Von Alexander Winkler
Haben die reformierten Theologen die in der frühen Neuzeit weit verbreitete Praxis des Segnens weiterhin erlaubt oder neuerdings verboten? «Beides», lautet die auf den ersten Blick widersprüchliche Antwort. Zu erläutern, worin dieser scheinbare Widerspruch besteht und wie er sich durch eine genaue Betrachtung der reformierten Auffassung über Sprache und Gott erklären lässt, ist das Ziel dieses Beitrags. Dabei stehen Traktate von Heinrich Bullinger und Rudolf Gwerb im Zentrum. Es wird sich zeigen, dass sie der Sprache keine immanente Kraft einräumten und Segen abhängig davon, mit welcher Erwartung sie geäussert wurden, entweder verboten oder erlaubten.
Die theologischen Reflexionen der Reformatoren waren mehr als bloss ein Kampf um die richtige Auslegung der Bibel. Sie zogen nämlich konkrete Forderungen nach einer angepassten, religiösen Praxis der breiten Bevölkerung nach sich, beispielsweise im weit verbreiteten Brauch des Segnens. Im Verlauf des Mittelalters entwickelte sich ein vielfältiges Segenswesen, in dem neben Menschen vermehrt auch Tiere und Gegenstände gesegnet wurden.1 Dabei bildete sich das Verständnis, dass ein Segen allein durch den Akt des Segnens die dabei genannte Wirkung erziele, er also automatisch – ex opere operata – wirke.2 Gegen dieses Segenswesen wandten sich die reformierten Theologen. Dabei nahmen sie jedoch eine auf den ersten Blick widersprüchliche Position ein. So schreibt der Reformator und Nachfolger Zwinglis in Zürich Heinrich Bullinger (1504–1575)3 im Jahr 1571 in seinem Traktat zu den schwarzen Künsten:
«[…] da man aber bestimpte wort, frömbde und barbarische wort gebrucht, krüzle machet und malet, character gebrucht und dan dem gesprochnen sägen oder worten und characteren zuogibt, dz umb iren willen gesundhyt gäben werde, dz ist abgöttery und tüfelswerk.»4
Bullinger behauptet also, das Segnen sei teuflisch, weil man glaube, dass dabei durch eine Kraft der Sprache etwas geschehe. Gleichzeitig schreibt er aber auch:
«Doch ist nütt alles sägnen böss und verbotten, dan gott in sim gsaz geirdnet hat, dz die priester gmeinlich und offenlich diesen sägen über dz volk sottend sprächen […]».5
Wie ist es also möglich, dass einige Segen erlaubt waren, andere hingegen verboten? Und besass die Sprache in den Augen der Reformatoren nun eine Kraft und konnte dadurch etwas bewirken – oder etwa doch nicht?
In Rudolf Gwerbs (1597–1675) Bericht von dem abergläübigen und verbottnen Leüth und Vych besägnen und etlich dergleichen zauber-künstlein aus dem Jahr 1646 findet sich eine umfangreiche und klare Antwort auf die Frage nach der Kraft der Sprache. Über Gwerb selbst ist nicht viel bekannt, ausser dass er als Pfarrer an der Kirche in Meilen tätig6 und sehr um das Seelenheil seiner Pfarrkinder besorgt war.7 Die Tatsache, dass er sein Traktat 75 Jahre nach Bullingers druckte, zeigt, wie stark die ländliche Bevölkerung auch im 17. Jahrhundert an jenen religiösen Gewohnheiten festhielt, die von der reformierten Obrigkeit verboten wurden. Dies dürfte Gwerb veranlasst haben, ein weiteres Traktat für sich und seine um das Heil der Bevölkerung besorgten Berufskollegen zu verfassen. Auch er war der Auffassung, es gäbe verschiedene Arten von Segen, von denen die einen gut und erlaubt, die anderen jedoch teuflisch und verboten seien.8 Sein Bericht behandelt allerdings fast ausschliesslich die verbotenen Segenspraktiken.
