Die Historia de labyrintho librorum[1] ist in der Mediävistik ein durchaus bekanntes Werk, das zusammen mit einigen anderen im Point-and-Click-Adventure-Spiel Pentiment auftaucht. Beim Durchsuchen der Bibliothek der Abtei Kiersau begutachtet der Protagonist Andreas Maler verschiedene Handschriften, darunter auch diese: ein „Bericht über das Labyrinth der Bücher“.[2] Der Ausschnitt zeigt zwei Pergamentblätter mit je einer Illumination; die vorgezeichnete Linierung ist noch erkennbar. Die Schrift ähnelt einer gotischen Textura, allerdings vereinfacht. Die Darstellung wirkt wie ein Digitalisat der Handschrift, entspricht aber auch der graphischen Ästhetik des Spiels. Auf diese Weise werden in Pentiment noch zahlreiche weitere Handschriften und Drucke präsentiert. Einige beinhalten fiktive Werke, wie die oben abgebildete: Die beiden Lagepläne stammen aus Umberto Ecos Der Name der Rose.

Ecos Roman war eine Inspirationsquelle für Pentiment.[3] Dies macht sich sowohl im Setting – ein wichtiger Handlungsort ist ein aus der Zeit gefallenes Kloster auf einem Hügel – als auch in der Handlung bemerkbar: Pentiment spielt im 16. Jahrhundert im fiktiven niederbayrischen Ort Tassing. Im Hintergrund steht, wie in Der Name der Rose, ein Buch, dessen Existenz und Inhalt von einer der Figuren um jeden Preis verschleiert wird. Der Täter schreckt vor nichts zurück, weshalb in drei Kapiteln jeweils ein Verbrechen geschieht. Die Spieler:innen begeben sich als Andreas Maler und später als Magdalene Druckeryn auf Spurensuche – und stoßen dabei immer wieder auf Handschriften und Drucke unterschiedlicher Art.

Sie sind oft für die Handlung relevant und basieren teilweise auf real existierenden Werken. Wie schon im obigen Beispiel ist ihre Darstellung stark an tatsächlichen Handschriften orientiert und macht die Existenz dieser Werke plausibel. Gleichzeitig ist erkennbar, dass es sich um Nachbildungen von Handschriften handelt. Darüber hinaus kommt teilweise im Rahmen der Ermittlungen der Spieler:innen ein interaktiver Aspekt hinzu.

Die Darstellungsweise der Handschriften öffnet also ein Spannungsfeld zwischen der Annäherung an tatsächliche historische Handschriften und der Nutzung kreativer digitaler Möglichkeiten. Die Frage ist, welche Effekte aus dieser Spannung resultieren – und welche Denkanstöße sie Forschenden geben könnten.

Eine Welt wie eine Handschrift

Die Welt des Spiels ist zweidimensional in einem „extreme stylistic flattening“[4] dargestellt, wodurch auch der Bewegungsradius der Spielfiguren auf bestimmte Pfade festgelegt ist. Diese Darstellungsform ist nicht nur zweckmäßig, weil weniger aufwändig, sondern ähnelt auch den aus Handschriften und Drucken bekannten Perspektiven.

Und nicht nur die „visual language“[5] von Pentiment ist an Handschriften und Drucken orientiert, sondern auch der Aufbau der Spiel- und Erzählwelt sowie die direkte Rede von Figuren, die mittels Sprechblasen wiedergegeben wird. Was wie eine vergleichsweise einfache Lösung scheint, ist es hier keineswegs: Die Schrift entsteht vor den Augen der Betrachter:innen und wurde tatsächlich von Hand erstellt.[6] Die verschiedenen Schriftarten sind an historischer Schrift orientiert, wenn auch vereinfacht, und inkorporieren Prinzipien der Handschriftlichkeit. So werden beispielsweise Schreibfehler ausradiert und nachgebessert, Tintenflecke erscheinen bei zornigen Aussagen und statt einer Sprachausgabe wird jedes Gespräch vom Kratzen einer Schreibfeder begleitet.

