Die Höhle in der mittelalterlichen Literatur kann als eine literarische Form einer Anderswelt verstanden werden. Wahrnehmungs- und Wissensprozesse werden in der Anderswelt der Höhle gleichzeitig in Bezug und in Abgrenzung zur alltäglichen Lebenswelt verhandelt. Die Höhle ist räumlich von der Aussenwelt abgegrenzt, da sie zumeist schwer zugänglich und ein in sich geschossener Raum ist, der aber gleichzeitig durch die Beschreibungen des Höhleninneren, beispielsweise als eine schön gestaltete und mit Reichtümern befüllte Kammer, mit der Aussenwelt verbunden bleibt. Die Höhle als ein wirklicher Ort, der sowohl von der Gesellschaft abgegrenzt als auch mit ihr verbunden ist, kann nach Foucault als eine Heterotopie verstanden werden. Heterotopien sind als „Gegenplatzierungen oder Widerlager […], in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind“,[1] zu verstehen.

Eine besondere Darstellung einer Höhle als Heterotopie findet sich in der Melusine (1456) Thürings von Ringoltingen. Bereits in der Vorrede wird deutlich, dass es sich beim Roman um eine Genealogieerzählung handelt. So weist der Erzähler darauf hin, dass von der Wasserfee Melusine grosse und mächtige Geschlechter von Königen, Fürsten und Rittern abstammen (vgl. 11, 6–12).[2] In der Erzählung ist die Genealogiegeschichte der Figuren mit der Heterotopie der Grabkammer verküpft, denn auf einer Steintafel in der reich verzierten Grabkammer ist die Geschichte von Melusines Familie festgehalten. Geffroy, der Sohn von Melusine und Reymund, findet auf seiner Reise den Berg Awalon, in dessen Innern sich die Grabkammer seiner Grosseltern, König Helmas und Presine, befindet. Seine Genealogie offenbart sich Geffroy in der auf der Steintafel festgehaltenen Erzählung seiner Geschichte. Die Grabhöhle bzw. Grabkammer in Thürings Melusine (1456)ist somit ein Erinnerungs- und Offenbarungsraum.[3] Zudem sind in der Grabhöhle verschiedene Heterotopien ineinander und übereinander gelagert, die sich zu einer Heterotopie im utopisch-heterotopischen Spiegel der Steintafel vereinen und somit Geffroy seine Genealogie offenbaren.

Der Berg als Heterotopie

Abb. 1: Holzschnitt von Geffroys Eintritt in den Berg. In: Thüring von Ringoltingen: Melusine. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin 1990 (Bibliothek der frühen Neuzeit 1), S. 136.

Geffroy reist in der Absicht nach Norheme, den Riesen Grymmolt zu töten. Als er den Berg Awalon erreicht, findet er Grymmolt auf einer vor dem Berg liegenden Wiese. Geffroy greift den Riesen an und ein gewaltsamer Kampf bricht aus. Dem besiegten Riesen gelingt jedoch die flucht in den velsen (133, 20). Er springt in ein vinster loch (134, 5), in welchem Geffroy ihn nicht erreichen kann und in welches er dem Riesen auch nicht folgen will (vgl. 134, 5–6). Als die landes herren (134, 15) erfahren, dass der Riese in den Berg entfliehen konnte, erzählt einer der Landesherren Geffroy, dass ihr König Helmas von seinen drei Töchtern aus Rache in den Berg eingeschlossen worden sei, da er das gelübde (135, 23) seiner Frau Presine gegenüber gebrochen habe, indem er sie trotz Verbots im kindtpedt (135, 18–19) aufgesucht hatte (vgl. 135, 12–26). Seit Helmas’ Zeit sei ein riß hie gewesen / der dieses perges alle zeit gehůtet (135, 29–30) und das Land verwüstet habe. Geffroy gelobt den Landesherren daraufhin, den Riesen umzubringen. Mit seiner Lanze (glenen) dringt Geffroy in das vinster loch (137, 3) vor (Abb. 1). Der Berg und das Berginnere können als eine Heterotopie verstanden werden, denn das Berginnere und die Grabkammer sind „gleichzeitig isoliert und durchdringlich“[4]. Nach Foucaults fünftem Grundsatz zeichnen sich Heterotopien durch „ein System von Öffnungen und Schließungen“[5] aus, welches die Heterotopien schwer zugänglich und gleichzeitig betretbar macht. Das Berginnere ist einerseits nur schwer und bedingt zugänglich, da der Eingang vom Riesen Grymmolt bewacht wird. Andererseits kann in das Berginnere durch den finsteren Eingang vorgedrungen werden. Weiter zeigt sich in der Erzählung und im Holzschnitt, dass in den Berg weitere Heterotopien eingelagert sind. Die sich im Berginnern befindende Grabkammer von König Helmas und Presine ist durch eine Tür verschlossen – der Eintritt in die Grabkammer ist bedingt und privilegiert, da nur die Nachfahren König Helmas’ und Presines den Berg betreten dürfen (vgl. 139, 21–24). Zudem geht aus der Beschreibung des Bergs hervor, dass im Berginneren weitere Höhlen (vgl. 141, 23–24) und Kammern (vgl. 142, 4–9) zu finden sind. Die Verbindung, die zwischen den verschiedenen Heterotopien in der Erzählung hergestellt wird, zeigt sich ebenfalls im Holzschnitt. Die Felsen der Burg und die Mauer der Burg gehen ineinander über und der Eingang in das Berginnere befindet sich zwischen den Felsen.

