Nichts – Das Ende einer Konsumkultur

Nichts – Das Ende einer Konsumkultur

In Janne Tellers Roman Intet, zu Deutsch Nichts was im Leben wichtig ist, erzählt die etwa vierzehn Jahre alte Agnes, was in der fiktiven dänischen Kleinstadt Tæring passiert, als ihr Klassenkamerad Pierre Anthon die Schule verlässt und sich dann auf einen Pflaumenbaum setzt, weil nichts von Bedeutung ist. 

Pierre Anthon gik ud af skolen den dag han fandt ud af, at det ikke var værd at gøre noget når intet alligevel betød noget.

Pierre Anthon verliess an dem Tag die Schule, als er herausfand, dass nichts etwas bedeute und es sich deshalb nicht lohnte, irgendetwas zu tun.

Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 6. / Teller, Janne. Nichts – Was im Leben wichtig ist. Carl Hanser Verlag, 2010. S. 8.

Agnes und ihre Mitschüler:innen versuchen daraufhin Pierre Anthon vom Gegenteil zu überzeugen; sie beginnen in einem alten Sägewerk der Stadt, Dinge von Bedeutung zu sammeln. Es fängt mit kleineren, für die Klasse enttäuschend unbedeutsamen Gegenständen an, und entwickelt sich immer mehr zu einem gefährlichen gegenseitigen Rachespiel. Wer selbst bereits eine persönlich bedeutsame Sache abgegeben hat, fordert daraufhin eine:n Klassenkamerad:in auf. Der ,Berg aus Bedeutung‘ besteht erst noch aus Objekten, wie einem neuen Rennrad oder einem Gebetsteppich, bald schon finden sich aber auch der abgehackte Zeigefinger eines Gitarrenspielers, die geopferte Unschuld einer Klassenkameradin, dann ein Sarg mitsamt des darin bestatteten Kindes oder auch ein toter Hund unter den ,Opfergaben‘.

Ein Junge, vielleicht Pierre Anthon, auf einem Pflaumenbaum. „Boy Scouts Pick Fruit For Jam – Life on a Fruit-picking Camp Near Cambridge, England, UK 1943“ von Wildman Shaw im Auftrag des Imperial War Museums lizenziert unter IWM Non-Commercial Licence.

Es wird schnell klar: die ,Grösse‘ der Opfer wächst mit dem Berg. Ein anfänglich harmloses Unterfangen einer Gruppe Jugendlicher droht zu eskalieren. Egal was auf den ,Berg aus Bedeutung‘ kommt, Agnes und die restlichen Schüler:innen können Pierre Anthon von dessen Überzeugung nicht abbringen. Er hält weiter an seiner nihilistischen Aussage fest: „Det er intet der betyder noget, der har jeg vidst i lang tid. Så det er ikke værd at gøre noget, […]“1 („Nichts bedeutet irgendetwas, das weiss ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun.“)2 Für seine Mitschüler:innen und deren ‚Berg aus Bedeutung‘ hat er nur Spott übrig.

In der Öffentlichkeit wird der Roman in erster Linie als nihilistisches Werk diskutiert (siehe dazu Artikel in Zeit Online). Allerdings hat dieses Buch noch mehr zu bieten, als nur diese eine Betrachtungsweise. In diesem Blogbeitrag dient das Nihilismusmotiv, welches in Nichts durch Pierre Anthons Proklamation des totalen Bedeutungsverlusts sowie dem daraufhin entstehenden ‚Berg aus Bedeutung‘ dargestellt wird, als direkter Bezug zu einem weiteren Thema: der Untergang von Konsumkulturen.

Die Gruppe Jugendlicher in Janne Tellers Roman ist eine Konsumgesellschaft. Allerdings nicht gerade eine im klassischen Sinn, in welcher Waren gekauft, ge- und verbraucht oder verzehrt werden.3 Stattdessen erhofft sich diese jugendliche Konsumgesellschaft, durch ihre Beiträge zum ,Berg aus Bedeutung‘, Bedeutung zu generieren oder sich gar zu ,erkaufen‘. Einfach gesagt, so folgt diese jugendliche Konsumgesellschaft dem Prinzip: Opfergabe im Austausch gegen Bedeutung. Die Jugendlichen werden zu Bedeutungskonsumenten. Bald wird ihnen jedoch klar, dass die kleinen Opfer wie die kopflose Puppe, das alte Gesangsbuch, der kaputte Kamm oder die tonlose Beatles-Kassette als Bedeutungs-Erzeuger nicht ausreichen:4

Dyngen voksede og voksede. […]. Alligevel var det lidt tyndt med betydningen. Vi vidste jo godt alle sammen at intet af det, vi samlede ind, i virkeligheden betød noget for os, så hvordan skulle vi kunne overbevise Pierre Anthon om at det var noget? 

