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Der Kriegskommunismus als Vorläufer des Stalinismus?

Nach der Machtübernahme der Bolschewiki am 7. November 1918 herrschte in der neuen Führung des Landes Uneinigkeit, welcher politische Kurs eingeschlagen werden sollte, um den Übergang zum Sozialismus zu bewerkstelligen.
Die – noch weitgehend linkspluralistische – Elite war sich im Grunde nur darüber einig, dass die soziale und ökonomische Notlage dringend bewältigt werden musste. Nach über drei Jahren Krieg litt die Bevölkerung an Hunger und die Industrie lag brach.
Die abgesetzte provisorische Regierung war kaum fähig und teilweise gar nicht willens, den gesellschaftlichen Forderungen nach „Brot, Land und Frieden“ nachzukommen. So oblag es nun den neuen Machthabern, diese Forderungen aufzunehmen. Jedoch entbrannte wenige Monate nach der Oktoberrevolution ein Bürgerkrieg (1918-22), der die Schrecken und Entbehrungen des Weltkrieges gar in den Schatten zu stellen vermochte und die Versorgungslage noch verschlimmerte.
In dieser Zeit des Bürgerkrieges etablierte sich ein Verwaltungssystem, das sich auf Zwangsabgaben, Terror und Zentralisierung bzw. Bürokratisierung stützte, mit dem erklärten Ziel der Versorgung der Roten Armee sowie der Industrie. Der damit verbundene Kurs der Bolschewiki erhielt retrospektiv und als Legitimierungsgrundlage den Terminus „Kriegskommunismus“. Dieser war jedoch weniger ein politisch-theoretisches Konstrukt, sondern viel eher ein Aggregat aus Dekreten und improvisierten Aktionen, um die eigene Macht zu erhalten und den Sozialismus auf möglichst schnellem Wege aufzubauen. Die zentralen Elemente des Kriegskommunismus, die Ablieferungspflicht sowie die kollektive Agrarwirtschaft, sollte Stalin dann in den 30er-Jahren im Zuge der forcierten Industrialisierung  wieder aufnehmen und mit noch grösserem Terror umsetzen.

Die Agrarrevolution nach dem Oktoberumsturz

Aufgrund der Überbevölkerung in den ruralen Gebieten herrschte seit dem Ende des 19. Jh. grosser Landhunger. Beflügelt durch Lenins Dekret über Grund und Boden trieben die Bauern kurz nach der Oktoberrevolution die Agrarrevolution voran. Durch die Enteignung der Gutsbesitzer und die Aufteilung von deren Ländereien wurden viele landwirtschaftliche Grossbetriebe zerstört. Als direkte Konsequenz der unkontrollierten Landnahme entstanden Kleinstbetriebe, die kaum über die Subsistenzwirtschaft hinaus produzierten. Daraus resultierte eine Verschärfung der Ernährungskrise, die insbesondere in den Städten zu spüren war.((Vgl. Merl, Sowjetmacht und Bauern, S.25))

Die Ernährungsdiktatur

Gleichzeitig formierten sich im ganzen Reich Widerstandsbewegungen und brachen Aufstände gegen die kommunistische Herrschaft aus, die im Russischen Bürgerkrieg resultierten. Um die Revolution zu sichern, mussten die Bevölkerung ernährt und die kriegswichtige städtische Industrie wiederbelebt werden. Jedoch hatten die kaum existente Produktion von Konsumgütern sowie die stetige Währungsinflation zur Folge, dass Handel für die Bauern gänzlich unattraktiv erschien und sich die Ernährungssituation in den Städten nicht verbessern konnte. Das Dekret „Über die Einführung der Versorgungsdiktatur“ markierte den Auftakt zum Kriegskommunismus. Zu Beginn sollten die sogenannten Kulaken zu Pflichtablieferungen gedrängt werden, doch wurden bald immer mehr Dekrete erlassen und die gesamte Bauernschaft zu immer höher werdenden Abgaben gezwungen.((Vgl. Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.109.))

