Ichdokumente

Projektpräsentationen des Seminars 'Das dokumentierte Ich' der UZH im FS 21

Eine Aussteiger-Biografie auf youtube

Analyse einer Ich-Erzählung der Auswandererin Leena Henningsen

„I began to have panic attacks in crowded places.” – “I was afraid of people.”

„A simple life down to earth, together with the animals, touched something deep inside of me.“

Auf der Video-Plattform YouTube haben sich über die Jahre eine Vielzahl von Genres herausgebildet. Auch für Nischen ist dabei Platz. Die YouTuberin Leena Henningsen besetzt so eine Nische. Ihr Account verzeichnet inzwischen rund 111.000 Abonnent:innen. Mit stimmungsvollen Bildern unterlegt, teilt sie ihr schlichtes Leben auf dem Land in Norwegen, was viele Menschen anzusprechen scheint.

Persönlich habe ich dieses Thema ausgewählt, weil ich Ausstieg und ein Leben in schöner, ruhiger Natur interessant finde und den YouTube-Kanal bereits vor dem Seminar über meine Faszination für Norwegen entdeckt habe. Ich sehe ihre Videos also gerne an und habe mich im Seminar dazu entschlossen, zu untersuchen, was diese Faszination ausmacht. Die Fragestellung der Analyse lautete: Welche Funktionen erfüllt die Ich-Erzählung in einem biografischen YouTube-Video zur Thematik Ausstieg in die Natur und wie ist sie narrativ gestaltet? Dies habe ich durch eine Kombination aus Narrationsanalyse nach Silke Meyer und Wolfgang Kraus und Filmanalyse nach Werner Faulstich untersucht.

Ich analysierte dazu die Erzählung derLebens- bzw. Auswanderungsgeschichte der Vlog-Autorin. Im Video „Why I Moved To Norway | My Story“ erzählt Henningsen, weshalb sie aus einer deutschen Stadt in die norwegische Natur ausgewandert ist. Dabei sind im Hintergrund stets Bilder und Videos von ihr sowie von Stadt und Natur zu sehen. Zentral sind Henningsens Erfahrungen in ebendiesem Gegensatz Stadt – Natur.

Flucht aus dem Alltag

Solche Geschichten zum Thema Ausbruch sind aktuell und beliebt: Sascha Bachmann (2016, 13–15) zufolge gibt es viele verschiedene „größere Fluchten“. Oft geht es dabei um Alltagsfluchten, wobei das Entfliehen aus einem städtischen Alltag durch Besuche in der ländlichen Natur häufig vorkommt.  Einige würden diesen Alltag der Zivilisation sogar für den Rest ihres Lebens hinter sich lassen wollen; das gesellschaftliche Interesse für solche Menschen und Geschichten ist gross. 

Die Stadt beschreibt die YouTuberin mit Empfindungen wie Stress, Lärm, Menschenmassen und Depression sehr negativ. Bei der Natur hingegen hebt sie Ruhe, Weite, Einfachheit und Freiheit positiv heraus. Diese Bewertungen werden im Video visuell dargestellt. In Bild 1 ist etwa eine Menschenmasse in der Stadt zu sehen, in Bild 2 weite Natur. Die YouTuberin positioniert sich moralisch klar für ein Leben in der Natur, wo es ihr psychisch nach ihrem Ausstieg deutlich besser geht. Sie äußert sich dabei auch kritisch zu gesellschaftlichen Aspekten wie Leistungsdruck und Normen.

Die Ich-Erzählung der YouTuberin ist chronologisch geordnet und weist eine einleitende Erklärung auf. In Form einer Erfolgsgeschichte führt sie von negativen vergangenen Erlebnissen zu einer positiveren Situation am Ende. Durch diese klare narrative Struktur kann die YouTuberin produktiv mit ihren Erfahrungen umgehen und ihre eigene Identität konstruieren.

Die Ich-Erzählung wird durch die Videos im Hintergrund dargestellt und verstärkt. So sind etwa die Sequenzen von der Natur (Video 3:10-3:27) deutlich langsamer und mit ruhigerer Musik hinterlegt als diejenigen von der Stadt (Video 0:50-1:02). Dasselbe gilt für Henningsens Sprechtempo. Zudem spielen ihr Tonfall und die in der Stadt nahen und in der Natur weiten Kameraperspektiven eine Rolle. Durch Oppositionen wie schnell – langsam und nah – weit wird der Gegensatz Stadt – Natur weiter verstärkt und ihr Ausstieg begründet.

Mit den Videos und den moralischen Positionierungen der YouTuberin wird die Wahrnehmung und Rezeption der Zuschauer*innen beeinflusst und kollektiviert. Die Ich-Erzählung ist dabei eine soziale Handlung in Ausrichtung auf Zuschauer:innen. Diese können in den Kommentaren Bezug auf das Erzählte nehmen, Feedback geben oder ihre eigenen Erfahrungen teilen.

Zusammengefasst dient die Ich-Erzählung zu ihrem Ausstieg der Identitätskonstruktion der YouTuberin mit Selbstpositionierungen im Gegensatz Stadt – Natur. Die Ich-Erzählung ist als soziale Handlung mit darstellenden und verstärkenden Videos auf Zuschauer:innen ausgerichtet.

Quellen

  • Bachmann, Sascha (2016): Flucht vor der Zivilisation. Untersuchung gesellschaftlichen Aussteigens und zwanghafter Selbstverwirklichung. Wiesbaden: Springer VS.
  • Faulstich, Werner (2002): Grundkurs Filmanalyse. München: Willhelm Fink.
  • Kraus, Wolfgang (2000): Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne (2. Aufl.). (Teil von Keupp, Heiner (Hg.): Münchner Studien zur Kultur- und Sozialpsychologie Bd. 8). Herbolzheim: Centaurus, S. 168–184.
  • Meyer, Silke (2014): Was heißt erzählen? Die Narrationsanalyse als hermeneutische Methode der Europäischen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde (= 110. Jg. 2014, H. 2). Waxmann, S. 243-267.

Videoquelle

  • Henningsen, Leena (2020): Why I Moved To Norway | My Story. In: YouTube, URL: https://www.youtube.com/watch?v=MwCrOvRviFY&t=1s.

Joël Fend studiert Populäre Kulturen und Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und ist ein grosser Fan Norwegischer Natur.

Über der autor

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