Heranführung

Die Welt fernab vom Hof: Laurins Rosengarten und seine prunkvolle Berghöhle – in diesen Räumen suchen Dietrich und seine Gefährten nach Abenteuer und bekämpfen den dortigen Hausherrn, den Zwergenkönig Laurin, um als Helden‘ zurück an ihren Hof zu kommen. Die Erzählung Laurin scheint geprägt von Dichotomien: Gut und Böse, Dietrichs Hof und die Zwergenhöhle, adelig-menschliche Sphäre und Anderswelt treffen aufeinander.

Die ersten Handschriften, die davon berichten, werden auf das 14. Jahrhundert datiert und der Gattung der aventiurehaften Dietrichepik zugeschrieben. Diese episodenhaften Erzählungen haben allesamt Dietrich von Bern als Hauptfigur, sind ähnlich wie die höfischen Romane aufgebaut und wurden für lange Zeit nur mündlich überliefert.[1] Laut Forschung bleiben die Verfasser der Dietrichepik anonym, sie verstehen sich „nur als Glieder in der Kette derer […], die ‚Vorzeitkunde‘ tradieren, als bloße Vermittler […] also“[2]; auch der Verfasser des Laurin ist unbekannt.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht so Dietrich, der mit Gefährten auszieht, den berüchtigten Rosengarten Laurins zu zerstören und mit dieser Provokation die ersehnte Aventiure zu eröffnen. Es kommt zum Kampf mit dem Zwerg, den Dietrich trotz magischer Hilfsmittel besiegt, jedoch auf Anraten seines Gefährten Dietleib nicht tötet. Dessen Schwester nämlich – die schöne Künhild, einst von Laurin geraubt und zur eigenen Königin gekrönt – befindet sich in der Höhle. An die Stelle der Zwergentötung tritt Freundschaft und rauschendes Fest. Doch Laurins Ehre ist verletzt; er sucht Künhilds Rat, die so weiterhin als Mittlerin zwischen den höfischen Rittern und dem Zwergenvolk fungiert und deren Kräfte auf beiden Seiten durch geschenkte Ringe steigert. Die sich fortsetzende Konfrontation endet letztlich im Sieg Dietrichs, der Laurin als Gefangenen zurück an den Hof führt. Dort konvertiert der Zwergenkönig zum Christentum mit Dietrich als seinem Taufpaten.

Zerstörung des Rosengartens: Hie erschlagen die zwen Fürsten der Berner und Wytrich die gulden porten/ und die Rosen/ die Künig Laurin gezogen und gemacht hett. Das Helden Buch mit seinen Figuren, [Augsburg] 1545: [Steiner] [=VD 16 H 1567]; München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 2173, p. 381. Digitalisat: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00025912

Die Rückkehr von Dietrich samt Gefährten an den Hof ist nicht nur Heimkehr, sondern auch Reintegration ins eigene Sozialsystem ‚Hof‘. Der Hof als Ort wird im Laurin bemerkenswerterweise kaum beschrieben, denn nicht bauliche Merkmale charakterisieren ihn, sondern geltende Regeln. Wir betrachten den höfischen Raum daher maßgeblich als Sozialgebilde, dessen Grundstrukturen durch ideale Werte, Normen und Verhaltensregeln einer Gesellschaft festgelegt sind.[3] Der ‚Hof‘ gleicht einem Konstrukt, das nicht örtlich verankert ist, sondern vielmehr als Leitfaden fungiert, der aufzeigt, wie sich höfische Figuren an jedem beliebigen Ort ideal verhalten sollten. Die christlichen Werte wie die Nächstenliebe, oder die Barmherzigkeit werden in erster Linie am Hof vorgelebt und gelten als die ‚richtigen‘ Tugenden.

