Im 17. Jahrhundert hatte die Verehrung marianischer Gnadenbilder längst globale Ausmasse angenommen, wie der Jesuit Wilhelm Gumppenberg in seinem Atlas Marianus, einer Sammlung von 1200 wundertätigen Bildern der Jungfrau Maria aus aller Welt, den Lesern deutlich vor Augen zu führen suchte.[1] Insgesamt 266 Ordensbrüder hatten sich an dem in seiner geografischen Expansion einzigartigen Projekt beteiligt und Gumppenberg in rund 2000 Briefen von der Geschichte und dem Wirken ihrer lokal verehrten Bildnisse berichtet.[2] Eines dieser Mariengnadenbilder war die Madonna di Trapani (Abb. 1). Ab dem 15. Jahrhundert hatte die in der sizilianischen Küstenstadt Trapani verehrte Marmorstatue der Jungfrau Maria bei den Gläubigen zusehends an Beliebtheit gewonnen. Insbesondere Seefahrer pflegten der Wunder wirkenden Madonna auf dem Weg ins Heilige Land einen Besuch abzustatten, um von ihr Schutz für die gefährliche Weiterreise zu erbitten. Der immer grösser werdende Strom an Pilgern hatte das Aufkommen einer regelrechten Souvenirindustrie in Trapani zur Folge. Gumppenberg berichtet von über vierzig Werkstätten, die nur darauf spezialisiert waren, kleinformatige Repliken der Statue zu fertigen.[3] Diese Kopien der Trapanitana zirkulierten in der gesamten Iberischen Welt, wobei insbesondere der Orden der Karmeliter sowie spanische Vizekönige und Adlige die Verbreitung des Kultbildes vorantrugen.
Bei den Vervielfältigungsprozessen von Gnadenbildern kamen unterschiedlichste Medien und Materialien zum Einsatz. Zur kultischen Verehrung eines jeden wundertätigen Bildes gehörte das Erstellen druckgrafischer Darstellungen, die in Abhandlungen publiziert wurden oder als Flugblätter zirkulierten. In Spanien und Lateinamerika waren ausserdem sogenannte Statuenmalereien in Öl (pinturas de estatua) sehr beliebt, die das wundertätige Bildnis auf dem Altar darstellen. Von der sizilianischen Madonnenstatue haben sich mehrere solcher Ölgemälde erhalten, die meisten davon in kirchlichen und klösterlichen Sammlungen im mexikanischen Bundesstaat Michoacán (Abb. 2). Zudem wurden von Statuen Abgüsse oder Nachbildungen gefertigt, wobei im Falle der Madonna di Trapani überwiegend der regional abgebaute Alabaster verwendet wurde. Diese als Pilgerandenken erworbenen Alabasterrepliken verbreiteten sich im gesamten Mittelmeerraum und sind heute in unzähligen öffentlichen sowie monastischen Sammlungen zu finden (Abb. 3, 4, 5).
Weiter wurde für die Reproduktion des sizilianischen Kultbildes auch auf die lokalen Vorkommen von Koralle zurückgegriffen, für deren meisterhafte Verarbeitung zu liturgischen Geräten und Luxusgegenständen die Werkstätten Trapanis weltweit Berühmtheit genossen.[4] Der roten Edelkoralle wurde heilende und beschützende Wirkung zugesprochen, weshalb diese auch zu Rosenkränzen sowie Amuletten, teilweise mit einem Bildnis der Trapanitana, verarbeitet zum Schutz gegen Stürme und Unwetter sowie Hirngespinste und Albträume getragen wurde (Abb. 6). Die verehrte Madonna selbst wurde mit solchen Apotropäa und Schmuckstücken bekleidet, die ihr zum Dank für den von ihr gewährten Schutz gestiftet worden waren (Abb. 7).[5]
Vervielfältigung und Verbreitung eines Gnadenbildes gingen Hand in Hand. Denn so wie dem verehrten Bildnis aufgrund seiner Wundertätigkeit und der daraus resultierenden Pilgerschaft eine starke Lokalbindung zu eigen war, so war es die Aufgabe der Kopien, zu reisen und eben dieses Bild an anderer Stelle verfügbar zu machen.