Die Heterotopie der schönen Grabkammer im Berginnern

Im Berginneren findet Geffroy eine schöne kamer (137, 21),die in den velsen gehawen was (137, 21–22)und die durch eine Tür verschlossen ist. Die Kammer ist mit Reichtümern gefüllt und wol gecziert mit gold vnd edelm gestein (137, 24). [I]n der mitte derselben kamer (137, 26) befindet sich ein erhaben grab (137, 26). Das Grab steht auf sechs goldenen Pfeilern und ist mit kostbaren Edelsteinen reich verziert. In die Grabplatte ist das Abbild des Königs Helmas und zu seinen Füssen ein frawenpilde (138, 7) gehauen. In ihren Händen hält die Frau eine tafel (138, 7), auf der ihre Lebensgeschichte als eine Ich-Erzählung festgehalten ist. Aus dieser Ich-Erzählung in der Erzählung erfährt Geffroy, dass Presine mit ihren drei Töchtern Melusine, Meliora und Palatine verschwunden ist, nachdem ihr Ehemann Helmas sein Versprechen, sie niemals im kindtpedt (138, 13) aufzusuchen, gebrochen hat. Weiter erfährt er, dass die drei Töchter ihren Vater aus Rache für den Versprechensbruch in den Berg geschlossen haben. Er erkennt, dass er in der Grabkammer seines Grossvaters, König Helmas, steht, und erfährt, dass seine Mutter und ihre zwei Schwestern von seiner Grossmutter Presine dreÿ gob (139, 24) erhalten haben.

Die Kammer kann als ein heterotopischer Zeitenraum verstanden werden, denn es werden chronotopische und heterotopische Eigenschaften im Raum miteinander verbunden.[6] Die Grabkammer ist einerseits ein geschlossener, reich verzierter Raum, der nur den Nachfahren Presines und Helmas’ zugänglich ist. In der Grabtafel wird Geffroy andererseits seine Genealogie offenbart und es findet eine Spiegelung zwischen dem ursprünglichen Tabubruch seiner Grosseltern und dem Tabubruch seiner Eltern statt. In der Grabhöhle ist „genealogische Identität mit raumzeitlicher Gegenbildlichkeit“[7] verknüpft.