Im Laurin figuriert die mit Wildheit assoziierte Höhle auf den ersten Blick als räumlicher Gegensatz zum Hof.[4] Sie wird als hole[r] perg (L, 796) bezeichnet, doch kann man sie sich eher als „unterirdische Schlossanlage“[5] vorstellen. Einerseits ist sie als Zwergenwelt konfiguriert und damit grundsätzlich als Anderswelt lesbar, andererseits wird durch kulturelle Ähnlichkeit der stark höfisch geprägten Lebensweise der Zwerge eine gewisse Nähe zum Hof hergestellt.[6] Somit ist die Höhle ein komplexer Andersraum, welcher trotz seiner Fremdhaftigkeit höfische Elemente beinhaltet.

Die beiden kontrastreichen Räume ‚Hof‘ und ‚Höhle‘ werden im Laurin durch einen Übergangsraum verbunden. Dies ist eine nennenswerte Spezifik der Erzählung, da nicht etwa der Wald Hof und Anderswelt verbindet – sondern ein Rosengarten. Häufig stellt der Wald in der mittelalterlichen Literatur den Übergang von einer vertrauten Welt in eine andere dar und strukturiert damit die räumliche Grenzüberschreitung. [7] Im Laurin markiert der Rosengarten die Schwelle zwischen Hof und Höhle, und ist zugleich Schauplatz physischer Auseinandersetzungen. Hier trifft die höfische Welt, vertreten durch Dietrich und seine Gefährten, auf die Anderswelt, die insbesondere Laurin verkörpert. Nachfolgend argumentieren wir, dass der Rosengarten unter anderem dazu dient, die Grenzen zwischen den Räumen aufzuzeigen.

Das Potenzial von unscharfen Grenzen innerhalb der Erzähllogik beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Begrenzungen von unterschiedlichen Räumen, sondern auch auf jene zwischen den höfischen und unhöfischen Figuren, was sich anhand ihres Verhaltens erkennen lässt. Laurin ist nicht nur der Bösewicht und Dietrich nicht einfach der Held. Die Figuren bewegen sich in verschiedenen Räumen – im Rosengarten, in der Höhle und am Hof – und je nach Raum ändern sich auch ihr Verhalten und ihre Moral. Die verschiedenen Unschärferelationen dienen dazu, den Hof und das etablierte höfische Weltbild in seiner Beständigkeit herauszufordern, um es mittels erfolgreicher Umsetzung der höfischen Regeln auch in Auseinandersetzung mit Anderswelten endgültig zu bestärken. Inwiefern das moralische Verhalten der Figuren an die skizzierten Handlungsräume gebunden ist, werden wir im Folgenden an unterschiedlichen Stellen des Laurin aufführen.

Künhilds Dilemma

Künhild wird im Laurin durchgängig als mächtige und höfische Figur dargestellt. Diese Macht realisiert sich jedoch nicht in allen Handlungsräumen gleich. Künhild nimmt in der Höhle einerseits durch ihre wundersamen Ringe und andererseits durch ihren Titel kunigein (L, 685) eine mächtigere Rolle ein als am Hof, wo sie lediglich durch Ratschläge die zukünftige Handlung beeinflusst. Ihre Eingriffe in das Geschehen sind dabei innerhalb der Erzählung nicht immer in ähnlichem Maße höfisch; doch handelt sie allen Parteien gegenüber gleich. Diese Gleichbehandlung wird derart vom Text inszeniert, dass sogar die wundersamen und Mächte verleihenden Accessoires von ihr stets dieselben Objekte sind: Die ausgewählten Figuren bekommen allesamt Ringe. Diese Ringe lassen sich durch die Inszenierung des Textes als Belohnungen für tugendhaftes Benehmen lesen, weshalb Künhild innerhalb der Höhle eine Art ‚Richterin des moralischen Verhaltens‘darstellt. Sie verkörpert somit etwas Drittes, das zwischen den kämpfenden Parteien steht, und kann deshalb als Schwellenfigur angesehen werden. Es ist allerdings interessant, dass Künhild als Schwellenfigur nie im Rosengarten, also im Zwischenraum, handelt. Sie agiert ausschliesslich in den zwei kontrastreichsten Räumen, am Hof Dietrichs und in der Zwergenhöhle. Die folgenden analysierten Szenen finden ausschliesslich im höhlenartigen Raum statt, da vor allem dort Künhilds moralische Dilemma-Situation ersichtlich wird. Die Komplexität des Höhlenraums zeigt sich analog einerseits in der tugendhaften bzw. -losen Handlungsweise der Königin gegenüber den höfischen Recken und andererseits in der Gleichbehandlung von höfischen Bekannten und andersweltlicher Kreatur.

