Ichdokumente

Projektpräsentationen des Seminars 'Das dokumentierte Ich' der UZH im FS 21

Anne Franks Videotagebuch

Eine authentische Anne in einer digitalen Welt

Hier der Trailer zum Tagebuch

Anne bleibt in Erinnerung

Wir befinden uns im Jahre 1947, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ist und verschiedene Zeitzeugnisse von betroffenen jüdischen Personen zu Tage treten. Darunter befindet sich auch das Tagebuch von Anne Frank, welches von ihrem Vater, Otto Frank, unter dem Namen «Das Hinterhaus» veröffentlicht wird. Es wird bald eines der meistgelesenen Tagebücher weltweit sein und als literarisches Werk und übermittelndes Zeitzeugnis wohl nie vergessen gehen. Damit geht Annes Wunsch in Erfüllung; ihre eigene Geschichte zu veröffentlichen und für die Nachwelt durch etwas Bedeutsames in Erinnerung zu bleiben.

«[…] Ich möchte etwas tun, wodurch ich in Erinnerung bleibe. Ich möchte von Bedeutung sein, für alle».

Videotagebuch Anne Frank, 3. Episode

Heute, 74 Jahre später, leben wir in einem digitalen Zeitalter, in dem sich die Frage stellt, ob das papierene Dokument als übermittelndes Medium noch aktuell ist. Durch die Nutzung von digitalen Medien kann eine grössere Anzahl Menschen erreicht werden und so scheint eine Adaption von bedeutenden schriftlichen Dokumenten, wie das Tagebuch von Anne Frank, ein wichtiger Schritt zu sein. Dies dachte sich wohl auch das «Anne Frank House», sprang auf den digitalen Zug auf und veröffentlichte im Frühjahr 2020 Annes Tagebuch in einem Videoformat auf der Onlineplattform YouTube.

Die digitale Anne wie sie sich selbst filmt

Die Analyse von Annes Videotagebuch

In meiner Analyse habe ich mich nun auf genau dieses Videotagebuch fokussiert und bin dabei der Frage nachgegangen, welche Neuerungen sich durch die Adaption von Annes schriftlichem Tagebuch in das Medium des Videotagebuchs ergeben haben. Im Zentrum standen hierbei für mich die Facetten von Anne, die im Video zum Vorschein gebracht werden sowie die Bedeutungen, welche dadurch hervortreten. Um diese Frage zu beantworten, habe ich eine Feinanalyse einer exemplarischen Episode des Videotagebuchs vorgenommen, der dritten Episode mit dem Titel «Mein grosser Traum» (Vgl. YouTube: Anne Frank House, 3. Episode). Dazu eignete sich die Methode der Filmanalyse nach Werner Faulstich (Vgl. Faulstich 2002, 7–149), da sie es erlaubt, die Elemente eines Films in verschiedene Kategorien zu zerlegen und diese vertieft zu untersuchen. Dabei waren für meine Analyse primär die Kategorien Handlung, Dialog und Kamera von Bedeutung.

Die von mir untersuchte Episode Nr. 3

Anne als Kriegsopfer und Filmemacherin mit pädagogischem Wert

Die Ergebnisse meiner Analyse des Videos machen deutlich, dass das Videotagebuch einerseits eine Facette und Bedeutung von Anne hervorhebt, welche auch im schriftlichen Tagebuch von grosser Wichtigkeit ist. So erscheint Anne, hervorgehoben durch Dialoge und audiovisuelle Effekte in den Szenen, wie im Original als Kriegsopfer der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg. Allein diese Facette hebt die pädagogische Bedeutung hervor, welche Anne und ihre Geschichte für die Nachwelt haben, sei dies im schriftlichen oder videobasierten Tagebuch. Das Videotagebuch verleiht dem pädagogischen Wert von Anne lediglich ein neues Gewand, um eine digitalisierte Generation zu erreichen.