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Die Requisition der Getreideüberschüsse übernahmen bewaffnete Versorgungsarmeen, die sich aus den städtischen Arbeitern und Rotarmisten rekrutierten. Zu deren Unterstützung wurden im Juni 1918 Komitees der Dorfarmut ins Leben gerufen, um Tagelöhner und arme Knechte einzubeziehen. Damit sollten der Klassenkampf ins Dorf getragen und die armen Bauern für den Kampf gegen die Kulaken gewonnen werden. Dieser Praxis war aber wenig Erfolg beschieden. Die Dorfgemeinschaft wies einen traditionell starken solidarischen Zusammenhalt auf und beanspruchte konfisziertes Getreide daher für die eigene Gemeinde.((Vgl. Hildermeier, Sowjetunion, S,145f.))
Auch die Versorgungsbataillone, welche die Requirierungen häufig gewaltsam und willkürlich durchführten, konnten die Versorgungslage in den Städten nicht verbessern. Die Bauern leisteten von Beginn an Widerstand, indem sie ihre Bestände versteckten. Zusätzlich waren die Organe zur Beschaffung schlecht organisiert, und eingesammeltes Getreide konnte gar nicht in die Städte transportiert werden oder verdarb durch unfachmännische Lagerung. Die Beschaffungsbürokratie selbst verschlang oder unterschlug einen Grossteil des Getreides.
In dieser Phase entstand aus der Not heraus eine informelle Naturalwirtschaft. Sackträger vermittelten Waren zwischen Stadt und Land und sorgten für die Versorgung der Städte durch einen florierenden Schwarzmarkt. Diese Sackträger stellten schätzungsweise 65-70% der Nahrungsmittel bereit.((Vgl. Hildermeier, Sowjetunion, S,145.))

Sackträger tauschten in den Städten Fabrikwaren gegen Nahrungsmittel und erhielten so die Versorgung aufrecht; Russisches Staatsarchiv für Film- und Fotografische Dokumente, Krasnogorsk.

Unter dem Namen  Prodrazvërstka (prodovol’stvennaja razvërstka; Lebensmittelverteilung) entstand ein zentralisiertes System zur Nahrungsmittelbeschaffung und -verteilung, das sich auf Quoten und fix festgelegte Preise stützte. Als Berechnungsgrundlage für die Ablieferungen dienten die Ernte- und Exportzahlen in den Vorkriegsjahren. Wie realitätsfern die spezifischen Berechnungen ausfielen, zeigen die Zahlen der Konfiskation (Tabelle unten). Im Schnitt konnten nicht einmal 40% der veranschlagten Mengen gedeckt werden.((Vgl. Malle, The Economic Organization of War Communism, S.399f.)) Die rigide und oft von brutaler Gewalt begleitete Umsetzung der Prodrazvërstka hatte jedoch enorme Auswirkungen auf die Bauernschaft. Um die Quoten halbwegs zu erfüllen, beschlagnahmten die Requirierungstruppen auch das Saatgut. So wurde den Bauern nicht nur die reale, sondern auch die potenzielle bzw. künftige Ernte abgenommen.((Vgl. Brovkin, Front Lines of the Civil War, S.301.)) Da die Industrie selbst nur für die Bedürfnisse der Roten Armee produzierte, wurden die Bauern kaum entschädigt für ihre Ablieferungen. Dieser ungleiche Tauschhandel führte unter anderem zu grossem Unmut und dazu, dass die Bauern nur noch für ihren eigenen Gebrauch produzieren wollten. Das angestrebte Handelsmonopol der Sowjetmacht hätte den freien Markt unterbinden sollen; es hatte aber das Gegenteil zur Folge, und die Sackträger blieben ein Garant für die Versorgung der Stadt.

Die reale Ablieferungsmengen blieben weit hinter den veranschlagten Quoten zurück; Tabelle adaptiert aus Malle, Economic Organization, S.402.