Laurin befragt seine Gattin Künhild, wie er auf die erfahrene Ehrverletzung von Dietrich reagieren sollte (vgl. L, 1022–1039). Höfisch wäre das Verhalten von Künhild, wenn sie auf die milte hinweisen und dadurch einen friedlichen Ausgang herbeiführen würde. Künhild aber rät Laurin, dass er den Recken eine Strafe auferlegen, ihnen aber das Leben lassen sollte (vgl. L, 1044). Dieser Ratschlag zeigt den moralischen Zwiespalt, in welchem die Königin im Handlungsraum der Höhle festsitzt. Sie sieht sich gewissermassen durch die verliehene Macht, Liebe und den Reichtum gezwungen, Laurin gegenüber treu zu handeln, doch kann sie gleichzeitig ihre höfischen Prinzipien nicht vollständig hintergehen. Künhild verhilft Laurin zudem mit ihrem Ring, durch den er eine Stärke wie zwelf manz sterck (L, 1052) gewinnt, die Ritter zu bestrafen. So hintergeht sie die Ritter insofern, als sie Laurin durch den Ring Macht über die höfischen Figuren gibt und ihm dadurch erst einen Handlungsspielraum ermöglicht.

Doch schenkt sie den Recken ebenfalls magische Ringe, die den Trägern die Fähigkeit verleihen, den Raum und damit die Gegner visuell wahrzunehmen. Dies ist notwendig, da die höfischen Recken um Dietrich die Zwerge beim Ausbruch des Kampfes in der Höhle nicht mehr sehen können.[8] Durch die Ringvergabe handelt Künhild untreu ihrem Gatten gegenüber, stellt sich in die Mitte der kämpfenden Parteien und erschafft gleichzeitig einen ausgewogenen Kampf, indem sie dafür sorgt, dass niemand einen räumlich definierten Vorteil besitzt.

Gegen Ende des Kampfes, als Laurin und mit ihm das gesamte Zwergenvolk dem Untergang geweiht sind, setzt sich Künhild gegen dessen Vernichtung ein. Sie rät Dietrich, Laurin zwar für seine Taten zu bestrafen, jedoch das Zwergenvolk leben zu lassen. (vgl. L, 1457-­1475). Sie referiert auf die höfischen Prinzipien Dietrichs und setzt sich dafür ein, dass diese auch in dem höhlenartigen Raum geltend gemacht werden. Die Höhle wird letztlich durch das Verhalten Künhilds in den höfischen Raum eingegliedert. Diese Eingliederung jedoch erst in diesem letzten Akt erkennen zu wollen, würde den komplexen Handlungsverlauf des Laurin trivialisieren. Schon durch das Einmischen und die Gnade Künhilds, die sie durch ihren Rat an Laurin durchsetzt, wird die Zwergenhöhle in einen bewusst ‚höfischeren‘ Raum transformiert. Diese beiden Szenen verknüpft ausserdem eine auffällig parallele Struktur: Wo Künhild anfänglich Laurin rät, seine Gegenspieler zu bestrafen, jedoch nicht zu töten, bittet sie Dietrich am Ende der Schlacht um denselben Gefallen. Die Logik und die Prinzipien Künhilds bleiben somit in der gesamten Erzählung konstant. Dies entspricht auch der Erzählstrategie insgesamt, nämlich die wundersame Welt des Zwergenraumes durch eine schrittweise erfolgende Integration ins Vertraute zu bewältigen.[9]

