Ichdokumente

Projektpräsentationen des Seminars 'Das dokumentierte Ich' der UZH im FS 21

Das ich unterwegs

“To tell you a bit more about myself” – Reiseblogs von jungen Frauen

Seit fast einer Stunde liege ich bäuchlings auf dem Wohnzimmerteppich und stöbere in meinem eigenen Reiseblog, welchen ich im Jahr 2017 für meine dreimonatige Nepalreise geschrieben habe. Wie weit die Gedanken waren, wie persönlich und geöffnet, authentisch, fast blossgestellt. Erst jetzt, nach Abschluss meiner Arbeit mit den Reiseblogs und dem regen Austausch über Ich-Dokumente in der Seminargruppe sickert es zu mir durch: wie viel von mir in diesen vollgepackten Bildschirmseiten steckt…

Reiseblogs haben Autor:innen, die konstant über sich selbst erzählen und über sich selbst nachdenken. Sie sind also selbstreflektierende Ich-Dokumente. Ich habe zur Analyse im Rahmen unseres Kurses drei verschiedene Blogseiten in den Fokus genommen, welche zwei Faktoren gemein haben: Zum einen stammen sie alle von jungen Frauen aus der Schweiz oder Deutschland. Zum anderen sind die Berichte allesamt in Skandinavien (Mittelschweden, finnisch Lappland und die Westfjorde Islands) lokalisiert.

Typisches Bild, welches das Draussen mit Gras, Feld und Himmel enthält (OLYMPUS DIGITAL CAMERA).

Von der eigenen Freude am Reisen und der grossen Leidenschaft für skandinavische Länder herrührend, habe ich folgende Forschungsfragen in die Analyse miteinbezogen: Welche Funktionen erfüllt das Ich in der Reisedokumentation? Mit welchen sprachlichen Mitteln stellt sich die jeweilige Akteurin und Erzählerin in der Sparte „Über mich“ vor? Wie inszeniert sie sich in jenem Beitrag, welcher das Ankommen behandelt?

Daraus ergab sich die schlussendlich zu beantwortende Fragestellung:
Wie wird in persönlichen, von jungen Frauen betreuten Reiseblogs zu Skandinavien eine „Anleitung zum autonomen Ich als Frau“ und eine „Wegleitung zum allein Unterwegssein“ hergestellt?

Reiseblogs sind Speichermedien. Sie bergen Erinnerungen, Ängste und Pläne ihrer Verfasser:innen und dadurch, dass sie online geteilt werden, erlauben sie die öffentliche Teilnahme durch den/die Leser:in. Einträge im Blog selbst gleichen auf den ersten Blick einem Tagebucheintrag. Dadurch wird ein Bezug zur Lebenswelt der Schreibenden aufgedeckt und Zusätze wie Bilder, Kommentare und Angaben über die persönlichen Informationen unterstützen diese Funktion.

Besonders grundlegend ist hierfür die Definition Winfried Schulzes, welche besagt, dass das Ich-Dokument die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen reflektiert. Das Bloggen wird demnach zur freiwilligen Selbstreflektion: Es gründet auf dem Interesse, Wissen und Know-How in einen engeren Bekanntenkreis oder ein breiteres Publikum zu tragen.

Versteht man sämtliche Blogs (jeglicher Art) als Ich-Dokumente nach Schulzes Einweisung (1996), so können auch den von mir untersuchten Seiten „Aussagepartikel“ (28) entnommen werden, welche Auskunft über das Verhältnis der reisenden Frau sowohl zum Reiseland und seinen Bewohner:innen als auch – und dies ist der entscheidende Punkt – zu sich selbst und der eigenen „Herkunft“ entnommen werden.

Reiseblogs haben unterschiedliche Funktionen, drei will ich hier nennen:

Im Blog wird gespeichert, was der/die Autor:in erlebt hat. Er ist zugleich Inspirationsquelle, wie hier für Reisende, welche sich auf einem Blog Tipps holen und gleichzeitig auf das Reisebüro verzichten. Letztendlich beinhaltet der Reiseblog auch unglaublich viel Wissen, welches nicht mit Auswahl und vielen Optionen punktet (siehe Travel Guides), sondern mit einem Versprechen von Authentizität.

Speicherung

Inspiration

Wissens-
transfer

Die von mir analysierten Reiseblogs stellen je eine selbstständige, junge Frau europäischer Herkunft als autonome Reisende dar. Die Ich-Erzählerinnen inszenieren ihr Selbst in der Fremde. Die Autorinnen drücken damit ihre Beständigkeit und Stärke aus, indem sie vorführen, dass sie sich dort zurechtfinden und anpassungsfähig bleiben.