Der utopisch-heterotopische Spiegel der Grabtafel

In der Grabtafel werden zugleich Geffroys genealogische Identität offenbart sowie die zeitlich miteinander verknüpften Heterotopien vereint und miteinander gespiegelt. Die Heterotopien sind nicht nur räumlich miteinander verknüpft, indem sie, wie bereits ausgeführt, ineinander gelagert sind, sie sind ebenfalls zeitlich miteinander verbunden. In der Erzählung werden die Heterotopien des Bergs und der Grabkammer im Zuge von Geffroys Vordringen ins Berginnere erzählt. In der Grabkammer erfährt Geffroy jedoch aus der Schrift auf der Steintafel, wie die Grabkammer entstanden ist. Geffroys Vordringen in den Berg und in die Kammer wird in der Erzählung auf der Tafel gespiegelt, denn auf ihr wird erzählt, wie König Helmas von seinen drei Töchtern aus Rache in den Berg gesperrt und wie bei seinem Tod das Grabmal von seiner Frau Presine errichtet worden ist. Die Heterotopien des Bergs und der Grabkammer werden durch die auf der Grabtafel festgehaltene Erzählung, in der die Entstehung der Heterotopien beschrieben wird, in ihrer Erzählgegenwart mit der Vergangeheit gespiegelt. Die Grabtafel kann als ein utopisch-heterotopischer Spiegel verstanden werden, denn sie enthält die von Foucault beschriebene doppelte Funktion von Spiegeln, die Merkmale von Utopien und Heterotopien in sich tragen und miteinander verbinden. Der Spiegel als Utopie ist nach Foucault ein „Ort ohne Ort“[8]. Im Spiegel sieht sich die hineinblickende Person dort, wo sie nicht ist. Sie sieht sich „in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut“[9]. Dem nach seiner Identität suchenden Geffroy wird in der Grabtafel seine eigene Herkunft vor Augen geführt. In der Binnenerzählung eröffnet sich Geffroy der Raum, in dem er sich befindet, in der Vergangenheit, da die steinerne Presine vom Berg, der Entstehung der Grabkammer und der Steintafel erzählt. Es findet somit eine Doppelung zwischen dem in der Binnenerzählung erzählten Berg, der Grabkammer und der Grabtafel und dem zuvor erzählten Eintritt Geffroys in den Berg und in die Grabkammer sowie vom Fund der Grabtafel statt, vom der ausgehend sich die Binnenerzählung entwickelt. Gleichzeitig ermöglicht die heterotopische Spiegelfunktion der Grabkammer Geffroy, sich dort wieder einzufinden, wo er ist. Die Grabtafel als heterotopischer Spiegel schickt die in den Spiegel blickende Person „auf den Platz zurück, den [sie] wirklich [einnimmt]“,[10] und lässt sie den eigenen Blick wieder auf sich selbst richten. Geffroy erkennt, dass die in der Grabtafel erzählte Grabkammer diejenige ist, in der er sich befindet. Er realisiert, dass er in der Grabkammer seines Grossvaters steht und die Geschichte seiner Familie auf der Tafel festgehalten ist. Im utopisch-heterotopischen Spiegel vereinen sich die ineinander und zeitlich übereinander gelagerten Heterotopien des Bergs und der Kammer miteinander.

Der Spiegel als Nexus-Heterotopie

Durch das Lesen der Tafel erfährt Geffroy den Ursprung seines Geschlechts. Ihm wird von seiner Grossmutter erzählt, dass auch sie ein Tabu ausgesprochen hat: Niemand durfte mit ihr in der Zeit ihres Kindbetts sein. König Helmas, ihr Ehemann, versprach ihr, dass er sie an jenem Ort nymmer besůchen (138, 13) würde. Doch er konnte sein Versprechen nicht halten und verlor seine Ehefrau als Konsequenz.

Abb. 2: Julius Hübner: Die schöne Melusine (1844). National Museum Poznań . Konstanty Kalinowski: Sammlung Graf Raczyński. Malerei der Spätromantik aus dem Nationalmuseum Poznań. Ausst. Kat. München, Berlin, Kiel 1992–1993. München 1992, Kat. Nr. 46.

Aufgrund des Tabus werden der Zeit-Raum, in dem sich Presine im Wochenbett befindet, und das Badezimmer, in welches sich Melusine jeden Samstag zurückzieht, zu verknüpften Heterotopien. Beide Räume sind aufgrund des Zutrittverbots für ihre Ehemänner, König Helmas und Reymund, „privilegierte und […] verbotene Orte“ [11]. Durch das Betreten der Heterotopie, durch das unerlaubte Einbrechen in einen schützenden Raum, bricht König Helmas das Tabu und löst die Heterotopie infolgedessen auf. Während das Tabu eine Heterotopie entstehen lässt, löst der Tabubruch sie wieder auf und läutet zugleich das Ende von König Helmas ein.