Dietleib im Zwiespalt

Dietleib von Steier ist der Bruder der entführten Künhild und einer der Gefährten Dietrichs. Als Dietleib im Rosengarten von Laurin erfährt, dass dieser seine Schwester entführte und zu seiner Königin machte, erkennt Dietleib ihn als Schwager an und nimmt ihn vor Dietrich in Schutz. Das durch das Geständnis Laurins eingeleitete Befreiungsschema bleibt wider Erwarten unerfüllt:[10] hastu die lieben swester mein, daz scholstu mich wissen lan; so will ich dich zu einem swager han (L, 677). Dietleib handelt hier zwar anders, als die Geschichte zu Beginn vermuten lässt, dennoch wird später klar, dass der einzige Zweck von Dietleibs Gnade darin besteht, seine Tugend gegenüber der Schwester zu erfüllen.

Entführung Künhilts: Hie fuort Laurin der gezwerg Dietlieb vonn Steyr sein schwester heimlich hin/ und weyß Dietlieb nit wo er sie hinfuoret. Das Helden Buch mit seinen Figuren, [Augsburg] 1545: [Steiner] [=VD 16 H 1567]; München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 2173, p. 376. Digitalisat: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00025912

Er scheint sich sogar für seine Schwester zu freuen, und dies ist mitunter der Anlass, weshalb die Gefährten von Laurin ins Berginnere geheissen werden: laz mich sehen die swester mein! Und ist die red ein warheit, die du mir hast geseit, ich will dir ir gunnen fur all man (L, 731). Erst dort, als Dietleib auf seine Schwester trifft und diese ihr Leid klagt, wird die Idee der Befreiung von Künhild wieder aufgenommen. Die Unterschiede der Örtlichkeiten, in denen sich Künhild jetzt befindet und einst befunden hat, sind unüberbrückbar: ich wer gern pey der kristenheit (L, 990). Nach der Äusserung dieser Diskrepanz, die gleichzeitig eine Distanz zur höfischen Welt veranschaulicht, wird dem Bruder klar, dass die Schwester hier nicht glücklich werden kann: ich nim dich ye dem klein man, scholt ez mir an daz leben gan (L, 993). Nebst dem Erleben von âventiure ist es Dietleibs Aufgabe, das Glück der Schwester sicherzustellen.

Laurin warnt Dietleib davor, dass er seine Gefährten bestrafen will, aber Dietleib möchte nichts davon wissen und wird von Laurin in eine Kemenate gesperrt: deiner hilf ich wol enpir (L, 1064). Jetzt, wo die Unterschiede zwischen der Welt Laurins und der Welt Dietleibs deutlich hervortreten, kann dem wilden Zwerg auch kein Vertrauen mehr geschenkt werden.

Nach dem Kampf ist es zum zweiten Mal Dietleib, der Dietrich ermahnt, das Richtige zu tun, nämlich Laurin auf Bitten der Schwester am Leben zu lassen. Wo sich der Kampf langsam auflöst, wird auch der Weg hin zur Tugend wieder frei. Dietleibs moralische Einsicht zeigt sich also beide Male am Scheideweg zwischen höfischer und Anderswelt: das erste Mal, kurz bevor sich die Gefährten in die Anderswelt begeben, und das zweite Mal, kurz bevor sie diese wieder verlassen. Gleichzeitig lässt sich in seiner Einsicht aber immer auch ein Zwiespalt der Zwischenwelten vermuten. So ist es beide Male nicht Dietleib, der in der Handlungsmacht steht, sondern Dietrich. Dieser wird von Dietleib nur daran erinnert, das Richtige zu tun und somit höfisch zu handeln.