Ich will hier ein Beispiel wiedergeben: aus dem Blog der Deutschen Kathrin, alias „Fräulein Draussen“. Die Reisende begibt sich in die eisig kalte Winterlandschaft Lapplands. Auf ihrem Blog einen Dialog mit einer kleinen, von Eis umschlossenen Fichte unterhält. 

(OLYMPUS DIGITAL CAMERA)

Diese besondere Szene – die Reisende, die sich mit einem Baum vergleicht, hat meine Aufmerksamkeit gewonnen. In einer Mindmap habe ich nachvollzogen, wie sich das Ich der Reisenden mit diesem Bild ihrer Selbst zum Ausdruck bringt:

„Wie hält man das denn bitte aus, kleiner Baum?“, fragt sie auf dem Blog.

“Weißt Du,” würde der kleine Baum sagen, wenn es [sic] nicht gerade unter einen [sic] tiefen Eisschicht stecken würde, “im Prinzip ist es ganz einfach: Du musst Dein eigenes Frostschutzmittel herstellen. Dann wird Dir nicht kalt und Du kannst schlafen und schlafen und vom nächsten Sommer träumen, bis er wieder da ist und das Eis schmilzt und Du mit Deinen immergrünen Nadeln das Licht aufsaugen kannst.”

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Fräulein Draussen pointiert mit diesem Beitrag sehr deutlich jenen Aspekt, welchen meine Arbeit umkreist, und der hier doch leider nur angerissen werden kann: den der allein reisenden, jungen  Frau. Mithilfe einer Momentaufnahme und eines Fotos stellt sie einen Bezug her, in welchem die Situation, in der sich ein vereister Baum befindet, der ihren entspricht, so dass sie sich den Baum zum Gegenüber macht und Parallelen sieht.

„Schon immer war ich fasziniert von solchen Lebewesen. Von Lebewesen, die unter widrigsten Bedingungen (über)leben. Die mit wenig Wasser, großer Hitze, Waldbränden oder eben – wie im Falle meiner kleinen, krummen Helden da draußen – mit wenig Sonnenlicht, viel Kälte und noch mehr Schnee. Wir befinden uns hier immerhin im Syöte Nationalpark im Winter, irgendwo mitten in Finnland und kurz unter dem Polarkreis.“

Hier und im obenstehenden Zitat wird sehr schön sichtbar, wie sowohl ihr Durchhaltevermögen in Extremzonen anhand einer Momentaufnahme illustriert wird als auch das Solo-Abenteuer ins Zentrum rückt. Die Situation des vereisten Baumes wird dabei der ihren nachgestellt – und kann als Parallele interpretiert werden. Ferner arbeitet die Autorin mit der Selbstbezeichnung „Fräulein“, einer heute unüblichen Anrede von ledigen oder jungen Frauen. Diese spezifische Vergeschlechtlichung der Autorin ist mit der Darstellung von Resistenz, Ausdauer und Stärke eines „kleinen“ Wesens (Fräulein/Baum) in Verbindung zu setzen.

Der Reiseblog schafft hier die Möglichkeit zur Selbstinszenierung einer jungen Frau im Format der Ich-Dokumentation für eine Öffentlichkeit und stellt eine komplexe Kommunikationsform dar.

Bloggen heisst Geschichten erzählen. Durch die Storytelling-Methode wird eine Verbindung zum Publikum hergestellt, wobei sich die Art und die Intimität dieser Verbindung unterscheidet. Gemeinsam haben die von mir untersuchten Reiseblogs die fast soziale, alltägliche Konversationstechnik, welche sich vom sehr freien Schreibstil über die ästhetische, ordentliche Präsentation zu einer akademisch-professionellen Art erstrecken.

Quellen

  • Abb. 1 (Front Page): Fräulein Draussen: https://fraeulein-draussen.de/bikepacking-skandinavien-erfahrungsbericht/ (Abgerufen am 15.5.2021).
  • Abb. 2: Fräulein Draussen: https://fraeulein-draussen.de/radfahren-in-schweden-tipps/ (Abgerufen am 15.5.2021).
  • Zitate, Abb. 3 und Abb. 5: Fräulein Draussen: https://fraeulein-draussen.de/syoete-nationalpark-winter/ (Abgerufen am 15.5.2021).

Siehe auch:
Heckmann, Kathrin: Fräulein Draußen. Wie ich unterwegs das Große in den kleinen Dingen fand. Berlin: Ullstein Buchverlage, 2020.

Ich reise viel und oft, vorzugsweise nach Skandinavien und am liebsten allein. In diesem Projekt konnte ich meinen eigenen Interessen und Leidenschaften folgen und fasziniert in die Welten dreier Lebensgenossinnen tauchen.

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