Abb. 2: Bei dieser Figur ist sogar zu sehen, wie die Buchstaben nach dem virtuellen Eintauchen ins Tintenfass dicker und dunkler aussehen.

Diese Aspekte tragen zur Immersion in die zeitliche Verortung des Spiels im 16. Jahrhundert bei, sind aber auch kleine ‚Easter Eggs‘, versteckte Referenzen, für diejenigen, die in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur und Handschriftenkunde bewandert sind. Zusätzlich bieten sie einen Eindruck von der zeitgenössischen Schriftlichkeit.

Eintauchen in Handschriften und historische Themen

Im Lauf der Handlung betreten die Figuren verschiedene Handschriften und Drucke – oder vielmehr die Illuminationen darin. Eine erste solche Erfahrung machen Spieler:innen bei einer Sammel-Aufgabe, die im Folgenden als Beispiel dienen soll: Man sucht für eine Nonne, Schwester Illuminata, drei Bücher im Skriptorium. Sobald man eines der Bücher gefunden hat, öffnet es sich und der Protagonist, Andreas Maler, sowie Schwester Illuminata tauchen in den Miniaturen der Handschrift auf. Dort beginnen sie ein Gespräch über das jeweilige Werk und damit verknüpfte Themen.

Abb. 3: Andreas Maler und Schwester Illuminata in einer Aeneis-Handschrift.

Die Miniaturen scheinen Fenster auf eine hinter dem Pergament liegende Ebene zu sein. Beide Figuren kommen jeweils vom äußeren Rand hineingelaufen, und im obigen Beispiel wechselt Schwester Illuminata von der linken Miniatur in die rechte, indem sie hinter dem Buchfalz wie hinter einer Säule vorbeigeht. Außerdem nehmen die Spielfiguren die Positionen und Haltungen der Figuren in den Miniaturen ein. Das jeweilige Gesprächsthema von Andreas und Illuminata ist dabei an das Werk angepasst, in dem sich die beiden befinden: In den Miniaturen der Aeneis wird analog zu Didos Selbstmord über die Stellung der Frau in der Frühen Neuzeit gesprochen, im Il Guerrin Meschino – konträr zur Abbildung eines Ritters auf einem Pferd – über monastische Pflichten.

Formal gesehen verdeutlichen die Figuren in Pentiment so ihren Standpunkt in der jeweiligen Debatte. Inhaltlich betrachtet versetzen sie sich gewissermaßen in die Position der Figuren aus dem jeweiligen Werk und nähern sich dessen Inhalt auf eine sehr persönliche Weise. So beleben sie die Handschriften in einer Form, die nur im Spiel möglich ist. Das ist nicht nur ein augenzwinkernder Verweis für ein wissenschaftliches Publikum oder eine ästhetische Spielerei, sondern vermittelt ein tiefgehendes Interesse an der Geschichte und (Schrift-)Kultur der Frühen Neuzeit.

Handschriften – des Rätsels Lösung?

Andere Handschriften sind instrumental für die Handlung, indem sie Hinweise für verschiedene Rätsel beinhalten. Für die Interaktion mit den Handschriften werden bestimmte Stellen mit schwarzen Unterstreichungen markiert und man bedient als Spieler:in eine Zeigehand, eine Art Manicula, die rot aufleuchtet, sobald eine der entsprechenden Stellen berührt wird. Klickt man sie an, äußert Andreas Maler seine Gedanken dazu. Danach verschwinden die Markierungen, sodass die Handschrift wie ein reguläres Digitalisat erscheint.

Abb. 4: Eine Seite in der Handschrift, die man zur Lösung eines Rätsels untersucht.

Die Handschriften werden zu diesem Zweck in Gänze gezeigt und befinden sich auf einem Hintergrund, der an Papierunterlagen in Archiven und Lesesälen erinnert. Auch die Kommentare, die Andreas zu den Handschriften macht, erinnern teilweise an die wissenschaftliche Herangehensweise; beispielsweise, wenn er Überlegungen zur Schrift der oben abgebildeten Handschrift anstellt: „Bastarda-Schrift. Burgundisch? Flämisch. Nicht von hier und nicht neu.“ Diese paläographischen Untersuchungen sind Teil der Bemühungen, die Verbrechen aufzuklären. Denn ein Schlüssel zur Lösung des Rätsels sind Zettel, die bei den Verdächtigen gefunden werden und die alle die gleiche Handschrift aufweisen – welche sich schließlich in einem Codex in der Bibliothek der Abtei wiederfindet.