Erste Versuche mit der kollektiven Landwirtschaft

Einen weiteren Versuch, Herr über die Ernährungssituation zu werden, stellten die von Lenin oft propagierten neuen Arten der kollektiven Landwirtschaftsproduktion dar. Mit den Kolchosen sollten Kollektivwirtschaften entstehen, die genossenschaftlich bewirtschaftet wurden – von Bauern, die sich in Kommunen zusammenschlossen. Eine Alternative stellten die staatlichen Wirtschaften, die Sowchosen dar. Weil sich die Bauern gegen eine kollektive Landwirtschaft stemmten und auch nicht in Sowchosen eintreten wollten, mussten Arbeiter aus den Städten herangeführt oder aus der Armee abkommandiert werden.((Vgl. Brovkin, Front Lines of the Civil War, S.304.)) Grundlegende Ziele dieser Betriebe waren vordergründig wirtschaftlicher Natur. Durch Abschaffung althergebrachter Anbaumethoden, die Minderung des Kleinbauerntums und den Einsatz moderner Technik sollte eine Effizienzsteigerung erzielt werden. Jedoch waren auch politische Aspekte inhärent; nebst der Koordination des Anbaus wollte die Sowjetmacht unabhängig von den Bauern werden und deren Status als faktische Staatsangestellte festigen. Darüber hinaus wurde die genossenschaftliche Wirtschaft auch als Übergang zum sozialistischen Landbau betrachtet.((Vgl. Altrichter/Haumann, Die Sowjetunion, S.64.)) Allen Anstrengungen zum Trotz blieb die Versorgungslage schwierig. Dies lag unter anderem an den schlecht ausgestatteten Betrieben und deren mangelhafter Führung, aber auch an dem hohen betrieblichen Eigenverbrauch. Der Versuch, sich von den bäuerlichen Kleinwirtschaften zu emanzipieren bzw. diese zu vereinen, scheiterte nicht nur, sondern diese Kleinwirtschaften blieben in der Folge sogar essentiell für die Versorgung der Bevölkerung.((Vgl. Lorenz, Sozialgeschichte der Sowjetunion, S.110; Vgl. Malle, The Economic Organization of War Communism, S.412.))

Quelle: Lenin über die Richtlinien zur Ernährungsfrage 1919

 Es gibt ja überhaupt wenig Nahrungsmittel im Lande. Sie reichen nicht aus, um alle satt zu bekommen. […], wenn jeder Bauer alle Erzeugnisse abgäbe, wenn jeder Bauer sich freiwillig dazu verstünde, seinen Verbrauch etwas unter die zum Sattwerden erforderliche Menge einzuschränken und alles übrige restlos dem Staat abzuliefern, und wenn wir das alles richtig verteilen – dann würden wir […] ohne zu hungern, durchhalten können. […] unser Feind, das sind die Schleichhändler und die Bürokraten. […] Lässt man den freien Handel zu, so schnellen die Preise in die Höhe. […] Wenn wir grösste Strenge, grösste Organisiertheit walten lassen, so können wir bestenfalls, […] durchhalten […].

1. Es wird bestätigt, dass die sowjetische Ernährungspolitik richtig ist und unbeirrbar durchgeführt werden muss. Diese Politik besteht in folgendem:
a) Erfassung und staatliche Verteilung nach dem Klassenprinzip;
b) Monopol auf die wichtigsten Nahrungsmittel und
c) Übergabe des Versorgungswesens aus privater Hand in die Hände des Staates
[…]
3. Als provisorische Massnahme wird den Arbeiterorganisationen und den Genossenschaftsvereinigungen das Recht auf Beschaffung aller in Punkt 2 nicht aufgezählten Nahrungsmittel zugestanden.
5. Um die Nahrungsmittelbeschaffung zu steigern und die einzelnen Aufgaben erfolgreicher durchzuführen, wird das Prinzip der Pflichtablieferung und der Beschaffung der nichtmonopolisierten Produkte zur Anwendung gebracht […].

– Lenin, W.I.: Rede in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets und des Gesamtrussischen Gewerkschaftskongresses 17. Januar 1919.

Die Situation konnte kaum verbessert werden, und einem Teil der Sowjetführung dämmerte langsam, dass ein alternativer Weg aus der Ernährungskrise gesucht werden musste.
Jedoch herrschte in der Partei Uneinigkeit darüber, welcher Weg eingeschlagen werden sollte. Gegen die ökonomisch-pragmatischeren Lösungsansätze, für die unter anderem Lenin und Trotzki einstanden, regte sich Widerstand aus dem linkskommunistischen Lager. Obwohl zu Beginn des Jahres 1920 der Sieg über die Weissen praktisch feststand und der aus der Not entstandene Kurs des «Kriegskommunismus» obsolet erschien, bestanden Teile der Führung darauf, diesen Kurs beizubehalten. Als Argumentationsgrundlage diente fortan der direkte Aufbau des Sozialismus, der sich auf «kriegsmässige» Methoden und Organisationsformen stütze.((Vgl. Merl, Sowjetmacht und Bauern, S.29; Vgl. Altrichter/Haumann, Sowjetunion, S.67f.))
Der Widerstand der Bauern verschärfte sich im Zuge dieser Politik und mündete in flächendeckenden Aufständen gegen die Sowjetmacht. Damit trat der Bürgerkrieg 1920 in eine weitere Phase, in der sich der Terror gegen die Bauern und die gesellschaftlichen Entbehrungen noch verschärften und im Winter 1920/21 – begünstigt durch eine Missernte – zu einer Hungersnot führen sollten.
Erst im Angesicht der Hungerkatastrophe, der anhaltenden Bauernaufstände und der aufflammenden Arbeiterstreiks in den Städten erkannten die Bolschewiki die Gefährdung ihrer Macht und beschlossen eine Abkehr vom kriegskommunistischen Kurs. Mit der Einführung der Naturalsteuer im Sinne der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) im März 1921 fand der Kriegskommunismus ein Ende.((Vgl. Hildermeier, Sowjetunion, S. 155f.))

