismus in der UdSSR zu beseitigen.
Schliesslich bestand die Aufgabe des Fünfjahrplans darin, im Lande alle notwendigen technischen und ökonomischen Voraussetzungen zu schaffen, um die Verteidigungskraft des Landes maximal zu heben und so die Organisierung der entschiedenen Abwehr aller und jeglicher Versuche einer militärischen Intervention von aussen, aller und jeglicher Versuche eines militärischen Überfalls von aussen zu ermöglichen.
[…]
Die Verwirklichung eines solchen grandiosen Plans kann jedoch nicht aufs Geratewohl in Angriff genommen werden. Um einen solchen Plan zu verwirklichen, musste man vor allem das Hauptkettenglied des Plans finden, denn erst als das Hauptkettenglied gefunden und erfasst worden war, konnten auch alle übrigen Kettenglieder des Plans nachgezogen werden.
Worin bestand das Hauptkettenglied des Fünfjahrplans?
Das Hauptkettenglied des Fünfjahrplans bestand in der Schwerindustrie mit ihrem Herzstück, dem Maschinenbau. Denn nur die Schwerindustrie ist imstande, sowohl die gesamte Industrie als auch das Verkehrswesen und die Landwirtschaft zu rekonstruieren und auf die Beine zu stellen.
Die Verwirklichung des Fünfjahrplans musste denn auch mit der Schwerindustrie begonnen werden.

– Stalin, Josef: Die Ergebnisse des ersten Fünfjahrplans, S.145-192.

Die sowjetische Industrialisierung als Erfolgsgeschichte?

Stalin versuchte, die forcierte Industrialisierung und ihre Entbehrungen mit dem Verweis auf eine feindlich gesinnte Umwelt zu legitimieren. Dem ist entgegenzuhalen, dass die Sowjetunion am Ende der 1920er-Jahre stabilisierte Beziehungen zu vielen Staaten Westeuropas unterhielt. Die internationale Intervention während des Russischen Bürgerkriegs und die folgende internationale Isolation Sowjetrusslands gehörten längst der Vergangenheit an, und der Aussenhandelsumsatz war 1929 dreimal so gross wie 1924.((Vgl. Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.217.)) Vor allem der Sieg im Zweiten Weltkrieg verlieh dann aber dem Industrialisierungsprozess eine nachträgliche Legitimationsgrundlage, die auch in der Forschung weitgehend Anerkennung findet.((Vgl. Haumann, Geschichte und Gesellschaftssystem der Sowjetunion, S.43f.))
Obwohl die Vorgaben des ersten Fünfjahresplans vorwiegend auf dem Papier erfüllt wurden und die Produktionsqualität tief blieb, war die ganze Kampagne nicht erfolglos. Tatsächlich gelang es innert kurzer Zeit, einen modernen industriellen Produktionsapparat mit gigantischen Industriekomplexen zu errichten, der sich bald schon mit jenen in den kapitalistischen Ländern messen konnte. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg überstieg der Produktionsumfang in der Sowjetunion jenen in den anderen Ländern Europas.((Vgl. Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.234f.)) Die industrielle Produktion verdrängte schliesslich die agrarische als führenden Produktionszweig. Maschinenbau und Rohstoffverarbeitung überwogen deutlich und konnten die innere Nachfrage vorläufig decken. Doch diese kostenintensive, irrationale und ressourcenverschwenderische Entwicklung ging stark zu Lasten der Leichtindustrie und führte zu einer mangelhaften Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern.((Vgl. Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.226f.))

Fazit

Den Bolschewiki verfolgten mit der zentralisierten Planwirtschaft das Ziel, jegliche kapitalistische Organisation zu liquidieren, eine neue Gesellschaft zu bilden und den industriellen und technologischen Rückstand gegenüber den westeuropäischen Staaten aufzuholen. Inwiefern diese Organisationsform aus ökonomischer Sicht die beste Lösung war, ist eine Frage, die auch heute noch umstritten ist. Es ist zu erwähnen, dass die NEP nur eine langsame Entwicklung der Wirtschaft mit sich brachte, die Kapitalfrage auf dem Land nicht löste und damit auch die Entwicklung der Industrie negativ beeinflusste. Als alternativlos darf die stalinistische Industrialisierung jedoch nicht gelten, da schon in der damaligen Debatte andere wirtschaftliche Organisationsformen zur Diskussion standen.
Ökonomisch sind das schnelle Tempo und die drastischen Massnahmen zur Durchführung des ersten Fünfjahresplans kaum zu rechtfertigen. Das quotenbasierte Vorgehen mutet oftmals irrational, unkontrolliert und wenig nachhaltig an.
Trotz all diesen Unzulänglichkeiten kann die forcierte Industrialisierung in manchen Aspekten aber durchaus als Erfolg gewertet werden – ein Erfolg freilich, dessen ungeheure Kosten letzten Endes die Bevölkerung der Sowjetunion trug. Diese bezahlte die ökonomische Entwicklung und den Quotenwahn der Partei mit Entbehrung, Zwang und nicht selten auch mit dem Tod. Die Mächtigen verfügten im Stalinismus rücksichtslos über die Arbeiter, um die Entwicklung in einem gewaltigen Kraftakt voranzutreiben. In einem demokratischen System wäre eine solche brachiale Transformation undenkbar.

Literaturtipp:
Scott, John: Jenseits des Urals. Die Kraftquelle der Sowjetunion, Stockholm 1944.
Hier online verfügbar

von Johannes Leu

Überarbeitung: Florian Wiedemann
Titelbild: Stalinsche metallurgische Fabrik in Donezk, 1927; russianhoto.ru


Literaturangaben:
Haumann, Heiko: Geschichte und Gesellschaftssystem der Sowjetunion. Eine Einführung, Köln 1977.

Haumann, Heiko: Glossar. Grundlinien und Grundbegriffe der Geschichte Russlands, 2. Erweiterte Fassung, Basel 2002.

Hildermeier, Manfred: Die Sowjetunion 1917-1991, Oldenburg 2016.

Kirstein, Tatjana: Die Bedeutung von Durchführungsentscheidungen in dem zentralistisch verfassten Entscheidungssystem der Sowjetunion; eine Analyse des stalinistischen Entscheidungssystems am Beispiel des Aufbaus von Magnitogorsk (1928-1932), Wiesbaden 1984.

Luks, Leonid: Geschichte Russlands und der Sowjetunion; von Lenin bis Jelzin, Regensburg 2000.

Lorenz, Richard: Sozialgeschichte der Sowjetunion 1, 1917-1945. Frankfurt am Main 1976.

Stalin, Josef: Die Ergebnisse des ersten Fünfjahrplans. In: Stalin Werke Band 13, Berlin 1955, S.145-192.

Onlineressourcen:
Neue Ökonomische Politik — Theoretisches Material. Geschichte, 11. Schulstufe., <https://www.yaclass.at/p/geschichte/11-schulstufe/die-zwischenkriegszeit-17827/russland-18639/re-d7235011-30b6-4b7f-9353-2ee68573015e> [Stand: 19.10.2020].

Story of cities, The Guardian <https://www.theguardian.com/cities/2016/apr/12/story-of-cities-20-the-secret-history-of-magnitogorsk-russias-steel-city> [Stand: 19.10.2020].


  1. Vgl. Haumann, Glossar, S.31f. []