Der Berg wuchs und wuchs. […]. Allerdings fehlte es ihm an tatsächlicher Bedeutung. Schliesslich wussten wir doch alle, dass nichts von dem Eingesammelten einem von uns etwas bedeutet. Wie also sollten wir Pierre Anthon damit überzeugen?

Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 22. / Teller, Janne. Nichts – Was im Leben wichtig ist. Carl Hanser Verlag, 2010. S. 27.

Die Schlussfolgerung: es müssen grössere Opfer her. Die Gruppe beschliesst deshalb, solche gegenseitig zu erzwingen: nur noch Dinge, die von tatsächlicher persönlicher Wichtigkeit sind, sollen geopfert werden „Og så var det at vi blev nødt til at indrømme at der rent faktisk var nogle ting der betød noget for os, […].“5 („Und da mussten wir schliesslich zugeben, dass es schon Sachen gab, die uns tatsächlich etwas bedeuteten, […].“)6

Um hier anzuknüpfen möchte ich gerne auf einen weiteren interessanten Punkt eingehen. Annette Wannamaker, Professorin für englische Literatur an der Eastern Michigan University, diskutiert in ihrem Artikel „A ‘Heap of Meaning’: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y.A. Novel Nothing”  den Namen des Schauplatzes der Geschichte, Tæring.7 Sie bezieht sich dabei auf eine Bemerkung des Übersetzers, Martina Aitkin , derzufolge der Begriff Tæaring von dem nicht Eins-zu-Eins übersetzbaren dänischen Verb ,tære‘ komme. ,Tære‘bedeutet ungefähr „to gradually consume, corrode, or eat through, for example in the way rust may eat through metal.“8 Demnach argumentiert Wannamaker, dass die jugendlichen Protagonisten des Romans sich in einer nach und nach zerfallenen und korrodierten Umgebung bewegen.9 Ziehen wir hier eine direkte Verbindung zur zuvor genannten Konsumgesellschaft, wird schnell klar, dass dieser Prozess des Zerfalls oder der Korrodierung mittels des Opfergaben-Prinzips stattfindet. 

Janne Teller selbst sagte in einem Interview mit der ZEIT ONLINE: 

Ich finde am wichtigsten, dass Literatur ihre eigene Logik hat.

Gaschke, Susanne. „Lehrer sagten, dieses Buch ist schädlich.”  Zeit Online, 2010.  https://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F. Stand: 10.02.22.

In ihrem Werk Nichts zeigt sich eine ,Logik der Überbietung‘. Die Jugendlichen versuchen sich gegenseitig in der Schrecklichkeit der von ihnen gewählten Opfer zu überbieten. Diese ,Überbietungslogik‘ weist dystopische Züge auf, da sie am Ende zur totalen Eskalation und dem darauf folgenden Kollaps der jugendlichen Konsumgesellschaft führt. Pierre Anthon, der den restlichen Jugendlichen unerlässlich die Bedeutung ihres erstellten Berges abspricht, wird schliesslich von seinen Klassenkamerad:innen zu Tode geprügelt und der ,Berg aus Bedeutung‘ brennt kurz darauf nieder.10 Gemäss Meurer-Bongardt in „Die Kunst auf einem beschädigten Planeten zu leben. Der dystopische Roman als Erzählform des Anthropozäns am Beispiel nordeuropäischer Literatur”  ist eine Dystopie die „schlechteste aller denkbaren Welten.“11 Und genau in solch einer denkbar schlechten Welt endet Nichts. Eine Welt, in der sich die Aussage von Pierre Anthon, dass nichts von Bedeutung sei, wie ein Virus in den Köpfen seiner Mitschüler:innen festgesetzt hat und sie in die krankhafte, schliesslich katastrophal endende Suche nach Bedeutung treibt. Nichts widerspiegelt zudem, zu einem gewissen Grad, was Meuer-Bongardt als „anthropozänes Bewusstsein“ eines dystopischen Romans bezeichnet.12 Von Brave New World und Nineteen-Eighty-Four über Mad Max bis hin zu N. K. Jemisins The Fifth Season und jetzt Nichts? Warum faszinieren uns dystopische Erzählungen so sehr? Was macht sie wichtig? Judith Meurer-Bongardt befasst sich genau mit diesem Thema. Ihr zufolge hat das mit unserem Zeitalter, dem Anthropozän zu tun: 

[…] Dystopischer Literatur ist ein Oszillieren zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu eigen, womit neue Perspektiven eröffnet und damit auch alternative Formen des Miteinanders hervorgebracht werden können. Gerade die Verbindung zwischen Gesellschaftskritik und utopischem Möglichkeitsdenken macht die […] Dystopie zu einer populären Gattung in Zeiten radikalen Wandels.

