Die Gegenwart war schon immer kurz. Und das nicht nur mit Blick auf ihre rein temporale Verfügbarkeit. Vielmehr forciert die Fülle an Informationen, Nachrichten, Neuigkeiten, die tagtäglich, ja geradezu im Minutentakt produziert werden, den Anschein von ›Kurzlebigkeit‹. Denn kaum reicht die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit aus für eine umfangreiche Sichtung, geschweige denn für eine intensive Auseinandersetzung mit den gerade auch in den digitalen Medien präsenten novitätsverdächtigen Beiträgen. Die zunehmend zu beobachtende mediale Mobilität der User:innen wie auch die Möglichkeiten zu digitaler Vernetzung befördern, so scheint es, die Etablierung kommunikativer Kurzformen, die auf die immer knapper werdenden Ressourcen an Zeit und Aufmerksamkeit reagieren.
Daraus erwächst nicht zuletzt ein gewisser Konkurrenzdruck um eine möglichst effiziente Organisation und eine prägnante wie einprägsame Präsentation der Inhalte, um den vermeintlich genauso kurzlebigen wie aktuellen Interessen des anvisierten Publikums entsprechen zu können. Der Trend zu medialer Reduktion gilt sowohl für Kurzformen sozialer Kommunikation als auch besonders für den Bereich der Literatur- und Wissensvermittlung: Seit langem schon existieren handliche Ausgaben, die Werke der Weltliteratur in Kurzfassungen anbieten, in jüngster Zeit komplettiert durch zeitsparende Tutorials, in denen weitläufige und komplexe Inhalte in ansprechenden visuell-auditiven Formaten vermittelt werden. Kürzung erscheint hier als probates Mittel zur Bewältigung einer Stofffülle, das seine kulturellen Implikationen aus einer langen bildungsgeschichtlichen Tradition gewinnt. Insofern reproduzieren diese modernen ›Techniken‹ eine Jahrhunderte alte Praxis, die zu einem integralen Bestandteil der institutionalisierten Kommunikationsformen von der Spätantike bis ins Mittelalter und in die Frühen Neuzeit hinein, aber auch weit darüber hinaus gehört.
Denn kaum ein Verfahren wie das des Kürzens, Verdichtens, Komprimierens von umfangreicherem Material kann eine solche Dominanz auf unterschiedlichen Feldern behaupten, gehört es doch als intermediale (d. h. sprachlich – rhetorisch, poetisch – bzw. bildlich vermittelte) Praxis zum gängigen und vielfach einstudierten Umgang mit tradierten Wissensbeständen. Davon zeugen die zahlreich überlieferten Exzerptsammlungen, Florilegien, Breviarien, die einer Strukturierung und Fixierung des Wissenswerten innerhalb einer als zunehmend unüberschaubar empfundenen copia librorum zuarbeiten. Eine ähnliche Funktion übernehmen auch Kataloge oder kompakte Kompendien als funktional gebundene Orientierungshilfen für die übergeordneten Werke; ferner didaktische Memorierverse (argumenta), die umfangreiche Narrative zum Teil in maximaler Verdichtung zusammenfassen und zugleich zum Abruf verinnerlichter Sinnschichten bereithalten. Kürzung – verstanden als literarisches Verfahren der abbreviatio – dient also in durchaus unterschiedlichen Kontexten dem Ordnen, Klassifizieren und Abstrahieren). Ihr eignet ein Repertoire an konventionalisierten Mustern intermedialer Verdichtung, die nicht nur über schriftliche Formate, sondern gleichermaßen im Bild über die Inkorporierung unterschiedlicher visueller Elemente realisiert werden kann.
Zentral – auch im Hinblick auf aktuelle Tendenzen – ist dabei die Frage nach den Relationen von Quantität und Qualität: Bietet die Reduktionsform auch eine Ver-Kürzung des Grundgelegten? Oder im Gegenteil einen Gewinn an prägnanter Formulierung bzw. einprägsamer visueller Vernetzung? Für den Sektor der geschriebenen Kommunikation jedenfalls kann die Fähigkeit, sich anlassbezogen kurz zu fassen und ausführlichere Inhalte auf ein aussagekräftiges Minimum zu verknappen, durchaus als anspruchsvoll gelten. Denn sie erfordert – entgegen der nächstliegenden Vermutung – aufgrund der Notwendigkeit zu mentaler Strukturierung ein größeres Maß an Zeitaufwand als das rasch, bisweilen allzu erschöpfend Niedergeschriebene. Dass das schnellere Schreiben nicht automatisch einen guten Text garantiere, wusste schon der antike Rhetoriklehrer Quintilian; es sei vielmehr genau umgekehrt: Erst die Übung darin, sich kurz zu fassen, schaffe die Voraussetzung, längere Texte in der angemessenen Geschwindigkeit und akzeptablen Qualität verfassen zu können (Inst. or. X,3,10). Kürzung kann also in diesem Sinne durchaus als ›bessere‹, weil anspruchsvollere Option gelten. Und vielleicht, so wäre zu hoffen, lässt sich ja im aktuellen Trend zu Formen medialer Reduktion ein Reflex dieser zeitenübergreifenden Praxis erkennen.
Beitrag anlässlich der Neuerscheinung:
abbreviatio. Historische Perspektiven auf ein rhetorisch-poetisches Prinzip, hg. von Julia Frick u. Oliver Grütter, Basel/Berlin 2021. https://schwabe.ch/9783796541117/abbreviatio
abstract: Dieser Band versteht das literarische Verfahren der abbreviatio als einen bewussten Vorgang der Reduktion und als eine sinnstiftende Tätigkeit des Verdichtens umfangreicherer Bezugstexte. Er führt interdisziplinäre sowie komparatistische Perspektiven auf das rhetorisch-poetische Prinzip zusammen und arbeitet so über einzelne Textsorten hinausgehende Formen und Funktionen heraus. Anhand der Analyse antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Texte profilieren die Beiträge systematische und historische Aspekte der literarischen Kürzung im Spannungsfeld von Latinität und Volkssprache.
Julia Frick und Oliver Grütter lehren und forschen Ältere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.