Ichdokumente

Projektpräsentationen des Seminars 'Das dokumentierte Ich' der UZH im FS 21

Über uns – der kurs „Ichdokumente“

Herzlich willkommen auf dem Blog des Seminars „Das dokumentierte Ich“. Wir, die Seminargruppe, wollen uns Ihnen hier gerne vorstellen:

Der Kurs „Kulturwissenschaft explorativ: forschendes Lernen“ fand im Frühjahrssemester 2021 statt, er war einsemestrig und wurde online durchgeführt. Es handelt sich dabei um ein BA-Modul am ISEK – Populäre Kulturen der Universität Zürich, das ein doppeltes Lernziel anpeilt: Wie in vielen anderen Kursen auch haben wir eigene Forschungsfragen innerhalb eines gemeinsamen Forschungsfeldes erarbeitet, ein Forschungsdesign konzipiert und hielten unsere Ergebnisse in einer Seminararbeit fest. Damit war es aber noch nicht genug. Vielmehr setzten wir uns auf dieser Basis mit Wissenschaftskommunikation auseinander und bereiteten unsere Ergebnisse für ein anderes, öffentlichkeitswirksames Medium auf: Wir haben je einen eigenen Blogeintrag verfasst – angereichert mit aussagekräftigen Zitaten, Bildern und Links. Angeleitet wurde der Kurs von Dr. Christine Hämmerling, die dabei technisch wie inhaltlich von Annika Thalmann (Tutorat) unterstützt wurde. Wir laden Sie herzlich ein, sich bei uns umzusehen!

Seminargruppe (von oben links nach unten rechts): Magdalena Werner, Christine Hämmerling (Dozentin), Nina Bingham, M.H., Daria Joos, E.T., Flora T., Annika Thalmann (Tutorin), Layla Salomé Kurz und Joël Fend.

„Am Morgen mache ich immer eine Notiz in meinem Bullet Journal, das habe ich schon als Kind gemacht, als ich noch Tagebuch schrieb. Ich schaue kurz nach neuen Tweets, dann sichte ich meinen Kalender: die Steuererklärung kann noch warten! Ich sollte aber nochmal meine digitale Krankenakte konsultieren, meiner Freundin eine Nachricht aufsprechen und dann geht es auch schon zur Ärztin, die meine Anamnese aufnimmt. Am Nachmittag habe ich frei, da kann ich ein bisschen in Reiseblogs schmökern und auf YouTube Vlogs anschauen. Die Wanderung werde ich wohl verschieben müssen, aber wenn ich dann am Wochenende auf dem Gipfel bin, trage ich mich bestimmt ins Gipfelbuch ein, ich muss nur noch überlegen, was ich da schreibe…“

Das Verfassen und Rezipieren von Ich-Erzählungen sind untrennbar mit unseren Alltagen verwoben. Nicht nur Freund:innen und Bekannten geben wir immer wieder Auskunft über uns selbst, über unser Befinden, unsere Pläne, erledigte Arbeiten, Einstellungen und Lebensfragen, sondern auch Institutionen, Behörden und Einrichtungen rufen uns auf, doch etwas über uns zu erzählen. In einer digitalen Welt sind wir zunehmend dazu angehalten, über uns Auskunft zu geben, nicht zuletzt, weil diese Selbstauskünfte sich in Profit umwandeln lassen. Dabei bereitet es vielen Menschen Freude, von sich selbst zu berichten und auch Ich-Erzählungen von Anderen zu verfolgen. Wer oder was diese Auskünfte erhält, sammelt, ordnet und auswertet, ist dabei nicht immer ersichtlich.

Was aus unserem Leben wir in den verschiedenen Dokumenten wie erzählen oder überhaupt erzählen können, hängt nicht zuletzt von der Beschaffenheit des Dokuments ab: Implizit fragen wir uns, welche Form des Selbstausdrucks ist hier eigentlich gewünscht? Wie wollen wir die Möglichkeit zur Selbsterzählung nutzen? Lassen sich die Grenzen des Formats dehnen oder lässt sich der Adressatenkreis erweitern? Wie schafft man es, dass manche unserer Ich-Erzählungen privat bleiben, andere aber publik werden und welche Dokumente eignen sich dazu? Vielfach ist schon vorgegeben, welche Dokumente wie zur Selbstauskunft zu nutzen sind. Oft gibt es stilistische Grenzen, manches hängt an der Materialität des Dokuments, anders an sozialen Normen und Gewohnheiten.

Namen für diese Dokumente der Selbstauskunft gibt es viele: Je nach Zugang werden sie narrativ als Ich-Erzählungen, materiell als Nachlässe, sprachlich oder juristisch als Selbstaussagen, etwas allgemeiner als Selbstausdruck, historisch als autobiografische Quellen, oder aber internationaler als personal documents, human documents, oder als documents of life gefasst. Als besonders relevant hat sich für das Schreiben und Sprechen über sich selbst der Begriff des Ego-Dokuments durchgesetzt – ein Begriff, den der Historiker Winfried Schulze prägte:

„Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagepartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten individuell-menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstellungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.“

Schulze, Winfried (1996): Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „EGO-DOKUMENTE“. In: Schulze, Winfried (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin: Akademie Verlag, S. 11–30.