Abb. 5: Der Zettel, der beim ersten Opfer gefunden wird…
Abb. 6: …und Andreas’ quasi-paläographische Überlegungen dazu.

Die Handschriften sind in dieser Digitalisat-ähnlichen Ansicht Hybride aus tatsächlichen Handschriften, der ‚visual language‘ von Pentiment und digitalen Interaktionsmöglichkeiten. Das Material sieht Pergament teilweise so ähnlich, dass sogar die durchscheinende Tinte der Rückseite zu sehen ist (Abb. 7); die Schrift ist an vormodernen Schriften orientiert, aber vereinfacht; die Buchstaben sind zwar von Hand geschrieben, aber digital zu einem Text zusammengesetzt;[7] es sind Linierungen zu sehen, aber die Tinte ist fast schon zu gleichmäßig verteilt. Zudem existieren die gezeigten Werke teilweise nicht, obwohl sie plausibel scheinen, beispielsweise die Mysteria Astra. Und auch wenn die Werke tatsächlich in Handschriften überliefert sind, ist doch keine der Handschriften in Pentiment eine direkte Kopie davon.[8]

Abb. 7: Andreas’ Aussage gibt bereits einen Hinweis darauf, dass das Werk nicht existiert.

Dass die Handschriften in Pentiment so nah wie möglich an realen Handschriften orientiert sind, regt die Spieler:innen mit einer gewissen Textkenntnis an, die entsprechende Handschrift zu finden. Außerdem vermittelt es über die bloße Immersion ins Spiel hinaus einen relativ akkuraten Eindruck von Handschriften und Drucken. Dass manche der Handschriften zusätzlich interaktiv zugänglich sind, ist nicht nur für die Spurensuche als Andreas Maler interessant. Es ist darüber hinaus sowohl eine Gelegenheit zur Weitergabe von Informationen über das Werk als auch eine Einladung, sich selbst mit den genannten Werken auseinanderzusetzen.

Fazit

Handschriften und Drucke sind in Pentiment mehr als nur die Basis der ‚visual language‘ oder ästhetische Beigaben. Obwohl ihre Darstellung keinen wissenschaftlichen Anspruch hat und teilweise fiktive Werke simuliert werden, ist sie zum Großteil sehr akkurat und mitunter von paläographischen Beobachtungen des Protagonisten begleitet. Die zahlreichen Ausschnitte und Andeutungen bieten einen Blick auf die Frühe Neuzeit und können so das Interesse der Spieler:innen wecken und sie zu eigenen Nachforschungen motivieren. Besonders, da das Spiel eine direkte Interaktion mit den Handschriften ermöglicht. Dieser Umgang mit Handschriften ist aufgrund der virtuellen Plattform nicht von Ehrfurcht und Bemühungen zur Erhaltung der Werke geprägt und kann so dabei helfen, die Schwelle der Beschäftigung mit Handschriften für ein Laienpublikum zu senken.

Überlegungen zur didaktischen Nutzbarkeit in der Schule wurden bereits angestellt,[9] doch darüber hinaus kann Pentiment vielleicht auch Denkanstöße für Mediävist:innen bieten, wenn es darum geht, das Mittelalter und vor allem die Frühe Neuzeit allgemeiner zugänglich zu machen. Das muss nicht bedeuten, dass Computerspiele als direkte Brücke zwischen Forschung und Öffentlichkeit genutzt werden sollen. Doch es ist ein beständiges Interesse an Pentiment sichtbar: Erst Anfang April 2024 wurde ein Fanzine[10] veröffentlicht, das mit über 30 Beiträgen durchaus von einer großen Fangemeinde zeugt. Auch das Interesse von Mediävist:innen an Pentiment ist groß, wie einige der hier zitierten Blogartikel und ein noch zu erscheinender Sammelband beweisen.[11] Das gemeinsame Interesse richtet sich nicht nur auf das Spiel, sondern auch auf die inkorporierten Handschriften, Drucke, und die historische Rahmung der Handlung.