Meurer-Bongardt, Judith. „Die Kunst auf einem beschädigten Planeten zu leben. Der dystopische Roman als Erzählform des Anthropozäns am Beispiel nordeuropäischer Literatur.” Diegesis, Bd. 9, Nr. 2, Bergische Universität Wuppertal, 2020, S. 96-121. S. 98.

Die jugendliche Konsumgesellschaft im Zentrum des Werks wird also gewissermassen durch das Anthropozän genährt. Mit ihrer ,Überbietungslogik‘, den damit verbundenen Opfergaben  und dem daraus entstehenden ,Berg aus Bedeutung‘, richten die Jugendlichen am Ende eine Zerstörung an. Sie scheitern in ihrer Suche nach Bedeutung, der Berg brennt ab, der Schöpfer des ,Virus‘ wird ausgelöscht und die Schüler:innen gehen ihre getrennten Wege. Übrig bleibt lediglich ein Haufen Asche, eine Verwüstung, die einer dystopischen Welt auffallend ähnlich scheint:

Vi brugte  hænderne til at skovle asken sammen med. Beholderne blev lukket omhyggeligt til over den grålige masse der var alt hvad vi havde tilbage af betydningen.

Zum Schaufeln der Asche benutzten wir die Hände. Die Behältnisse wurden sorgfältig über der gräulichen Masse verschlossen, dem, was uns von der Bedeutung geblieben war.

Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 115. / Teller, Janne. Nichts – Was im Leben wichtig ist. Carl Hanser Verlag, 2010. S. 139
Eine Wüste als Sinnbild der Dystopie. White Desert, Rock formations in desert landscape 2, Egypt von Vyacheslav Argenberg lizenziert unter CC BY 4.0.

Titelbild: „Nothing is nothing“ von Darwin Bell lizenziert unter  CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.

  1. Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 5. []
  2. Teller, Janne. Nichts – Was im Leben wichtig ist. Carl Hanser Verlag, 2010. S. 7. []
  3. Schramm. Manuel. „Konsumgeschichte.” Docupedia-Zeitgeschichte, vol. 3, 2020. Docupedia, https://docupedia.de/zg/Schramm_konsumgeschichte_v3_de_202. Stand: 10.02.22. []
  4. Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 21. []
  5. Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 22 []
  6. Teller, Janne. Nichts – Was im Leben wichtig ist. Carl Hanser Verlag, 2010. S. 27. []
  7. Wannamaker, Annette.  „A ‘Heap of Meaning’: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y.A. Novel Nothing.” The Lion and the Unicorn, Bd. 39 Nr. 1, 2015, S. 82-99.  Project MUSE, doi:10.1353/uni.2015.0000. Stand: 10.02.22. []
  8. Wannamaker, Annette.  „A ‘Heap of Meaning’: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in Janne Teller’s Y.A. Novel Nothing.” The Lion and the Unicorn, Bd. 39 Nr. 1, 2015, S. 82-99.  Project MUSE, doi:10.1353/uni.2015.0000. Stand: 10.02.22. S. 83. Bezug auf: Teller, Janne. Nothing. Übs. Martin Aitkin. Antheneum, 2010. S. 229. []
  9. Wannamaker, Annette.  „A ‘Heap of Meaning’: Objects, Aesthetics and the Posthuman Child in   Janne Teller’s Y.A. Novel Nothing.” The Lion and the Unicorn, Bd. 39 Nr. 1, 2015, S. 82-99.  Project MUSE, doi:10.1353/uni.2015.0000. Stand: 10.02.22. S. 83. []
  10. Teller Janne. Intet. Dansklærerforeningens Forlag, 2000. S. 111 & 112. []
  11. Meurer-Bongardt, Judith. „Die Kunst auf einem beschädigten Planeten zu leben. Der dystopische Roman als Erzählform des Anthropozäns am Beispiel nordeuropäischer Literatur.” Diegesis, Bd. 9, Nr. 2, Bergische Universität Wuppertal, 2020, S. 96-121. S. 101. []
  12. Meurer-Bongardt, Judith. „Die Kunst auf einem beschädigten Planeten zu leben. Der dystopische Roman als Erzählform des Anthropozäns am Beispiel nordeuropäischer Literatur.” Diegesis, Bd. 9, Nr. 2, Bergische Universität Wuppertal, 2020, S. 96-121. S. 116. []

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