Emanzipation à la Stalin – Vorwärts zum Rückschritt

In Russland erkämpften sich die Frauen 1917 grundlegende Gleichberechtigung. Tatsächlich brachten überwiegend sie die Februarrevolution von 1917 durch ihren Protest am 23. Februar (nach neuer Zeitrechnung am 8. März, dem Weltfrauentag) ins Rollen. Die Provisorische Regierung versuchte sich anfänglich noch den Frauenrechten zu verwehren, doch der Druck war zu gross. So wurde ihnen schliesslich noch vor der Oktoberrevolution das Wahlrecht eingestanden. Im jungen Sowjetrussland wurde die Gleichstellung bestätigt, da sie ohnehin Teil der sozialistischen Doktrin war. Doch es gab auch ideologisch-pragmatische Hintergründe. Die Frauen sollten so für die kommunistische Sache gewonnen und gleichzeitig in den Arbeitsalltag miteinbezogen werden. In der Folge kam es zu emanzipatorischen Gesetzen, die sich in der Realität nicht immer zu Gunsten des weiblichen Geschlechts auswirkten.

Situation nach der Oktoberrevolution

Nach der Oktoberrevolution erhielt Alexandra Kollontai den Posten der Volkskommissarin für Sozialfürsorge und wurde später Leiterin der Frauenabteilung im Zentralkomitee. Schon in ihrer vorangehenden Zeit als Revolutionärin lernte sie, sich in der von Männern dominierten Welt durchzusetzen. In der ersten sowjetischen Regierung setzte sie sich als Sprachrohr der Frauenbewegung erfolgreich für moderate Scheidungsgesetze, die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie die Vergesellschaftung der Hausarbeit ein (Zerschlagung des familiären Haushalts und die Abschaffung der privaten Kinderbetreuung).((Vgl. Fieseler, Alexandra Kollontai, Dekoder 2019.))
Dass die Emanzipation auch bizarre Formen annehmen konnte, zeigte besonders das im April 1918 aufgesetzte Ehegesetzbuch, das neben der Gleichstellung von Mann und Frau auch das erleichterte Vollziehen einer Scheidung statuierte.((Vgl. Reich, Oktoberrevolution und Recht, S.140.)) Diese «Erleichterung» ging so weit, dass Ehepartner*innen – dank einseitiger Auflösbarkeit bei der entsprechenden Behörde – ihre Ehe ohne das Wissen des Partners annullieren konnten.((Vgl. Kosterina, Genderpolitik in Russland, S.2.)) In Kombination mit der Stadtflucht lief dies häufig darauf hinaus, dass die Männer in den Städten nicht nur eine neue Existenzgrundlage fanden, sondern auch eine neue Familie gründeten und einen gänzlich neuen Lebensentwurf annahmen, ohne dass ihre auf dem Land gebliebenen (Ex-)Frauen dies notwendigerweise erfuhren.

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Sportparade auf dem Roten Platz 1932; russianphoto.ru.

Die Mehrfachbelastung der sowjetischen Frau

Das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern ist nur ein Beispiel dafür, wie stark der gesellschaftliche Status von Frauen in eine Abhängigkeit zu ideologischen und vor allem auch staatlichen Interessen gezogen wurde. Noch zu Beginn der Sowjetära wurde den Frauen eine verstärkte Eigenständigkeit zugesprochen, eine ausgebaute Infrastruktur (Bildungsstääten, Krippen, Kindergärten, Kantinen, Wäschereien und medizinischen Beratungsstellen) sollte das Tandem zwischen Haus- und Lohnarbeit erleichtern.((Vgl. Kosterina, Genderpolitik in Russland, S.1.)) Mit dem «neuen sowjetischen Menschen», der sich mit und unter dem Sozialismus vorzeigehaft entwickeln sollte, ging eben auch das Bild einer «neuen Frau» einher. Dieses hatte sich von einer bürgerlichen Unbedarftheit mit Fokus auf Mann und Kinder zu unterscheiden.((Vgl. Attwood, Creating the New Soviet Woman, S.11.)) Frauen waren als Arbeitskräfte nicht nur erwünscht, sondern ihre Arbeitsleistung wurde im Zusammenhang mit der voranzutreibenden Industrialisierung auch dringend benötigt.((Vgl. Köbberling, Aktuelle Strömungen der russischen Frauenbewegung, S.566.)) Tatsächlich belegten Frauen 1935 über 44% der Arbeitsplätze in Leningrad.((Vgl. Davies, A Mother’s Cares, S.90.)) Die von ihnen besetzten Stellen waren allerdings nicht nur unterbezahlt, sondern galten auch als wenig anspruchsvoll: Die meisten «neuen sowjetischen Frauen» in den Fabriken arbeiteten als Spediteurinnen, als Hausmeisterinnen und Reinigungskräfte.((Vgl. Goldman, Babas at the Bench, S.70.)) Trotz der 1917 eingeführten koedukativen Bildung waren die beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen nach wie vor verhältnismässig schlecht. Selbst der relativ hohe Frauenanteil im Obersten Sowjet (33%) besagte nur wenig, da er mehr einer vorgegebenen Quote denn einer tatsächlichen Zusprache von Bestimmungskraft geschuldet war.((Vgl. Köbberling, Aktuelle Strömungen der russischen Frauenbewegung, S. 567.))

