‚Stundenbuch‘ ist die (katholische) Bezeichnung eines liturgischen Buches, das die Texte des Stundengebets enthält. Dieses Stundengebet, auch Officium divinum („göttlicher Dienst“) genannt, ist in der kirchlichen Tradition die Umsetzung des Apostelwortes „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess 5,17; EÜ)[1] und des Psalmwortes „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen“ (vgl. Ps 119,62.164; EÜ). Sinn des Stundengebets ist es, den Tag zu strukturieren, einzelne Tageszeiten zu heiligen und mit ihrer Besonderheit vor Gott zu bringen. Das Stundengebet ist am Zyklus des Tageslaufs, das heißt dem Wechsel von Wachen und Schlafen, Licht und Dunkelheit, Arbeit und Ruhe, orientiert. Beginnend mit den Laudes um drei Uhr morgens, beteten besonders Kleriker im dreistündigen Rhythmus ab sechs Uhr morgens Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet.[2]

Die Stundenbücher kamen Mitte des 13. Jahrhunderts zur individuellen Andachtsübung von Laien auf und verdrängten aufgrund ihrer hohen Beliebtheit den Psalter aus seiner Vormachtstellung als Gebetbuch. Im Spätmittelalter ließen Mitglieder des Adels ihre Stundenbücher meist aufwendig mit Buchschmuck versehen. Einzelne Exemplare gehören zu den prachtvollsten jemals hergestellten illustrierten Handschriften.

Abb. 1: Der Monat August im Stundenbuch Très Riches Heures du Duc de Berry, gemalt von den Brüdern von Limburg; Chantilly, Mus. Condé, Ms.65, fol. 8v. Digitalisat: https://arca.irht.cnrs.fr/ark:/63955/md45q811kp9t.

Am berühmtesten und künstlerisch wertvollsten dürften die Stundenbücher des Herzogs von Berry (1340–1416) sein, darunter das Très riches heures (Abb. 1). Es handelt sich um ein ausgesprochen reichhaltig verziertes Stundenbuch, das 208 Blätter enthält, von denen etwa die Hälfte ganzseitig bebildert ist.

Im Stundenbuch stehen Text bzw. Gebet und Bild in direktem Zusammenhang. Ein Beispiel, anhand dessen sich das gut aufzeigen lässt, ist das Schutzengelgebet im Beaufort-Stundenbuch (Abb. 2). In dem Bild wird der danebenstehende Text des Schutzengelgebets Angele, qui meus es custos superna illustriert. Das auf Reginald von Canterbury zurückgehende Gebet gehört zu den im Spätmittelalter bekanntesten Schutzengelgebeten.[3] In dem im Stundenbuch enthaltenen Beginn des Gebets wird der Schutzengel angerufen und um seinen Beistand in vielerlei Hinsicht (Schutz, Führung, Befreiung von Lastern, Hilfe bei Buße und Vermeidung der Hölle) gebeten.

Auch in der Abbildung wird mit Text gearbeitet: Über ein Schriftband richtet die Stifterin ihre Bitte an den Schutzengel: Sub umbra alarum tuarum protege me. Es handelt sich um ein Zitat aus Ps 16,8. Der Engel verkündet der Stifterin den göttlichen Beistand: Dominus custodiat te ab omni malo. Auch hier handelt es sich um ein Psalmenzitat (Ps 120,7).[4]

Da der Gebetstext lateinisch und somit für viele Laien unverständlich war, spielte die Illumination eine wichtige Rolle in der Andachtsübung, weil hierin der Inhalt der entsprechenden Frömmigkeitsübung verdeutlicht wird. Der Erfolg dieser Methode ist an der weiten Verbreitung von Stundenbüchern im Spätmittelalter ersichtlich. Zudem legt dies nahe, dass sich die Besitzer der Stundenbücher von den Gebeten einen direkten Nutzen – hier in Form des Herbeirufens des Schutzengels – versprachen, weshalb laut Bodo Brinkmann jeder fromme Laie des späten Mittelalters, der dies finanziell bewerkstelligen konnte, ein solches Gebetsbüchlein besaß.[5]

Abb. 2: Schutzengelgebet im Beaufort/Beauchamp Stundenbuch. London, um 1430. Aus dem Archiv der British Library, Royal 2 A XVIII, fol. 26r. Digitalisat: https://www.bl.uk/manuscripts/FullDisplay.aspx?ref=Royal_MS_2_A_XVIII.