Aufgrund dieses Tabubruchs wurden die drei Töchter mit einem eigenen Tabu, einer gob (139, 24), belegt. Melusine darf an keinem Samstag besucht werden, da sie sich dann vom Bauchnabel abwärts verwandelt. Reymund willigte in diese Voraussetzung zur Ehe ein, er schwůr [ez] ir (26, 1) sogar. Einige Zeit ging es gut, Melusine konnte sich im Bad unbeobachtet verwandeln, und die Heterotopie sowie das Tabu konnten gewahrt werden. Doch wie bereits Helmas kann auch der menschliche, triebgesteuerte Reymund den Reizen nicht widerstehen und spioniert Melusine nach. Er schaut durch ein Loch in der Tür auf Melusines Schlangenkörper und erhascht einen Blick auf das ihm Verborgene und dringt somit in Melusines Heterotopie ein. Das Ölgemälde von Julius Hübner (Abb. 2) unterstreicht dies deutlich: Gut zu erkennen sind die zwei voneinander abgetrennten und in ihrer Darstellung unterschiedlichen Räume. Auf der einen Seite befindet sich der menschliche Reymund auf einer dunklen Treppe. Auf der anderen Seite befindet sich Melusine in ihrer wahren Gestalt, die tabuisiert ist, in einem zauberhaften, hellen Badezimmer – ihrer Heterotopie. Auch ist zu erkennen, wie Reymunds Blick auf Melusines Bauchnabel gerichtet ist, die Trennungslinie ihres menschlichen Oberkörpers und ihres animalischen Unterkörpers. Nicht nur der Bauchnabel fungiert mit seiner runden Form sowie der durchtrennten Nabelschnur bei der Geburt als ein zyklisches Element, auch Melusines Heterotopie ist in ihrer Funktion zyklischer Natur.[12] Sie wird jeden Samstag gesteigert, da sich Melusine wöchentlich ins Badezimmer zurückzieht und verwandelt. Durch den Vertrauensmissbrauch werden die Heterotopien von Presine und Melusine gewaltsam betreten und aufgelöst. Die öffentliche Bekanntmachung von Melusines Natur bricht das Tabu endgültig und besiegelt das Elend von Reymund.

Kurzes Fazit

Die Relevanz der Höhle am Beispiel der Grabkammer in der Melusine zeigt, dass die Höhle eine zentrale und vielfältige Erzählfunktion einnehmen kann. In der Melusine ist die Kammer zugleich Erinnerungs- und Offenbarungsraum und bildet den Kern der Erzählung, denn hier werden Erzählgegenwart und Vergangenheit miteinander gespiegelt und die Genealogie der Figuren aufgedeckt. Geffroy erfährt, woher er stammt, indem die Kammer ihm einen Blick in die Vergangenheit ermöglicht. Sie fungiert als Verbindungsheterotopie, die Vergangenheit und Zukunft sichtbar macht.[13] Der Sohn Melusines befindet sich an einem Ort der „Dauer und der Nicht-Dauer in einem“[14]; die Grabhöhle vermittelt ihm die unausweichliche Richtung seiner zukünftigen Existenz, indem sie Vergangenes festzuhalten versucht.


[1] Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992, S. 34–46, hier S. 39.

[2] Zitiert nach der Ausgabe: Thüring von Ringoltingen: Melusine. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Hg. von Jan-Dirk Müller. Berlin 1990 (Bibliothek der frühen Neuzeit 1), S. 9–176; im Folgenden mit Angabe der Seiten- und Zeilenzahl im Fließtext.

[3] Vgl. Christian Kiening: Zeitenraum und mise en abyme. Zum ‚Kern‘ der Melusinegeschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005), S. 3–28, hier S. 1520; Andreas Hammer: Art. Höhle, Grotte. In: Tilo Renz/Monika Hanauska/Mathias Herweg (Hg.): Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2018, S. 286–296, hier S. 295f.

[4] Foucault: Andere Räume (wie Anm. 1), S. 44.

[5] Ebd.

[6] Vgl. Hammer: Höhle (wie Anm. 3), S. 295.

[7] Kiening: Zeitenraum (wie Anm. 3), S. 17.

[8] Foucault: Andere Räume (wie Anm. 1), S. 39.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Ebd., S. 40.

[12] Vgl. Coralie Rippl: Raum der Herkunft, Ort des Erzählens. Zum Phänomen der anderweltlichen Herkunft im Roman der Frühen Neuzeit. In: Maximilian Benz/Katrin Dennerlein (Hg.): Literarische Räume der Herkunft. Fallstudien zu einer historischen Narratologie. Berlin/Boston 2016, S. 205–233, hier S. 220.

[13] Vgl. ebd., S. 225.

[14] Kiening: Zeitenraum (wie Anm. 3), S. 17.

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