Laurins Wandel

Laurin verhält sich im Rosengarten, in der Höhle und am Hof unterschiedlich, und er handelt entsprechend verschiedener moralischer Vorstellungen. Der Rosengarten ist eine abgegrenzte Zwischenwelt – anstelle einer Mauer oder eines Zauns dient ein seidener Faden zur Abgrenzung. Durch das Zerstören von Laurins Garten überschreiten Dietrich und seine Ritter zwei Grenzen: eine räumliche und eine moralische, wofür Laurin ein Pfand fordert. Ob den rechten fuez, die lincken hant (L, 74) zu verlieren ein fairer Ausgleich ist, sei dahingestellt. Allerdings war den Rittern vor ihrer Tat bewusst, dass es einen Preis für ihr unbefugtes Betreten geben würde. Als Laurin Dietrich und die Ritter konfrontiert, fragt er sogar, ob es einen Grund für ihr Verhalten gäbe. Hier wird Laurins Vorstellung von ‚edlen Männern‘ klar: Jemandem zu schaden nur um des Schadens willen und ohne Racheabsichten, ist unedeleich (L, 285). Das Gespräch endet im Kampf, und Laurin hat mit Tarnkappe und magischem Gürtel einen Vorteil. Doch Dietrich zerschlägt den Gürtel und kann den Zwergenkönig besiegen. Es ist das zweite Mal, dass ein Besitztum von Laurin durch Dietrichs Gewalt zerstört wird. Ohne seine magischen Hilfsmittel kann er allein nicht gegen die Ritter ankommen und nur dank Dietleibs Hilfe gibt es eine Versöhnung.

Bevor Laurin die Ritter in seine Zwergenhöhle einlädt, verrät er, dass er Künhild mit Gewalt und List entführt, sich also in der Vergangenheit schon einmal tugendlos verhalten hat. Durch Laurins wiederholte Beteuerung, dass die Ritter ihm vertrauen können, kommt überdies Skepsis auf. Die Höhle ist der Raum, in dem Laurin die Ritter für ihre, seiner Meinung nach, ‚unedle‘ Tat bestrafen möchte, und sie wird somit erneut zu dem Raum, in dem er sich nicht tugendhaft verhält. Die musikalische Darbietung, die für die Ritter aufgeführt wird, und die prächtigen Gewänder der Höhlenbewohner*innen erinnern zwar an die höfische Kultur. Doch Laurin und die Höhle sind nur auf Erscheinungsebene höfisch und entpuppen sich dann doch als gefährlich.[11] Sein Versprechen an Künhild, den Rittern nichts anzutun, bricht er kurz darauf, wodurch er zum ‚Bösewicht‘ wird: Er schliesst Dietleib in ein Zimmer, betäubt die anderen Gäste und lässt sie in den Keller sperren. Der Racheplan geht aber nach hinten los. Die Ritter siegen und nehmen Laurin als Gefangenen mit an den Hof, wo er seinen Göttern abschwört und zum Christentum konvertiert. Durch die Annahme des Christentums akzeptiert Laurin die höfischen Sitten und integriert sich damit in das soziale System. Der Hof ist somit der Raum, in dem Laurin eine komplette Sinneswandlung durchmacht.

Ritter in der Berghöhle: Hie fuort Laurin die helden in den holen berg/ und wurden sie verzaubert/ und ward der berg zuo geschlossen/ des kamen sie inn grosse not. Das Helden Buch mit seinen Figuren, [Augsburg] 1545: [Steiner] [=VD 16 H 1567]; München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 2173, p. 398 [Text: p. 397]. Digitalisat: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00025912

Dietrich der ‚Held‘?