Zur körperlichen Anstrengung im Berufsleben gesellten sich ausserdem die familiären Pflichten – zusätzlich erschwert durch den «Mangel an arbeitserleichternden Haushaltsgeräten, die Schlangen vor den Geschäften, die unzureichende Versorgung an Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs sowie die unbefriedigenden Verhältnisse in den Kinderkrippen und -gärten, […] die den Frauen im Alltag höchste Kraftanstrengungen abforderten».((Vgl. Köbberling, Aktuelle Strömungen der russischen Frauenbewegung, S. 567.)) Es lässt sich feststellen, dass die Gleichgerechtigkeitsbestrebungen in der frühen Sowjetunion trotz markanter gesellschaftlicher Umstrukturierungen äusserst ambivalent daherkamen und häufig zu einer nicht unterschätzbaren Mehrfachbelastung führten.

Gesellschaftlicher Rückschritt der 1930er-Jahre

Kollontais Bestrebungen endeten nicht mit der rechtlich-sozialen Gleichstellung der Frau. Sie verfolgte das übergeordnete Ziel, mit der «sowjetischen Frau» einen neuen gesellschaftlichen Typus zu erschaffen, der unabhängig, selbstbestimmt und sexuell frei war. Mit diesen Vorstellungen stiess sie nicht nur bei der männlichen Parteielite auf Ablehnung, auch traditionsbewusste Bäuerinnen konnten mit diesen Zukunftsentwürfen nichts anfangen.((Vgl. Fieseler, Alexandra Kollontai, Dekoder 2019.))
Hinzu kam, dass die geschlechterübergreifend geteilte ideologische Vorstellung nicht immer kongruent war mit der gelebten Realität. Während sich allerdings in der frühen Sowjetunion einige zwar nur mässig wirksame, aber doch nicht unbeachtliche emanzipatorische Entwicklungen vollzogen, kam es dann unter Stalin zu einer Kehrtwende. Einhergehend mit seinem autoritären Herrschaftsstil, propagierte und förderte er die Rückkehr zu einem patriarchalischen Gesellschaftsbild.((Vgl. Petrone, Between Exploitation and Empowerment, S.125.))
Eine implizite Diminuierung des weiblichen Geschlechts zeigt sich etwa am Beispiel von schenotdel, der Frauenabteilung im Sekretariat des Zentralkomitees: Diese wurde zu Beginn des Jahrzehnts von Stalin aufgelöst, und zwar mit der unzutreffenden Begründung, die «Frauenfrage» sei gelöst. Die schenotdel war eine aktive Sektion der kommunistischen Partei, die sich mit politisch wie gesellschaftlich für Frauen relevanten Angelegenheiten befasste. Während aus parteilicher Perspektive die Rekrutierung von Frauen und deren Eingliederung in eine neue Ordnung im Vordergrund standen, setzten sich Frauen innerhalb der schenotdel auch stark für eine Sozialpolitik ein, die es ihnen erleichtern sollte, Probleme in der neuen Gesellschaftsstruktur zu bewältigen.((Vgl. Scheide, Frauen und die Revolution, Dekoder 2017.)) Die Schliessung dieser Sektion erfolgte mutmasslich aus einem Mangel an Interesse. Im ersten Fünfjahresplan von 1929 lag der Fokus auf industriellem Wachstum. Soziale Anliegen wurden durch die Ressourcenkonzentration auf das wirtschaftliche Vorankommen in den Hintergrund gedrängt; ausserdem galt Stalin selbst nie als Befürworter der Organisation.((Vgl. Corigliano, Encyclopedia of Russian Women’s Movements, S.188–190.))

http://redavantgarde.com/en/collection/show-collection/1943-salute-to-women-of-stalin-s-era---to-happy-citizens-of-soviet-country-.html?themeId=55
Grüsst die Frauen der stalinschen Epoche – die glücklichen Bürgerinnen des sowjetischen Landes (1937). Die Frau trägt zudem ein Sportabzeichen; redavantgarde.com.