Fazit

Die Entstehung des Kriegskommunismus im Jahre 1918 wurde in erster Linie mit der Bekämpfung der vorherrschenden Not begründet. Als der Sieg im Bürgerkrieg absehbar war, wurde dieser Kurs beibehalten. Als Rechtfertigung diente nun aber das Ziel, den Übergang zur sozialistischen Gesellschaft zu bewerkstelligen. Dadurch entflammte der Widerstand der Bauern vollends. Die Folge war eine Verschärfung des Bürgerkriegs sowie eine Verschlechterung der ohnehin schon katastrophalen Versorgungslage. Im Angesicht des drohenden Verlustes ihrer Macht besann sich auch die Sowjetführung und schwenkte ab März 1921 wirtschaftspolitisch auf einen moderateren Weg ein, welcher das Ende des Kriegskommunismus bedeutete.

Zentrale Elemente des Kriegskommunismus waren:
– Einführung der Naturalwirtschaft – geprägt von ungleichem Tauschhandel
– Zerschlagung des freien Marktes – Einführung des staatlichen Versorgungsmonopols
– Zwangsrequirierungen – begleitet von Terror und Willkür
– Kollektivierungsversuche in der Landwirtschaft – Sowchosen und Kolchosen sollten die Landwirtschaft sozialisieren
– Zentralisierung und Koordinierung der Betriebe – die Produktion wurde komplett den Bedürfnissen der Roten Armee untergeordnet.

Die angestrebte Revolution auf dem Lande blieb überwiegend erfolglos. Obwohl die Bauern die Umverteilung des Bodens begrüssten und der Klassenkampf durch die Komitees der Dorfarmut in die bäuerliche Gesellschaft hineingetragen werden sollte, fand die Sowjetmacht wenig Unterstützung ausserhalb der Städte. Der zunehmende Terror gegenüber den Bauern hatte viel eher gegenteilige Auswirkungen und verunmöglichte beinahe komplett die Sozialisierung der Landwirtschaft.
Im Endeffekt konnten sich die Bauern, unterstützt von den Streiks und Aufständen in den Städten, zumindest vorläufig gegen die Kommunisten behaupten. Doch mit Stalins Aufstieg zur Alleinherrschaft, sollten viele Aspekte des Kriegskommunismus wieder Realtiät und jeglicher Widerstand gebrochen werden.

von Florian Wiedemann

Titelbild: Propagandaplakat „Roter Pflüger“ von 1920; redavantgarde.com


Literaturangaben:

Altrichter, Helmut/ Haumann, Heiko (Hg.): Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod Band 2: Wirtschaft und Gesellschaft, München 1987.

Brovkin, Vladimir N.: Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia, 1918-1922, New Jersey 1994.

Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. München 1998.

Lenin, W.I.: Rede in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets und des Gesamtrussischen Gewerkschaftskongresses 17. Januar 1919, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU (Hg.): Lenin Werke Band 28, S.400-415, Berlin 1959.

Lorenz, Richard: Sozialgeschichte der Sowjetunion, 2 Bde., Bd. 1: 1917 – 1945, Frankfurt am Main 1978.

Malle, Silvana: The Economic Organization of War Communism 1918-1922, Cambridge 1985 (Soviet and East European Studies).

Merl, Stefan: Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des „Kriegskommunismus“ und der Neuen Ökonomischen Politik, Berlin 1993 (Osteuropastudien der Hochschule des Landes Hessen. Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens 191).