Durch die Adaption in das neue Medium des Videotagebuchs tritt andererseits auch eine neue Facette und neue Bedeutung in Erscheinung. So wird Anne nun ganz klar nicht mehr (wie im schriftlichen Tagebuch) als Autorin, sondern als Filmemacherin dargestellt. Als solche möchte sie den Alltag im Versteck des Hinterhauses festhalten und fasst gar den Entschluss, einen echten Film aus ihren Aufnahmen zu kreieren.

Anne ganz authentisch

Eine Bedeutung, welche durch das neue Medium des Videos in Erscheinung tritt und mir bei der Analyse besonders ins Auge fiel, ist die Authentizität. Die Relevanz einer authentischen Darstellung zieht sich durch die Gesamtheit der Analyse, da sie für die Rezeption der Zuschauer: innen von grosser Wichtigkeit ist. Torsten Näser (2008, 4) betont jedoch, dass Authentizität nicht natürlich gegeben ist, sondern hergestellt und suggeriert werden muss. Anne soll also auf eine authentische Art und Weise dargestellt werden, um ihr hervortretendes Ich und ihre Geschichte glaubwürdig erscheinen zu lassen, aber auch um den pädagogischen Wert zu erhalten. Aber wie gelingt eine Herstellung und Suggestion von Authentizität? Näser (2008, 10-12) liefert sogleich die Antwort auf diese Frage und nennt unter anderem die Machart des Videos als eine Strategie zur Herstellung von Authentizität. Durch den Einsatz von audiovisuellen Effekten, vor allem die Benutzung einer Handkamera, wird das Gefühl des unmittelbaren Dabeiseins vermittelt, was für die Suggestion von Authentizität von grosser Bedeutung ist.

Diese Authentifizierungstechniken treten in der analysierten Episode von Annes Videotagebuch deutlich hervor, etwa durch den Einsatz von Schattierungen und der Handkamera. Beispielhaft möchte ich dies anhand der achten Szene der analysierten Episode veranschaulichen:

Ausschnitt aus meiner Analyse

Anne richtet ihre Handkamera abwechselnd auf sich selbst und die anderen Frauen im Raum, während diese Alltagsarbeiten erledigen. Die Aufnahmen von Annes Handkamera sind durchzogen von wackeligen und amateurhaften Bewegungen sowie mehrmaligem Perspektivenwechsel. Es dringt Licht von aussen ein, doch die düsteren Schatten des Verstecks im Hinterhaus sind zu erkennen. Kontrastierend zu diesen Alltagsaufnahmen filmt sich Anne in dieser Szene selbst, wie sie allein in einem düsteren Zimmer sitzt, das Gesicht von Schatten bedeckt. Sie spricht direkt zur Kamera und scheint die Zuschauer:innen dabei direkt anzusprechen. Auch diese Aufnahmen sind geprägt durch die wackeligen Bewegungen von Annes Handkamera. Die Zuschauer:innen bekommen das Gefühl, von Anne persönlich angesprochen zu werden und hautnah dabei zu sein. Anne und ihre Geschichte erscheinen in diesem Video höchst authentisch und damit auch glaubwürdig.


Anne Frank und ihr Tagebuch bleiben durch dieses neue digitale Gewand des Videotagebuchs auf eine «authentische» Art und Weise in Erinnerung. Ihre historische Bedeutung wird in eine digital orientierte Welt hineingetragen und dadurch weiteren Generationen erhalten bleiben. Ganz im Sinne von Annes eigenem Wunsch.

Quellen

  • YouTube: Anne Frank: Videos: 3 Episode, URL Verlag GmbH & Co. KG, 2002 (Abgerufen 07.04.2021).
  • Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG, 2002.
  • Näser, Torsten: Authentizität 2.0 – Kulturanthropologische Überlegungen zur Suche nach «Echtheit» im Videoportal YouTube. In: kommunikation@gesellschaft, Jg. 9, Beitrag 2 (2008), http://www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/B2_2008_Naeser.pdf (Abgerufen 10.04.2021).

Die Autorin dieses Beitrags interessiert sich besonders für geschichtliche Zeitzeugnisse und studiert neben den Populären Kulturen auch noch Erziehungswissenschaften an der UZH.

Nina bingham

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