Gleichzeitig wurden juristische Verschärfungen eingeführt, die ein traditionelles Familienbild wieder neu etablieren sollten. Mutterschaft war insofern nicht nur eine persönliche Angelegenheit, sondern geradezu eine politische Pflicht. Entsprechend hoch wurde das Wohlergehen der geborenen Kinder bewertet.((Vgl. Chatterjee, Soviet Heroines and the Language of Modernity, S.60.)) Im Zuge der Gleichstellungsbestrebungen um 1917 und 1920 war die Geburtenrate rapide gesunken. In den 1930er-Jahren ging sie zurück auf weniger als ein Kind pro Frau. Um dem entgegenzuwirken, wurde 1936 die Abtreibung wieder kriminalisiert und das Scheidungsgesetz verschärft.((Vgl. Kosterina, Genderpolitik in Russland, S.2.)) Die Gewährleistung von «Nachwuchssowjet*kas» wurde nicht nur auf rechtlicher Basis zu reglementieren versucht, sondern auch propagandistisch vorangetrieben. So erhielt beispielsweise das Abtreibungsverbot das Siegel “glückliches Mutterschaftsrecht”.((Vgl. Attwood, Creating the New Soviet Woman, S.115.))
Die Rückkehr zu einer familiären Konservativität hatte aber keineswegs einen Rückzug der Frauen aus Fabriken und anderen Arbeitsstätten zur Folge. Vielmehr wurde von ihnen eine doppelte Funktionalität erwartet.((Vgl. Chatterjee, Soviet Heroines and the Language of Modernity, S.61.))
Von diesen konservativ-rechtlichen Rückschritten waren übrigens nicht nur Frauen betroffen. 1934 wurde auch Homosexualität wieder kriminalisiert und als konterrevolutionär sowie antisowjetisch diffamiert.((Vgl. Chatterjee, Soviet Heroines and the Language of Modernity, S.3.)) Drei bis fünf Jahre Gefängnishaft konnte ein ausgesprochenes Urteil nach sich ziehen.
Zu all diesen verschärfenden Tendenzen kam hinzu, dass auch sie nicht vom Grossen Terror verschont blieben. Einerseits haftete das Stigma, eine Angehörige eines verurteilten „Konterrevolutionärs“ zu sein, an ihnen, andererseits konnten sie in Sippenhaft genommen werden oder erfuhren im schlimmsten Fall selbst eine Verurteilung. Hinzu kam die ständige Ungewissheit über den Verbleib ihrer verhafteten Männer, da ihnen von offizieller Seite keine Informationen ausgehändigt wurden.

Fazit

Die emanzipatorischen Bestrebungen der vorstalinistischen Sowjetunion sind nicht allein ideologisch, sondern auch ganz klar nutzenorientiert; Frauen wurden durch die erleichterte Zugänglichkeit zu Arbeitsmöglichkeiten nicht nur «befreit», sondern konnten oft auch lediglich als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden. Bei Fragen der Gleichstellung und der Familienpolitik zeigt sich die reaktionäre Tendenz des späten Stalinismus besonders deutlich. Was sich seit der Februarrevolution an (zumindest theoretischen) Frauenrechten etabliert hatte, fiel seit den 1930er-Jahren weitgehend einer wieder zunehmend patriarchalen Sozial- und Machtpolitik zum Opfer.

Literaturtipp:
Kollontai, Alexandra: Ich habe viele Leben gelebt. Autobiographische Aufzeichnungen, Berlin 1980.

von Anja Römisch

Überarbeitung: Florian Wiedemann
Titelbild: Studentinnen am medizinischen Institut in Moskau 1940; russianphoto.ru.


Literaturangaben:

Attwood, Lynne: Creating the New Soviet Woman. Women’s Magazines as Engineers of Female Identity 1922–53, Basingstoke 1999.

Chatterjee, Choi: Soviet Heroines and the Language of Modernity 1930–39. In: Ilic, Melanie (Hg.): Women in the Stalin Era, London 2001, S.49-68.

Corigliano, Noonan / Nechemias, Carol (Hg.): Encyclopedia of Russian Women’s Movements. Westport 2001.

Davies, Sarah. ‘A Mother’s Cares’ Women Workers and Popular Opinion in Stalin’s Russia 1934–41. In: Ilic, Melanie (Hg.): Women in the Stalin Era, Basingstoke 2001, S.89-109.

Fieseler, Beate: Alexandra Kollontai. In: Dekoder 2019, <https://www.dekoder.org/de/gnose/alexandra-kollontai-feminismus-sozialismus-revolution> [Stand: 01.01.2022].

Goldman, Weny: Babas at the Bench. Gender Conflict in Soviet Industry in the 1930s, in: Ilic, Melanie (Hg.): Women in the Stalin Era, London 2001, S,69-88.

Köbberling, Anna. Aktuelle Strömungen der russischen Frauenbewegung. In: Osteuropa 44/6,1994, S.566-577.

Kosterina, Irina: Ist die Genderpolitik in Russland konservativ? In: RUSSLAND-ANALYSEN NR. 338, 07.07.2017, S.2-5.

Petrone, Karen: Between Exploitation and Empowerment. Soviet Women Negotiate Stalinism, in: Lim, Jie-Hyun / Petrone, Karen (Hg.): Gender Politics and Mass Dictatorship, Basingstoke 2010.

Reich, Norbert: Oktoberrevolution und Recht. In: Kritische Justiz 4/2, 1971.

Scheide, Carmen: Frauen und die Revolution. In: Dekoder 2017, <https://www.dekoder.org/de/gnose/frauen-revolution-kollontai-bolschewiki> [Stand: 02.01.2022].