Dieses mit dem Gebet intendierte Herbeirufen des Schutzengels ist in der Illumination abgebildet. Die rote Rahmung trennt die fromm kniende Frau, höchstwahrscheinlich die Stifterin Margaret Beauchamp, von der Sphäre des Engels, wie anhand der Überschneidung der Rahmung mit Kniekissen, Frauenkörper und Spruchband ersichtlich ist. Es handelt sich dementsprechend um die Trennung von Himmel und Erde, Transzendenz und Immanenz.

Erstere befindet sich innerhalb des Rahmens. Der Engel fungiert als Vertreter der himmlischen Sphäre, der sich aber aufgrund seiner Funktion als göttlicher Mittler auf die Immanenz – in Person der Stifterin – zubewegt.

Diese Bewegung ist anhand der Flügel erkennbar; während die linke Schwinge noch im Inneren des Bildrandes bleibt, geht die Spitze des rechten Flügels über die Rahmung hinaus und ragt schützend über die kniende Stifterin. Der Engel ist mittels ihres Gebets herbeigerufen worden – in der Illumination ist abgebildet, was durch das Gebet erreicht werden soll. Bild und Text stehen in direktem Zusammenhang und sollen den Erfolg der Andachtsübung sichern.

Hinzu kommt, dass die Illumination im Stundenbuch den Betenden die Möglichkeit einer Identifikation bietet; in teuren Exemplaren bildet das Stifterbild die stiftende Person erkennbar ab und leitet diese dadurch einerseits direkt in der Andachtsübung an, andererseits wird sie durch die Illumination auch in ein persönliches Verhältnis zu den abgebildeten Repräsentanten Gottes gesetzt. Dieser persönliche Zugang wird auch bei Vererbung des Stundenbuches beibehalten, da nun die Stifterin als Vorbild für die Andachtsübung sowie direkter Fürsprecher vor Gott fungieren kann. Auch die in ‚Massenwaren‘ typisierten Figuren männlicher oder weiblicher Erwachsener dienen als Projektionsfläche für die eigene Andachtsübung, wenngleich ohne den Aspekt der Darstellung der persönlichen Relation zur göttlichen Sphäre und seiner Repräsentanten.[6]


[1] Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift [=EÜ], Stuttgart 2016.

[2] Vgl. Allgemeine Einführung in das Stundengebet. Hg. durch das Deutsche Liturgische Institut, S. 1–10, online abrufbar unter: https://www.liturgie.de/liturgie/pub/litbch/aes.pdf; zuletzt abgerufen am 23.04.2024.

[3] Vgl. Agnes Thum: Schutzengel. 1200 Jahre Bildgeschichte zwischen Devotion und Didaktik. Regensburg 2014 (Studien zur christlichen Kunst 9), S. 194–197.

[4] Vgl. Biblia Sacra Vulgata, Bd. 3 Psalmi – Proverbia – Ecclesiastes – Canticum canticorum – Sapientia – Iesus Sirach. Hg. von Andreas Beriger et al. Berlin/Boston 2018.

[5] Vgl. Bodo Brinkmann: Zur Rolle von Stundenbüchern in der Jenseitsvorsorge. In: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Eine Ausstellung des Schweizerischen Landesmuseums in Zusammenarbeit mit dem Schnütgen-Museum und der Mittelalterabteilung des Wallraf-Richartz-Museums der Stadt Köln. Ausstellungskatalog. Zürich 1994, S. 91–100, hier S. 92.

[6] Vgl. Thum, Schutzengel (wie Anm. 3), S. 194.

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