Ichdokumente

Projektpräsentationen des Seminars 'Das dokumentierte Ich' der UZH im FS 21

Bullet journaling

Planung und Organisation individuell gelebt und beschrieben

Im Rahmen meiner Arbeit habe ich die Praktik des Bullet Journaling untersucht. Neben einem Selbstversuch habe ich Literaturrecherche und Feldforschung betrieben. Da Bullet Journaling ein realtiv neues Phänomen im Feld der Ego-Dokumente ist (ca. seit 2013), war die Literaturrecherche dazu nur mässig ergiebig. Umso mehr Quellen untersuchte ich in der Feldforschung, die ich unter anderem auf Social Media Plattformen wie Instagram und YouTube betrieb. Ich führte ferner einen Selbstversuch durch (autoethnografischer Ansatz), indem ich mir selbst ein Bullet Journal besorgte, mich mitten in die Thematik stürzte und selbst an verschiedenen Methoden innerhalb des Feldes versuchte.

Vorneweg eine kurze Erklärung, was Bullet Journaling eigentlich ist: Bullet Journaling ist eine Methode des Tagebuch-Schreibens, die in den letzten paar Jahren in einzelnen sozialen Gruppen sehr populär geworden ist. Es handelt sich um eine Art des Dokumentierens und Planens des eigenen Lebens, die in einem mit Punkten vorstrukturierten Buch festgehalten wird. Verschiedene Ziele, Bedürfnisse und Projekte lassen sich individuell gestalterisch und organisatorisch festhalten. Bullet Journals zeichnen sich aus durch ihre Individualisierbarkeit und ästhetische Umsetzung.

Während der Methode kaum Grenzen gesetzt sind in ihrem organisatorischen Inhalt, sehen viele Seiten, die online geteilt werden, stilistisch sehr ähnlich aus, was darauf schliessen lässt, dass der ästhetischen Umsetzung strengere Grenzen gesetzt sind, als dem inhaltlichen Daherkommen. Jedoch sind dies – das hat meine Recherche aud Social-Media-Knälen ergeben – keine natürlichen Grenzen, sondern mehr solche, die sich vor allem durch die Online-Community etabliert haben. Das Bullet Journal als solches verlang per se keine spezifische ästhetische Umsetzung und lässt sehr viel Platz für Kreativität. Bezüglich des Aufbaus und der Ordnung sind Bullet Journalisten sehr frei, wie auch in der Wahl ihrer Projekte. Typische Projekte können zum Beispiel Kalender, Essenspläne, Sport-Tracker oder auch Jahres- und Monatsübersichten sein. Dabei wird mit unterschiedlichen Zeithorizonten gearbeitet, wobei eine Tagestaktung sehr oft die Grundlage ist, was typisch für diaristisches Schreiben ist (vgl. Christiane Holm 2008: «Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen»).   

Nun zu meiner eigentlichen Forschung. Diese sollte unter anderem eine Antwort auf die Frage liefern, wie ein Bullet Journal einem Ich einen neuen Rahmen gibt. Ich frage: An welche Strukturen und Formen sind Produzenten:innen gebunden und anhand welcher Kriterien werden Schwerpunkte und Grenzen gesetzt?

Vorzüge das Bullet Journaling

Dies ist insofern interessant, als dass das Bullet Journal eine zuvor nicht vorhandene Kombination der Auslebung von Kreativität zusammen mit Organisation und Planung konstituiert. Zudem bietet die Online-Community eine Austauschmöglichkeit – wie bereits Jakob Tholander und Maria Normark 2020 in ihrem Paper über «Resistance, Imperfection, and Self-Creation in Bullet Journaling» festhielten –, die kaum eine Art von Tagebuch oder Kalender vorher geboten hat. Das Bullet Journal gibt einem Ich einen neuen Rahmen, in dem es in seiner Art und Form extrem viel Flexibilität zulässt, individuell auf spezifische Bedürfnisse eingehen kann und zudem Austausch- und Unterstützungsmöglichkeiten im Netz bietet. Es hat sich dabei herausgestellt, dass das Bullet Journaling zugleich als Versuch der Gewinnung von Agency über eigene Zeitpläne, Daten und Lebensziele zu deuten ist, als auch als weitere das Ich disziplinierende Methode, als ein neuer Weg, am Selbst zu arbeiten – im diskursiven Kontext von Self-Tracking, Self-Care und Produktivität. Bullet Journaling bietet eine Form von Self-Tracking, die individuell gestalt- und umsetzbar ist und auch langfristig Daten sammeln lässt, die unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt wertvoll sein können. Dabei wird die Vergangenheit dokumentiert, das Jetzt organisiert und die Zukunft geplant. Zum Beispiel für Personen mit langfristigen oder chronischen Krankheiten kann ein Bullet Journal ein produktiver Weg sein, Symptome und Krankheitsverläufe zu dokumentieren, wobei diese Daten für die Behandlung zentral werden können.