Alles beginnt mit einer Laudatio auf Dietrich, die ihn als edle[n] Perner lobesam! (L, 20) vorstellt. Wenn er sich am Hof befindet, geht die Koppelung von Raum und höfischem Verhalten auf. In anderen Räumen zeigt sich aber, dass diese Einheit aufgebrochen werden kann. Ein erster Bruch lässt sich bereits vor der Abreise von Dietrich und seinen Gefährten bemerken. Herr Hildebrand, welcher Dietrich von dem Zwergenkönig Laurin und seinen Tyranneien berichtet, gerät in Zorn, als er von Dietrich hinterfragt wird: wer will sein ein pider man, der scholl sein red verporgen lon, uncz er derfert wie man ez cheer; daz hat er tugent und eer (L, 48–52). Diese Aussage – die Kritik und Ermahnung Dietrichs, der kurz zuvor als überlegener Fürst beschrieben wurde – verändert seine Darstellung entschieden.

Obwohl Dietrich und die Ritter den Rosengarten als fast paradiesisch empfinden, zerstören sie ihn kurz nach ihrer Ankunft. Eine weitere Diskrepanz zur anfänglichen Lobrede wird hier deutlich, und die wune wart do zerstört (L, 142). Dietrich antwortet dem Zwergenkönig gar wol gezogenleich (L, 116) bei dessen Ankunft im Rosengarten, verliert nachfolgend aber die Geduld: Herr Dietrich zurnen began (L, 439). Trotz grosser Anstrengung kann Dietrich den Zwergenkönig im Kampf nicht auf Anhieb besiegen. Als es ihm dann doch gelingt, fleht Laurin um sein Leben, doch der Perner hiet kein gut nicht (L, 538) und kann nur durch wiederholtes Bitten Dietleibs besänftigt werden. Dies wiederholt sich im späteren Verlauf, etwa wenn Dietleib Dietrich auch bezüglich der Königin Künhild besänftigen muss. In der Erzählung nimmt Dietrich nicht die Rolle ein, welche die anfängliche Lobrede ankündigt – um sich tugendhaft zu verhalten, braucht er die Ermahnungen anderer.

Schliesslich kehrt die Gefolgschaft samt Zwergenkönig zurück an den Hof. Dietrich und seine Gefährten haben âventiure erlebt und sich in Räumen fernab vom Hof dazu verleiten lassen, tugendlos und heroisch zu handeln. In diesen Räumen ist er auf andere Personen angewiesen, die ihm am Hof unterlegen sind. Genau diese Figuren sind es jedoch, die Dietrich zum Sieg verhalfen und seine Widereingliederung am Hof ermöglichen. Insbesondere lässt sich die Wiederherstellung der höfischen Norm – und somit die Bestärkung der tugendhaften Werte – daran erkennen, dass Dietrich Laurins Taufpate wird.

Schluss

Durch die unterschiedlichen räumlichen Konzepte zeigt sich die Komplexität des Laurin. So muss das Verhalten der Figuren jeweils in Abhängigkeit von den Handlungsräumen gelesen werden. Dietleibs Moral kommt beim Eintritt und beim Verlassen der Höhle zum Vorschein. Laurin verhält sich jedem Raum entsprechend: Im Rosengarten kann sein Verhalten gerechtfertigt werden, aber in der Höhle ist er der Bösewicht, und zum Schluss konvertiert er am Hof zum Christentum. Mit der Entfernung vom Hof distanziert sich Dietrich auch von seiner Tugend, doch zurück am Hof zeigt er Einsicht und schliesst Freundschaft mit Laurin. Künhilds Dilemma zieht sich durch die Höhle und den Hof, doch sie bleibt sich treu und vertritt stets ihre christlich konnotierten Werte. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Rolle der Zwischenräume, wie wir am Beispiel des Rosengartens gezeigt haben. Es sind diese Zwischenräume, in welchen die unterschiedlichen Moralvorstellungen – die Moral des Hofes und die Moral der Zwerge im Berg – aufeinanderprallen und sich der weitere Verlauf der Geschichte entscheidet.


[1] