Der Junge Stalin – Bandit und Sozialrevolutionär

Stalin gehörte zu den markantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. So verwundert es nicht, dass mittlerweile eine Vielzahl an Werken sein Leben thematisieren. Vor allem die Ära des Kalten Krieges liess die Produktion steigen. Oft politisch verfärbt und tendenziös, behandelten die Biografien vorwiegend Stalins Leben an der Macht. Zu solchen Werken gesellten sich auch Abhandlungen, die von Stalin selbst in Auftrag gegeben wurden, oder die – nicht weniger prätentiös – sein im Exil lebender Erzrivale Trotzki verfasste. Die frühen Jahre des späteren sowjetischen Diktators erfuhren zwar häufig Erwähnung in den Büchern; die Forscher legten aber einen weit grösseren Fokus auf die Herrschaftszeit als auf den jungen Priesteranwärter. Doch eben jene Jahre scheinen wichtig zu sein, um das Phänomen Stalin bzw. den Stalinismus zu ergründen. Was bewegte und prägte den späteren „Oberpriester des Marxismus“, der zu einem uneingeschränkt herrschenden Tyrannen werden sollte und Millionen Opfer zu verschulden hatte?

Simon Sebag Montefiore liefert in seinem Werk «Der junge Stalin» viele Antworten und Erkenntnisse zum Verständnis der Person Stalin. Montefiores Werk dient dabei als Prequel zu seinem grandiosen Werk «Am Hof des roten Zaren». Auf der Grundlage sorgfältiger Archivarbeit skizziert der Autor umfassend das Leben des jungen Stalin und versucht mit den Mythen, die sich um Stalin rankten – teilweise auch von ihm selbst in die Welt gesetzt – zu brechen. Im Folgenden werden einige Episoden aus Montefiores Werk zu Stalins frühen Jahren wiedergegeben. Sie sollen helfen, das Phänomen Stalin zu begreifen.

Stalin der Chorknabe und Strassenjunge

Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili wurde am 18. Dezember 1878 in Gori (Georgien) geboren. Das offizielle Geburtsdatum sollte später von ihm um ein Jahr nach hinten gelegt werden. Die vorherrschende Gewaltkultur auf den Strassen und zu Hause unter seinem trinkenden und gewalttätigen Vater prägten den Jungen von Beginn an. Bereits früh zeichnete er sich durch sein Charisma und seine Intelligenz aus und wurde an einer Kirchenschule aufgenommen, obwohl diese ihm als Sohn eines Schuhmachers nicht offen gestanden hätte. Die Hintergründe scheinen unklar. In der Schule stach er als guter Schüler mit einem Gespür für die Dichtkunst hervor. Seine georgischen Gedichte waren gar einem breiteren Publikum bekannt. Auch später schätzte der Diktator künstlerische Begabung und stand in Kontakt mit einigen russischen Genies, wobei dies nicht automatisch Schutz vor Verfolgung bedeutete. Auch als Chorknabe scheute Dschugaschwili nicht vor Schlägereien auf der Strasse zurück, wo er schon bald mit zwielichtigen Gestalten zu tun hatte.
Als Jugendlicher trat er als Priesteranwärter einem theologischen Seminar bei. In dieser Zeit kam er erstmals in Kontakt mit marxistischem Gedankengut, das sein Interesse weckte. Wegen seiner aufmüpfigen Art und wegen des Studiums verbotener kommunistischer Literatur geriet Dschugaschwili immer öfter in Konflikt mit den Inspektoren des Seminars, die ihn mit Argusaugen überwachten. Dieses Umfeld der Überwachung, Bespitzelung und der Eingriffe in die Privatsphäre könnten bereits den Keim für ein Gefühl der Verfolgung und Unsicherheit gesät haben, das für den späteren Diktator so typisch war. 1898 schloss er sich dann der noch einheitlichen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) an und verliess bald desinteressiert das Priesterseminar. Die Partei sollte sich dann 1903 in zwei Flügel – Bolschewiki und Menschewiki – aufspalten.

Revolutionäres Banditentum – Verfolgung, Verrat und Verbannung

Dschugaschwili intensivierte seine Tätigkeit als Revolutionär; er betrieb Druckerpressen, agitierte in den Fabriken und organisierte Streiks. Schnell machte er sich in diesem Gefilde einen Namen, der auch der zarischen Geheimpolizei Ochrana nicht verborgen blieb, so dass er in den Untergrund abtauchen musste. Ein Dasein als Sozialrevolutionär brachte die Notwendigkeit mit sich, unter einem Decknamen aufzutreten. Dschugaschwili hatte eine Unmenge an Pseudonymen. Bereits seine Gedichte wurden unter dem Namen Sosselo veröffentlicht, während er von seinen Genossen häufig als Sosso oder Koba – in Anlehnung an einen georgischen Räuberhelden – gerufen wurde. Den Namen Stalin (später als «Mann aus Stahl» gedeutet) benutzte er erstmals 1910, wobei der Ursprung des Namens nicht ganz geklärt ist. Wahrscheinlich nahm Dschugaschwili den abgeänderten Namen seiner damaligen Mitstreiterin und Geliebten Ljudmila Stal an.
Schon früh radikalisierte er sich und grenzte sich von gemässigten Mitstreitern (Menschewiki) ab, die er als unfähig für die revolutionäre Sache erachtete. Selbst bewegte er sich mehr auf der Linie der Bolschewiki. Intrigen und Hetzkampagnen gehörten von Anfang an zu seinem Repertoire, das er später zur Perfektion brachte. Auch seine Handlungen nahmen extremistischere Formen an, und er schreckte vor Auftragsmorden nicht zurück. Stalin umgab sich ohnehin lieber mit Banditen und Mördern, die er für seinen Kampf zu instrumentalisieren wusste und die seine Geringschätzung von Regeln teilten. Dies traf auch auf die spätere Sowjetunion zu, wo sich vor allem innerhalb der Geheimpolizei die schrecklichsten Psychopaten sammelten. Entführungen, Schutzgelderpressungen, Raubüberfälle bis hin zur Piraterie füllten die Kassen der Revolutionäre. Dschugaschwilis grösster Coup, der international Beachtung fand und mehrere Opfer forderte, stellte der Überfall 1907 auf einen Geldtransport der russischen Staatsbank in Tiflis dar.

Stalins Verbrecherkartei von 1911; wikimedia.commons.

Aber auch politische Erfolge stellten sich ein. Beispielsweise konnte Dschugaschwili in Batumi durch Streiks die Rothschilds, die wie die Familie Nobel zu den Ölmagnaten und wichtigsten Investoren im Kaukasus zählten, zu höheren Löhnen zwingen. Schnell erstreckte sich sein Wirkungsradius über den ganzen südlichen Kaukasus. Doch die Ochrana ihrerseits blieb nicht untätig und nahm ihn vollends ins Visier. Dazu stützte sie sich auf ein Netzwerk an Spitzeln und Doppelagenten, die im Laufe der Zeit die sozialistischen Organisationen infiltrierten und damit eine «kannibalistische Hysterie des Argwohns und des Verfolgungswahns» hervorriefen. Stalin verinnerlichte diesen Argwohn ganz besonders, wie sich in den 1930er- Jahren im Zuge des Grossen Terrors in grausamer Art und Weise offenbaren sollte. Doch bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts führte das zu einer Inquisition innerhalb der kaukasischen Partei, in deren Rahmen vermeintliche Verräter ermordet wurden. Der Ochrana gelang es also, die Revolutionäre innerlich durch Paranoia zu schwächen und ihre wichtigen Exponenten dank den Spitzeln konsequent zu verfolgen. So folgte 1902 Dschugaschwilis erste Verhaftung – viele weitere sollten folgen.
In Anbetracht des terroristisch-revolutionären Wirkens erschienen die Strafen äusserst milde; sie wurden vom Innenminister direkt ausgesprochen. Hinrichtungen sowie Katorga (Zwangsarbeit) waren seltene Urteile, viel eher wurde die administrative Verbannung nach Sibirien angeordnet, wobei die Etap, der Weg dorthin, das grössere Übel war. Einmal am Verbannungsort angelangt, erging es den Revolutionären abgesehen von Monotonie und der Langweile nicht schlecht, sie genossen weitgehende Freiheiten und trafen oftmals auf andere verurteilte Gesinnungsgenossen. Darüber hinaus waren sie auch keineswegs abgeschottet von der Aussenwelt und erhielten Geld vom Zaren für ihre Unterbringung. Auch muss erwähnt werden, dass die verbannten Intellektuellen ein wichtiger Faktor hinsichtlich der Bildung der ansässigen Bevölkerung waren. Erst in der Sowjetunion sollte eine grundlegende Bildung der Gesamtbevölkerung erfolgen und die soziale Chancengleichheit vorläufig vorantreiben.
Es erstaunt nicht, dass diese lasche Praxis der Verbannung die Flucht begünstigte. Mit dem nötigen Kleingeld für die Reise und für die Bestechung von Beamten war es leicht zu verschwinden. Stalin zeigte sich belustigt über dieses durchlässige Verbannungssystem, und sein späteres, lebensfeindliches Lagernetzwerk (Gulag) sollte damit in keiner Weise vergleichbar sein.
Bald trat Stalin also im Kaukasus wieder in Erscheinung und nahm seine gewohnte räuberisch-revolutionäre Tätigkeit erneut auf. Die nächsten Verhaftungen und abermaligen Fluchten liessen seinen Tatendrang nicht versiegen. So nahm auch bald der im Exil lebende Lenin Notiz vom georgischen Revolutionär.

Stalin (hinten mit schwarzem Filzhut) in der Verbannung, links neben ihm steht Kamenew (1915); russianphoto.ru.

Lenin und Stalins politische Karriere

Lenin gehörte bereits zur russisch-sozialistischen Elite, als sich Dschugaschwili erst mit der Ideologie zu beschäftigen begann. Stalin kannte Lenins Schriften schon früh und hatte Hochachtung vor dem «Bergadler», wie er ihn nannte. Im Revolutionsjahr 1905 trafen die beiden erste Mal aufeinander. Eine wichtige Zwischenstation in Stalins Karriere als Revolutionär war seine Entsendung als Vertreter der kaukasischen Bolschewiki an den Parteitag in Finnland. Hier erlebte er hautnah die politischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln – den Bolschewiki und den Menschewiki – und traf sich mit seinem ideologischen Idol Lenin. Stalin zeigte sich aber enttäuscht über dessen Erscheinung. In Erwartung einer grossen, autoritären Gestalt fand er einen kleinen, gewöhnlichen und pragmatischen Revolutionär vor, der sich «durch nichts von anderen unterschied». Entgegen dieser überspitzen Formulierung und der Tatsache, dass sich Stalin bereits bei ihrer ersten gemeinsamen Konferenz gegen Lenin stellte, genoss dieser weiterhin Stalins Hochachtung. Stalin initiierte später einen Leninkult, der bald auch für seine eigene Person Anwendung fand. Lenin seinerseits schätzte Stalin als umtriebigen Devisenbeschaffer und sollte auf seine Dienste bis zu seinem Tod angewiesen bleiben. Vor allem als sich die Menschewiki durchrangen, Überfälle als Finanzierungsmittel zu verbieten, stellte sich Lenin hinter Stalin und hielt diesen an, inoffiziell weiter zu operieren.
In politischer Hinsicht harmonierte das Duo im Verlaufe der Zeit nicht immer. Stalin stand des Öfteren in Opposition zu Lenin und zeigte sich häufig kompromissbereiter. Beispielsweise schlug Lenin auf einem späteren Parteitag die Verstaatlichung des Bodens vor, während Stalin den Bauern eigenes Land zugestehen wollte. Mit seiner Hilfe konnten die Menschewiki schliesslich Lenin überstimmen. Ironischerweise sollte Stalin zu Beginn der 1930er-Jahre Lenins Wunsch mit seiner rücksichtslosen Kollektivierungspolitik in die Tat umsetzen.

Mitglieder des ZK während dem Prager Parteitag von 1912 (sehr wahrscheinlich handelt es sich um eine spätere Fotomontage, um Stalin prominenter erscheinen zu lassen); russianphoto.ru.

Dschugaschwili/Stalin erlebte privat verschiedene Rückschläge: Seine Frau Jekaterina (Kato) Swanidse starb 1907 und hinterliess ihm einen Sohn Jakow. Trotz der persönlichen Krisen wurde Stalin dank seinem Organisationstalent zu einem führenden Bolschewiken im Zarenreich und leitete 1912 deren russisches Büro, während sich die Führungsriege im Ausland aufhielt. Politisch machte sich Stalin vor allem mit seinem Essay zur Nationalitätenfrage – veranlasst von Lenin – einen Namen. Mit dessen Veröffentlichung 1913 zementierte Dschugaschwili sein Pseudonym «Stalin», das er zuvor nur selten verwendet hatte, das von nun an aber sein Leben lang an ihm haften blieb.
Im gleichen Jahr wurde Stalin erneut verhaftet und in eine weit abgelegene Region in Ostsibirien verbannt. Erst 1917 verliess er diese Gegend Richtung Petrograd Petrograd, wo er kurz nach der Februarrevolution 1917 eintraf.

Stalin im Revolutionsjahr 1917

Nach dem Sturz des Zaren stellte sich unter der Provisorischen Regierung (Parallele Doppelregierung) ein politisches Tauwetter ein, das führende Sozialisten zurück nach Russland zog. Lenin traf kurz nach Stalin in Petrograd ein, Trotzkis Ankunft folgte sogleich. Im April wurde Stalin ins Zentralkommitee der Bolschewiki  gewählt und zu einem Teil des Entscheidungsgremiums, aus dem sich dann das Politbüro entwickelte. Darüber hinaus war Stalin zuständig für das Druckwesen und die Herausgabe von Parteizeitungen. Im Gegensatz zu Lenin und Trotzki war Stalin jedoch ausserhalb der Revolutionären Bewegung weitgehend unbekannt, da er sich besser darauf verstand, im Untergrund zu operieren, und weniger als Theoretiker auffiel.
Während Lenin die Gunst der Stunde nutzen wollte, um die Provisorische Regierung zu stürzen, verlangte Stalin, nur politischen Druck auf diese auszuüben. Nach einem missglückten und eher spontanen Putschversuch im Sommer 1917 wurden die Bolschewiki von der Provisorischen Regierung verfolgt und in den Untergrund gedrängt, wo sich Stalin wieder in seinem Element befand und zum engsten Vertrauten Lenins wurde.

Aufgrund der politischen Wirren und des Unwillens der russischen Regierung, den Krieg mit Deutschland zu beenden, genossen die Bolschewiki unter den Arbeitern Petrograds und den Matrosen von Kronstadt grosse Sympathien. Die Option eines Umsturzes stand weiterhin im Raum, und Lenin bedrängte seine Genossen stürmisch. Stalin in seiner Verlegerfunktion erdreistete sich sogar, Lenins Artikel zu zensieren oder nicht zu veröffentlichen. Er setzte sich sogar für den gemässigten Parteifunktionär Kamenew ein, der heftigen Angriffen von Seiten Lenins ausgesetzt war. Diese Hilfe sollte sich für Stalin in seinem Machtkampf mit Trotzki um Lenins Nachfolge als sehr nützlich erweisen.

Das Zentralkommitee nach der Oktoberrevolution (1919); russianphoto.ru.

Wie die Geschichte zeigte, konnte sich Lenin schliesslich durchsetzen und nach dem erfolgreichen Oktoberputsch die Macht übernehmen. Da er die entscheidende Sitzung des Zentralkomitees verpasste, in der die Aufgaben für den Umsturz verteilt wurden, spielte Stalin keine glänzende Rolle in der Oktoberrevolution. Trotzdem leistete er im Vorfeld sehr wichtige Arbeit für die Bolschewiki, auch wenn diese in der Öffentlichkeit nicht gross wahrgenommen wurde. Auch diese Umstände sollten im späteren Personenkult eine Kaschierung erfahren.
Im Anschluss an die Machtübernahme der Bolschewiki fand sich Stalin schliesslich in der Funktion als Volkskommissar für Nationalitätenfragen in der neuen Regierung wieder. Zusätzlich gehörte er zusammen mit Lenin und Trotzki – der sogenannten Troika – zum innersten Zirkel der herrschenden Oligarchie. Im Nachgang der Oktoberrevolution und des folgenden wüsten Russischen Bürgerkriegs errichtete Lenin eine Diktatur mit enormer Machtfülle und ebnete so Stalins Weg zur unangefochtenen Alleinherrschaft.

Literaturtipps:
Montefiore S., Simon: Der Junge Stalin. Frankfurt a. M. 2008.
Montefiore S., Simon: Am Hof des roten Zaren. Frankfurt a. M. 2005.

von Florian Wiedemann

Titelbild: Stalins Polizeiakte von 1902; commons.wikimedia.org.


Literaturangaben:

Montefiore S., Simon: Der Junge Stalin. Frankfurt a. M. 2008.