Ein anderes, verbreitetes Ziel von Bullet Journaling ist die eigene Produktivität und Effizienz zu steigern. Dabei lässt sich Bullet Journaling zur breiteren Achtsamkeitsbewegung dazuzählen, deren Fokus auf einem bewusster gelebten Leben liegt. Bullet Journaling kommt hier zum Zug, indem es eine Möglichkeit bietet, selektiv Lebensinhalte bewusst und gezielt zu dokumentieren, wobei der Prozess des Dokumentierens meditativ sein kann. So kann einerseits Produktivität, wo und wie auch immer diese erzielt werden will, erhöht werden und andererseits eine kreative Beschäftigung zur Entspannung und Erholung in den Alltag integriert werden. Beim Bullet Journaling trifft Subjektivität auf persönliche Dimensionen, somit wird eine Verbindung zwischen dem Ich, den eigenen Informationen und dem gewählten Ausdruck erschaffen.

In den vielen Anleitungsbeiträgen zur Erstellung dieser Ordnungssysteme auf YouTube werden allerdings nur erfolgreiche Bullet Journals dargestellt, sprich, die Journals sind vollständig, ohne Lücken und ästhetisch gestaltet. Mein Selbstversuch hat mir aber gezeigt, dass es in der Realität hingegen sehr viel mehr unvollständige Journals, Abbrüche, Fehler, Lücken und Chaos geben muss, nur werden diese halt nicht gezeigt. Ein Bullet Journal ist ausserdem darauf ausgelegt, vor allem quantitative Daten zu sammeln, während qualitative Daten nur mit Mühe in die Formatierungen eines Bullet Journals gezwängt werden können. Werden tatsächlich qualitative Daten dokumentiert, so wird die Übersichtlichkeit schwierig, die ohnehin schon zu Problemen führen kann. Innerhalb eines Journals können verschiedene Projekte und Zielsetzungen aufgezeichnet werden, in unterschiedlichen Zeithorizonten und mit unterschiedlichen Methoden. Dabei die Übersicht zu behalten, wobei Bullet Journals zwischen 200-400 Seiten haben können, ist nicht immer einfach. Je komplexer und verschiedener die einzelnen Projekte, umso schwieriger ist es, den ganzen Inhalt in eine Ordnung zu bringen, die nachvollziehbar bleibt, auch nachdem das Bullet Journal gefüllt und beendet wurde.

Überblickend lässt sich sagen, dass die Popularität und Attraktivität von Bullet Journaling dennoch stark von der vielseitigen Einsetzbarkeit und grossen Flexibilität in der Umsetzung der Praktik abhängt, wobei auch die grosse Präsenz in Netz nicht zu unterschätzen ist.

Recherche und Selbstversuch

Im Rahmen dieser Forschung habe ich einerseits viele Videos auf YouTube untersucht sowie in einem autoethnografischen Versuch meine eigenen Erfahrungen mit der Praktik gemacht. Während ich mich nicht als besonders fähig bezeichnen würde, was das Bullet Journaling angeht, habe ich dennoch viel über die Methode mitnehmen und lernen können. Mir kam daher die Idee, es vielen jungen Menschen gleich zu tun und ein Video zu produzieren, das sowohl meine Erkenntnisse im Feld, wie auch über das Feld, zusammenfassend beschreibt und schliesslich beschreiben soll, wie der Einstieg in das Feld gelingen kann.

Mein Video enthält einige Ratschläge, die zumindest mir selbst bei meinem Selbstversuch den Einstieg in die Methode erleichtert hätten. Ich hatte damals sehr viele perfekte Bilder im Kopf, hohe Ansprüche an meinen ersten Versuch und nicht wirklich eine Strategie, wie ich meine Ziele mir treu und effizient umsetzen kann. Das Video ist ein gewisser Reality-Check, mindestens mir selbst gegenüber. Und wer weiss, nachdem ich für eine Weile mit dem ganzen Ich-will-ein-perfektes-Bullet-Journal-erstellen abgeschlossen hatte, bin ich einem weiteren Versuch gar nicht mehr so abgeneigt. Vielleicht versuche ich es tatsächlich noch einmal. Mit dem Wissen, dass der Prozess selbst sehr wertvoll ist, mein Bullet Journal nicht denen auf Pinterest entsprechen muss und meine Zeichenkünste völlig ausreichen.

Layla Kurz studiert an der Universität Zürich Populäre Kulturen und Englisch. In ihrer Freizeit lässt sie sich gerne auf neue Schreibformate und -abenteuer ein.

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