Ausgehend von dieser Definition von Selbstauskünften haben wir es uns im Seminar „Das dokumentierte Ich“ (in Anlehnung an den gleichnamigen Tagungsband, hg. von Daniela Zetti und Christine Hämmerling 2018) zum Ziel gesetzt, aktuelle Varianten von Ego-Dokumenten zu analysieren und dabei zu prüfen, inwieweit es sich dabei überhaupt um Ego-Dokumente handelt, wenn die Dokumente doch nicht mehr als historische Quellen untersucht werden wie noch bei Schulze, sondern vielmehr ihre Nutzungsweise als Kulturpraxis im Vordergrund steht. Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein heutiger Reiseblog eben nicht genauso zu deuten ist, wie eine Gerichtsakte in der frühen Neuzeit, obwohl beide auf Ich-Erzählungen basieren, haben wir es auch nicht zu unserer Aufgabe gemacht, aus den jeweiligen Dokumenten die Selbstwahrnehmung der darin beschriebenen Subjekte herauszupräparieren und damit zu untersuchen, welche Ichs hinter den Ich-Erzählungen eigentlich stecken. Vielmehr haben wir die Dokumentationsweisen als solche in den Blick genommen, um zu prüfen, wie sich darin überhaupt ein Ich zum Ausdruck bringen kann, welche Grenzen ihm dabei gesteckt sind und welchen Routinen und Grenzen der Selbstausdruck unterliegt.

Die Dokumente, die wir beleuchtet haben, sind sowohl digitalen als auch analogen Ursprungs und äusserst vielfältig. Dennoch haben sie einiges gemein: Auf alle trifft zu, dass darin ein Ich spricht, das über seine Selbstwahrnehmung Auskunft gibt. Diese Auftritte des Ichs haben wir in ihrer jeweiligen materiellen, narrativen und situativen Ausformung sowie im Medienwechsel nachverfolgt. Die analysierten Dokumente reichen in die 1990er Jahre zurück, die meisten sind aber erst in den letzten paaren Jahren entstanden. Wenngleich auch die Praktiken analysiert wurden, die mit der Verwendung eines Dokumentes einhergehen – etwa in autoethnografischen Versuchen –, wurden doch vorwiegend die Ich-Erzählungen und Selbstausdrücke als Literaturen, Medien und Materialitäten untersucht. Abhängig vom Dokument, konnte das untersuchte Ich dabei in pluralen Erscheinungen auftreten. Diese Technizität zu erfassen, war Teil der Analysearbeit. Ein besonderes Augenmerk lag ferner auf den das Dokument umspielenden Diskursen. Es wird auffallen, dass viele der analysierten Ich-Dokumente weibliche Lebenswelten erzählen, digitaler Natur sind und immer wieder auf Self-Care, Selbstoptimierung, Sehnsucht nach der Fremde und Natur zu sprechen kommen. Gleichwohl wird aber auch auf Krisen Bezug genommen, wie es sich etwa mit der Thematisierung von Corona oder dem Zweiten Weltkrieg zeigt.

Die Beiträge im Einzelnen

Der Beitrag «Das Ich unterwegs» von Magdalena Werner befasst sich mit dem Ich von reisenden Frauen in Skandinavien und richtet dabei den Blick auf Reiseblogs, welche in ihrer „Anleitung zur weiblichen Autonomität“ hinterfragt werden.

Aus einem Ego-Dokument können (auch) eine Vielzahl von Ichs sprechen, was in der Gipfelbuch-Analyse «Das Ich auf dem Gipfel» von Daria Joos zum Ausdruck kommt. Sie hat das Quellenmaterial nach Hinweisen auf den Entstehungsraums dieser verschiedenen Ichs hin untersucht.

Der Beitrag «Anne Franks Videotagebuch – Eine authentische Anne in einer digitalen Welt» von Nina Bingham analysiert die Adaption von Anne Franks schriftlichem Tagebuch in das neue Medium des Videotagebuchs und setzt den Fokus dabei auf die Herstellung von Authentizität.

Der Beitrag «YouTube – produktive Sensation» von E.F. befasst sich mit der Selbstdarstellung eines YouTubers Namens Nathaniel Drew zu den Themen Selbstverbesserung und moderne Ästhetik.

Worin die Faszination in Aussteiger-Videos von Auswanderern liegt, hat Joël Fend mit seinem Beitrag «Eine Aussteiger-Biografie auf YouTube» analysiert.

Der Beitrag «#ICHTWEETS – Twitter, Politiker:innen und die Corona-Pandemie» von M.H. befasst sich damit, ob und wie Politiker:innen auf Twitter über sich selbst schreiben und politische Inhalte vermitteln. 

Im Blogbeitrag «Liebes Tagebuch… Misstrauen und Zensur in Tagebucheinträgen junger Schreiberinnen» von Flora T. wird aufgezeigt, wie junge Diaristinnen in ihrem Tagebuch gewisse Dinge verheimlichen und weshalb sie dies tun. 

Im Beitrag «Bullet Journaling – Planung und Organisation individuell gelebt und beschrieben» setzt sich Layla Kurz mit dem Raum auseinander, welcher dem Ich durch den Rahmen dieser Selbstoptimierungspraxis gegeben wird.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen, Sehen und Hören!

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