Es stellt sich folglich die Frage, wie die Verbindung zwischen ‚Kopie‘ und ‚Original‘ angesichts dieser aktiven Reisetätigkeit zu charakterisieren ist. Der Herkunftsort der Kopien ist über Inschriften oder das Stadtwappen Trapanis markiert. Und auch die Materialität der Kopien schafft einen Bezug zur Sizilianischen Hafenstadt, wenn nicht etwa Marmor, wie beim Original, sondern lokale Rohstoffe verwendet wurden, für deren Verarbeitung Trapani in der gesamten Iberischen Welt bekannt war. Diese enge Assoziation von Material und Herkunft in der frühneuzeitlichen Kultpraxis ist auch bei der Ursprungslegende der Madonna di Trapani erkennbar, nach der ein Priester die Statue am 15. August 730 auf Zypern geschaffen haben soll. Datum und Ort der Entstehung sind in den Legenden anhand einiger chaldäischer Inschriften, die sich auf dem Mantelsaum Marias befunden haben sollen, sowie der Herkunft des Marmors belegt.[6] Vincenzo Nobile etwa widmete ein ganzes Kapitel seiner 600-seitigen Monografie Tesoro nascosto von 1698 der Frage nach der Provenienz des Steins und schilderte detailliert, wie der Bildhauer-Priester auf der Insel Zypern nach dem perfekten Marmorblock suchen liess.[7]
Die ausserordentliche Varianz an Medien und Materialien unter den Kopien der Madonna di Trapani macht jedoch auch deutlich, dass für den Reproduktionsprozess nicht nur Wiedererkennbarkeit, sondern auch Unterscheidbarkeit massgeblich war. So sind ikonografische Merkmale der Madonnenstatue, wie etwa die berührende Handgeste von Mutter und Kind oder die Gewandfalten, zugleich zitiert und abgewandelt. Ausserdem weicht neben der Materialität der Kopien auch deren Massstab dezidiert von der verehrten Statue ab, die fast Lebensgrösse erreicht. Die Kopien sind folglich zwar reich an Informationen, doch keineswegs verwechselbar mit dem Original, womit den Kopien gleichermassen die Möglichkeit zur Anknüpfung wie auch zur Ablösung vom Original gewährt wird.
Der katholischen Lehre des ‚Prototyps‘ zufolge ist die Mutter Gottes potenziell in jedem einzelnen ihrer Bilder wirksam, unabhängig von dessen Aussehen, Grösse, Material oder künstlerischer Qualität. Dies ermöglicht eine unendliche Vervielfältigung der Bilder, die alle sowohl miteinander als auch mit einem einzigen Urbild, der himmlischen Jungfrau selbst, in Beziehung stehen. Angesichts des im Atlas Marianus zusammengestellten Bestandes an wundertätigen Marienbildnissen kam Gumppenberg allerdings zum Schluss, dass sich diejenigen Bildnisse als die wirkungsmächtigsten erwiesen hatten, die sich in Ausführung wie auch Materialität durch Einfachheit auszeichneten:
Man wirdt auß so vil hundert Bildern / so ich herbey bringe / sehr wenig finden / in welchen gar grosse Kunst erscheinet / wie dann auch die Matery / darauß sie geformbt seynd / allzeit sehr schlecht / keines auß allen weiß ich von Gold. Also erwähler GOTT was schlecht ist umb seine Wunder darmit zuwürcken.[8]
Die Madonna di Trapani widerspricht dieser Konvention der Bescheidenheit. Sie ist nicht wie die meisten verehrten Statuen aus Holz, sondern aus Marmor gefertigt. Dass die Skulptur trotz ihrer aussergewöhnlichen Materialität eine aktive Fürbitterin darstellte, brachte Vincenzo Nobile in seiner Monografie explizit zum Ausdruck, wenn er sie gegen Ende des Kapitels zur Materialherkunft das Wort an die Leser richten liess: «Wisset Leute aus Trapani, dass ich zwar aus Marmor bin, doch eure Tränen rühren mich.»[9] Die Ölgemälde in Mexiko zeigen die Marienfigur genauin diesem Zwischenzustand einer sich verlebendigenden Statue (Abb. 8). Längst nicht jedes Bildnis der Gottesmutter war thaumaturgisch aktiv und so wurden von denjenigen, die sich mit Wundern als wirkungsmächtig erwiesen hatten, Kopien gefertigt in der Hoffnung, dass sich deren Macht auf das Abbild übertrage. In diesem Sinne erstaunt es nicht, dass die Darstellung der sizilianischen Marienstatue in der Biblioteca Palafoxiana in Puebla tatsächlich eines Tages zum Leben erwachte. Juan de Ulloa y Castro berichtete 1690 in einem ordentlichen Prozess, dass er einst Zeuge wurde, wie sich die gemalte Madonnenfigur ,als wäre sie ein Schnitzwerk’ (como si fuese de bulto o talla) aus dem Bild reckte und dem vor ihr betenden Bischof Juan de Palafox zunickte.[10] Auch unter den Alabasterkopien der Madonna di Trapani gibt es einige, die nach dem Verlassen Siziliens wundertätig wurden und daher selbst Verehrung fanden. Auffallend dabei ist, dass diese Kopien allen Herkunftsangaben zum Trotz ihre Verbindung zur Madonnenstatue in Trapani kappten und eine neue Identität annahmen. So ist die Alabasterreplik in der Kathedrale der galizischen Stadt Orense trotz des Wappens von Trapani auf dem Sockel als Virgen La Blanca bekannt (Abb. 9). Und in Marsala – einer Küstenstadt nur wenige Kilometer südlich von Trapani – wird eine kleinformatige Alabasterstatuette, die einige auffällige visuelle und materielle Ähnlichkeiten mit den Repliken der Trapanitana teilt, als Madonna della Cava verehrt (Abb. 10). Ihr Name leitet sich von dem Ort ab, an dem sie der Legende zufolge gefunden wurde: in einem Steinbruch, in dem sie über Jahrhunderte versteckt gewesen sein soll, bis die Mutter Gottes einem Augustinermönch aufgetragen hatte, nach ihrem Abbild zu graben.[11] Dieser Fall veranschaulicht, wie sich eine Kopie nur wenige Kilometer von ihrem Ursprungsort entfernt zu verselbständigen vermochte, indem für die Repliken charakteristische Merkmale, wie etwa Materialität und Format, umgedeutet und zum Ausgangspunkt eines unabhängigen legendären Ursprungs gereichten. Die in den Reproduktionsprozessen eines Kultbildes zur Anwendung kommenden Medien- und Materialtransfers trugen demnach auch massgeblich zur Vervielfältigung von dessen Nutzbarkeit– als Pilgerandenken, Schutzmittel sowie Kultobjekt – bei.
Den Mariengnadenbildern kam im Zeitalter der Konfessionalisierung eine Schlüsselrolle bei der Festigung und Verbreitung des Katholizismus zu, wobei mit Vorliebe auf Kopien verehrter Bildnisse zurückgegriffen wurde, um neue Kultorte in der Neuen wie auch Alten Welt zu etablieren. Die Gnadenbildkopien mit ihrem Potential, neue Kultstätten zu generieren und miteinander zu verbinden, traten dabei als potente Akteure im Erzeugen religiöser, politischer wie auch wirtschaftlicher Verbindungen in der hispanischen Welt auf. Was entstand, war ein Netzwerk aus verwandten und doch unabhängigen wundertätigen Marienbildern und ihren Kultorten, das sich im Falle der Madonna di Trapani über weite Teile des spanischen Königreichs erstreckte.
