Im Anfang da schuoff Gotte
Den himmel vnd die erd
Auch ruowet er on spotte
Ein spyß verbot der werd.
Die schlang verfürt daz wybe
mit sampt dem mann darnach.
Der Cayn bracht von lybe
Sin bruoder Abel trüwe
Die vätter sturben gmach.
(Gn 1,1–5)
Die Strophe entfaltet in äußerster Verknappung das Spektrum von Schöpfungsgeschichte, Sündenfall, Brudermord und Geschlechtsregister von Adam und seinen Kindern bis auf Noahs Geburt (Gn 5,29). Während die ersten beiden Verse den Beginn des ersten Buchs Mose in einer auf Wiedererkennbarkeit angelegten Wörtlichkeit präsentieren (In principio creavit Deus caelum et terram Gn 1,1), komprimieren die folgenden Aussagen die biblischen Zusammenhänge auf die für das Auseinandertreten von Gott und Welt ›programmatischen‹ Momente: Die verbotene Speise (Gn 2,17), zu der die Schlange Eva und Adam verführt (Gn 3,6), als Initiationsmoment des sündhaften Verhaltens, für das Kains Mord an seinem Bruder Abel (Gn 4,8) und das zwar lange, aber letztlich dem Tode geweihte Leben von Adam und seinen Nachkommen (Gn 5) zeichenhaft einstehen.
Was hier als schlichte Epitome von Gn 1–5 erscheint, erinnert an eine Merkversreihe zur katechetischen Unterweisung in der Bibel, ja an die Praxis der Bibelsummarien, die auf eine leichtere Memorierbarkeit und Einprägsamkeit der Heiligen Schrift als eines kulturellen und religiösen Leittextes zielen. Sie setzen auf eine Vertrautheit mit dem zugrundeliegenden Material, das die poetische Kurzform, getragen vom alternierenden Rhythmus und der Kreuzreimstruktur, aktualisiert. Im Kontext der Bibeldichtung und -zusammenfassung handelt es sich dabei durchaus um kein ungewöhnliches Phänomen. Was die Verse besonders macht, ist weniger die Verkürzung ihrer Referenzhorizonte auf ein Minimalmaß an sich, sondern ihre Situierung in einem spezifisch historischen Diskurs, der sich durch eine doppelte mediale Dimension auszeichnet.
Es ist die reformatorische Liedpraxis, die sich in Gesangbüchern als primären Trägermedien der ›neuen‹ Liedproduktion wie -überlieferung seit den 1525er Jahren artikuliert: Die Genesis-Strophe ist Teil eines solchen, gar des ersten ›Bibelgesangbuchs‹, das den gesamten Grundtext des christlichen Glaubens in liedhafter Form bereitstellt. Der Offenbarungscharakter der Hl. Schrift soll sich gerade in der medialen Vermittlung erschließen: durch konzeptuelle Verdichtung einerseits, andererseits durch deren Adaptierbarkeit im Gesang als einer verinnerlichten Form der Glaubenserfahrung und -ausübung.
Joachim Aberlin (gest. nach 1554) setzt also an der konventionellen Technik der Bibel-Epitome an, funktionalisiert sie aber neu im Diskurs um die reformatorische Liedpraxis. Sein ›Bibelgesangbuch‹ bietet gewissermaßen Heilssummen zu den einzelnen biblischen Büchern, die sich zu drei Liedern formieren: 132 Strophen zum Alten Testament, 50 Strophen zu den Psalmen, 45 Strophen zum Neuen Testament. Bemerkenswert ist dabei die Argumentation, mit der Aberlin die Sangbarkeit seines Werkes als einer im Alltag der Gläubigen zu realisierenden Praxis verankert:
Dann ob ainer schon die summ des alten vnd newen Testaments für sich neme zuosingen / so ist sy nit allein nutzlicher vnd weger / sunder auch wol als kurtz vnd ring zuo lernen als der Berner / Ecken außfart / Hertzog ernst / der hürne Sewfrid / auch andere vnnütze / langwirige vnnd haillose lieder vnnd maistergsang (der schandtparen / ehrlosen / vnd vnchristlichen / so ainer oberkait zuouerbieten wol anstuond / geschwigen) […]. (Fol. D iijv–D ivr)
Kürze, Eingängigkeit, Sangbarkeit – das sind die primären Kennzeichen, die die ›Bibel in drei Liedern‹ als eine nutz- und heilbringende Alternative vor weltlichen strophischen Liedern auszeichnen. Zumal solchen, deren teilweise der mittelalterlichen Stofftradition entstammenden Gegenstände in den gedruckten Heldenbüchern in der Frühen Neuzeit kursierten und so weite Verbreitung fanden. Und es sind gerade diese haillose[n] lieder von Dietrich von Bern, dem Riesen Ecke, von Herzog Ernst und dem Hürnen Seyfried, die der strophisch organisierte Bibelgesang als christliches Gegenmodell ersetzen soll.
Nun waren aber die Melodien dieser weltlichen Lieder offenbar beliebt und in aller Munde. Wie können sich vor diesem Hintergrund die drei Bibellieder mit ihren von Aberlin eigens neu geschaffenen Melodien im Feld sozialer Gesangspraxis behaupten? Dafür bietet der Druck der ›Bibel in drei Liedern‹ wiederum eine raffinierte wie naheliegende Strategie: Die neuen Lieder lassen sich ganz einfach auf die tradierten weltlichen Melodien singen – Aberlin nennt zu jedem Bibel-Lied eine Reihe von Referenzliedern, darunter einige weltlichen Ursprungs, die als bekanntere Muster gesanglicher Realisierung für die formgleiche Bibeldichtung dienen können. Dieses Verfahren, das demjenigen der Kontrafaktur nahesteht, soll die prinzipielle Sangbarkeit der Bibel-Lieder durch die Anbindung an verbreitete Liedtypen sichern. Und wie diese als Formen medialer Realisierung aufgrund ihrer großen Reichweite selbstverständlich für neue Zusammenhänge instrumentalisiert werden können, so notwendig intendiert ist die Substitution ihres Gehalts: Erst in dieser doppelten Bewegung von Indienstnahme und Überblendung kann sich die Entfaltung des Heils im Modus des kollektiven Gesangs etablieren. Die ›Bibel in drei Liedern‹ kondensiert als »gereimte Bibelkunde« (Jenny, 1962, S. 170) den kulturellen und religiösen Bildungskanon der ›neuen‹ fides in Christus, den sie im Rückgriff auf mediale Logiken des reformatorischen Gesangs wie zugleich im Akt der Überlagerung weltlicher Gesangstraditionen performativ inszeniert.