Gegen Ende seines Traktats wendet Gwerb sich der Frage zu, ob Worte, Buchstaben und andere Zeichen und damit Segenssprüche eine eigene Wirkung und Kraft hätten.9 Seine Antwort fällt deutlich aus:
«So ist zwüssen / dass obgleichwol die red ist / die wort des Menschen ein natürlich ding sind / so haben sie doch für sich selbs / und auss eigner natur keinen verstand und bedeutung / sonder nur auss geüssem pact under den Menschen / oder von den Menschen gemachet.»10
Als Begründung folgt, dass nur so die grossen Unterschiede zwischen den Sprachen, die ohnehin nur aus der Notwendigkeit des Zusammenlebens genutzt werden, erklärt werden können. Mit anderen Worten: Sprache sei bloss eine Konvention und diene der Kommunikation, könne aber selbst keine materiale Wirkung in der Welt erzielen. Lakonisch fasst er zusammen: «[…] ein stummer Mensch / oder stumer Hund / der nichts hört und nichts versteht / wird sich ab worten nicht bewegen lassen.»11 Dennoch bestreitet Gwerb nicht, dass Segen eine Wirkung entfalten können. Doch sei dies der Fall, dann handle es sich gewiss um Teufelswerk:
«Derhalben bleibt es bey dem / wie schon angedeütet / wen etwas auss dem gebrauch und sprächen / so barbarischer und unbekanter Worten und Sägen erfolget / und verricht wirt / dass es von einem grösseren und höhern gewalt / und mit nammen von dem Teüfel harkommen müsse.»12
Viele der verbreiteten Sprüche enthielten unverständliche Worte, so Gwerb. Diese stammten aus vorchristlicher Zeit, als mit Hilfe solcher Worte die Leute mit ihren Göttern und Geistern einen Bund geschlossen hätten. Aufgrund dieses Bundes wirkten die Sprüche auch gegenwärtig noch – nur seien diese Geister eben allesamt böse und teuflisch.13 Wer also diese Sprüche noch heute verwende, käme mit dem Teufel in Kontakt. Dieser sei dabei so vermessen, dass er den Menschen weitere Sprüche beibringe, die teilweise sogar Bibelzitate oder die Anrufung der heiligen Trinität beinhalten würden. Deshalb würden auch vermeintlich gute Sprüche oft auf teuflische Weise verwendet werden.14
Gemäss Gwerb besitzen Worte also keine immanente Kraft und eine Wirkung entfalten sie erst, wenn Menschen untereinander oder mit übernatürlichen Wesen einen entsprechenden Pakt geschlossen haben. Dies allein kann den Unterschied zwischen guten und bösen Segen jedoch noch nicht erklären. Denn die Annahme, einige wenige, der Bibel entnommene Segenssprüche seien gut, weil sie den geheiligten Worten Gottes gleichkämen, während alle anderen teuflisch seien, widerlegt Gwerb gerade, indem er behauptet, dass der Teufel für seinen Pakt mit den Menschen auch Worte aus der Bibel verwende. Der Unterschied kann daher nicht in der Form oder dem Inhalt der Segenssprüche liegen. Für die Unterscheidung zentral war denn auch ein anderer Punkt, der in der reformierten Auffassung über Gott wurzelt. Reformierte Gelehrte wie Gwerb oder Bullinger betrachteten Gott als den absolut souveränen Walter über die Welt.15 Er tut und lässt jederzeit genau das, was ihm gefällt. Aus dieser Auffassung folgt, dass Gott nie einen Pakt mit den Menschen schliessen würde, an den er sich dann stets halten müsste – auch nicht einen Pakt über eine notwendige Wirkung von Worten. Worte können aus diesem Grund lediglich als Bitte mit gleichzeitiger Lobpreisung an Gott gerichtet werden. Dieser entscheidet jeweils selbst, ob er die Bitte gewähren will oder nicht.
In dieser Haltung unterscheiden sich nach Auffassung der reformierten Theologen denn auch gute von schlechten Segen: Während gute Segen als demütige Bitte an Gott gerichtet werden, werden schlechte Segen mit der Annahme geäussert, dass durch das Segnen alleine bereits die Wirkung eintrete.16 Diese Annahme unterstellten die Reformatoren ihren Pfarrkindern – und dies wohl nicht ganz zu Unrecht. Denn Gwerbs Argumentation richtete sich, wie er selbst klar macht, nicht lediglich gegen Segenssprüche, sondern ebenso gegen verwandte Formen des Schutzzaubers, wie beispielsweise Amulette,17 also Gegenstände, auf denen Worte oder Zeichen geschrieben oder geritzt waren und die bei sich mitgetragen wurden.18 Von solchen Amuletten konnten die Leute wohl kaum behaupten, sie seien als lobende Bitte an Gott zu verstehen. Vielmehr war damit die Vorstellung verbunden, dass die Anwesenheit solcher Gegenstände automatisch die erhoffte Hilfe von Gott herbeiführt.19 Diese Haltung war in den Augen der reformierten Theologen jedoch verderblich, denn sie basierte auf einer falschen Vorstellung von Gott und führte deshalb nicht zu göttlicher, sondern allenfalls zu teuflischer Wirkung.
Weder Bullinger noch Gwerb waren der Auffassung, die Sprache besässe eine immanente Kraft. Trotzdem hielten sie daran fest, dass das Segnen wirksam sein konnte und dass es sowohl gute, erlaubte als auch böse, verbotene Segenssprüche gab. Der Unterschied bestand jedoch nicht in der Form des Spruchs oder der Heiligkeit gewisser Worte, sondern in der Erwartungshaltung: Ein guter Segen musste als fromme Bitte an Gott geäussert werden, im Wissen darum, dass dieser die Bitte nur gewährte, wenn es ihm gefiel. Wer hingegen einen Segen mit der Erwartung sprach, dass allein durch den Sprechakt etwas in der Welt bewirkt werde, der oder die setzte die Hoffnung wissentlich oder nicht auf den Teufel.
- Vgl. Spehr, Christopher: Segenspraxis und Segenstheologie in der Christentumsgeschichte, in: Martin Leuenberger (Hg.): Segen, Tübingen 2015, S. 135–164 (UTB 4429), hier: S. 144–147. [↩]
- Vgl. Scribner, Robert W.: The Reformation, Popular Magic, and the “Disenchantment of the World”, in: Journal of Interdisciplinary History 23:3, 1993, S. 475–494, hier: S. 479f. [↩]
- Vgl. Bächtold, Hans Ulrich: Heinrich Bullinger, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 2011. Hier verfügbar [Stand 02.06.2020]. [↩]
- Bullinger, Heinrich: Wider die schwarzen Künste, in: Rainer Henrich (Hg.): Heinrich Bullinger: Wider die schwarzen Künste (1571), 2009. Hier verfügbar [Stand: 06.05.2020]. [↩]
- Ebd. [↩]
- Gwerb, Rudolf: Bericht von dem abergläübigen und verbottnen Leüth und Vych besägnen und etlich dergleichen zauber-künstlein, Zürich 1646, Titelblatt. Hier verfügbar [Stand: 06.05.2020]. [↩]
- Vgl. Scribner, Robert W.: Magie und die Entstehung einer protestantischen Volkskultur, in: Lyndal Roper (Hg.): Religion und Kultur in Deutschland. 1400–1800, Göttingen 2002, S. 353–377, hier: S. 353. [↩]
- Vgl. Gwerb: Bericht, S. 28. [↩]
- Vgl. ebd., S. 233. [↩]
- Ebd., S. 237. [↩]
- Ebd., S. 238. [↩]
- Ebd., S. 242 [↩]
- Vgl. ebd., S. 239–241. [↩]
- Vgl. ebd., S. 242f. [↩]
- Vgl. Scribner: Reformation, S. 428. [↩]
- Zu dieser Unterscheidung zwischen einer instrumentellen und einer kommunikativen Auffassung von Sprache vgl. Clark, Stuart: Thinking with Demons. The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe, Oxford 1997, S. 282f. [↩]
- Vgl. Gwerb, Bericht, S. 233; 246–248. [↩]
- Vgl. Jacoby, A.: Amulett, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 1, 1927, Sp. 374–384 (Handwörterbücher zur deutschen Volkskunde), hier bes. Sp. 275f. [↩]
- Vgl. auch Scribner: Magie, S. 268f. [↩]