Nora Guggenbühler ist Doc.CH-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds SNF an der Universität Zürich. Ihr Dissertationsprojekt Maria auf Reisen. Vervielfältigung und Verbreitung marianischer Gnadenbilder in der hispanischen Welt beschäftigt sich mit dem Kopienwesen rund um marianische Gnadenbilder im spanischen Königreich des 16. und 17. Jahrhunderts
[1] Die erste Ausgabe des Atlas Marianus erschien 1657–1659 in Latein und deutscher Übersetzung und enthielt Einträge von 100 Marienbildnissen, die jeweils mit einem Stich dargestellt wurden: Wilhelm Gumppenberg: Marianischer Atlas. Das ist wunderthätige Mariabilder so in aller christlichen Welt mit Wunderzaichen berhuembt. 4 Bde. Ingolstadt/München: Georg Haenlin/Lucas Straub 1657–1659.
Die zweite Ausgabe erschien 1672 in Latein und 1673 in Deutsch und wurde auf 1200 Gnadenbildnisse ergänzt, dieses Mal ohne entsprechende Abbildungen: Wilhelm Gumppenberg: Marianischer Atlaß. Von Anfang und Ursprung Zwölffhundert Wunderthätiger Maria-Bilder. München: Gelder 1673.
[2] Zu Entstehungskontext und Relevanz des Atlas Marianus: Olivier Christin / Fabrice Flückiger / Naïma Ghermani (Hg.): Marie mondialisée. L’Atlas Marianus de Wilhelm Gumppenberg et les topographies sacrées de l’époque moderne. Neuchâtel 2002.
[3] Wilhelm Gumppenberg: Marianischer Atlas, Bd. 2, Georg Haenlin 1657 (wie Anm. 1), S. 167–176.
[4] Maria Concetta di Natale (Hg.): Materiali preziosi della terra e del mare nell’arte trapanese e della Sicilia occidentale tra il XVIII e il XIX secolo. Palermo 2003.
[5] Zum Klosterschatz: Maria Concetta di Natale / Vincenzo Abbate (Hg.): Il Tesoro Nascosto. Gioie e Argenti per la Madonna di Trapani. Palermo 1995.
[6] Heute sind von Auge keine Inschriften sichtbar, was allerdings auch daran liegen könnte, dass die Bemalung der Statue grösstenteils verloren ist. In einer 2003 durchgeführten Oberflächen- und Materialanalyse der Statue wurde der Stein als Carrara-Marmor identifiziert.
[7] Vincenzo Nobile: Il tesoro nascoso discoperto a‘ tempi nostri […]. Palermo: Costanzo, 1698, S. 25–44.
[8] Wilhelm Gumppenberg: Marianischer Atlas, Bd. 1, Georg Haenlin 1657 (wie Anm. 1), An den Leser [o. S.].
[9] Sappiate Trapanesi, che qunantunque io di Marrao [sic] sia, pur tutta dalle vostre lagrime intenerir mi sento. Son’ io di Saffo è vero, ma acconcissima à trasmutar ogni cor di selce in cor di carne. Marmo io sono, ma che al continuo gocciar del e vostre lagrime m’infrango, m’impietosisco. Ah che mi si rompe per compartirvi de[n]tro del petto, il cuore. Marmo son di giel ricolmo, ma per raffreddar il fuoco dell’ira Divina accesa a’ danni vostri. Aus: Vincenzo Nobile: Il tesoro nascoso (wie Anm. 7), S. 31f.
[10] Nelly Sigaut: Los distintos significados de una imagen. Nuestra Señora de Trapana y el obispo Palafox. In: Roberto Domínguez Cáceres / Víctor Gayol (Hg.): El imperio de lo visual. Imágenes, palabra y representación. Zamora/Michoacán 2018, S. 184–186.
[11] Wilhelm Gumppenberg, Marianischer Atlaß, Bd. 3, Gelder 1673 (wie Anm. 1), S. 196f.