Digitale Zugänge zu Handschriften bestehen bereits über Digitalisate. Darüber hinaus könnte man in ausgewählten Kontexten, beispielsweise im Rahmen einer (Online-)Ausstellung, interaktivere Modi der Darstellung erarbeiten. So könnten Digitalisate ähnlich wie in Pentiment dazu beitragen, verschiedene historische Themenfelder für ein Laienpublikum mittels einer ansprechenden Präsentation zugänglicher zu gestalten und sie ihm näherzubringen.

Es wäre spannend, auf welche Weisen man diese Begeisterung für Handschriften sowie mediävistische und frühneuzeitliche Forschungsinhalte noch wecken kann. Medien wie Handschriften und Spiele scheinen jedenfalls ein guter Anfang zu sein.


[1] Die im Artikel verwendeten Bilder sind Screenshots aus dem Spiel Pentiment von Obsidian Entertainment. Dieser Artikel wird nicht von Obsidian Entertainment, Inc. unterstützt und spiegelt nicht die Ansichten oder Meinungen von Obsidian Entertainment, Inc. oder irgendjemandem wider, der offiziell an der Herstellung von Pentiment beteiligt ist. Pentiment und Obsidian Entertainment sowie alle zugehörigen Logos sind Marken oder eingetragene Marken von Obsidian Entertainment, Inc.

[2] Vgl. den Eintrag im spielinternen Glossar.

[3] Vgl. eine Aussage des Spielentwicklers Joshua Sawyer in einem Interview: Allie Alvis: Pentiment. An Interview with Josh Sawyer, online abrufbar unter: https://sharpweb.org/sharpnews/2022/12/07/pentiment-an-interview-with-josh-sawyer/; zuletzt abgerufen am 23.04.2024.

[4] Hannah Kennedy: Deep Dive. Behind the evocative medieval manuscript art of Pentiment, online abrufbar unter: https://www.gamedeveloper.com/art/deep-dive-the-art-of-pentiment; zuletzt abgerufen am 18.04.2024.

[5] Ebd.

[6] Riley Cran: A Lettermatic Case Study. Giving Characters a Typographic Voice in Obsidian’s New RPG, online abrufbar unter: https://lettermatic.com/custom/pentiment; zuletzt abgerufen am 18.04.2024.

[7] Ebd.

[8] Vgl. Sawyers Aussage in einem Interview mit Lucas Haasis und Alan van Beek, online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=mptRooNj0Dg; zuletzt abgerufen am 22.04.2024. Die Stelle, auf die Bezug genommen wird, ist Minute 12:50 und folgende: https://youtu.be/mptRooNj0Dg?t=776; zuletzt abgerufen am 22.04.2024.

[9] Auf dem Blog des Arbeitskreises Geisteswissenschaften und Digitale Spiele sind zwei Kurzbeiträge zu dieser Frage erschienen: Lorenz Prager: Pentiment. Geschichte wird gemalt. Und: Lucas Haasis et al.: Pentiment in Schule und Lehrkräftebildung an der Universität, beides online abrufbar unter: https://gespielt.hypotheses.org/5490; zuletzt abgerufen am 18.04.2024.

[10] Ein ‚Fan-Magazine‘, also ein von Fans eines Mediums erstelltes Magazin, das ‚Fanart‘ beinhaltet – kreative Beiträge von Fans in Bild- und teilweise auch Textform. Das Fanzine ‚Palimpsest. A Pentiment Fanzine‘ ist online abrufbar unter https://palimpsestzine.itch.io/zine; zuletzt abgerufen am 03.05.2024.

[11] Vgl. den Blogeintrag von Aurelia Brandenburg: Sammelband und Stream. Pentiment – eine Zeitenwende?, online abrufbar unter: https://gespielt.hypotheses.org/5675; zuletzt abgerufen am 23.04.2024.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert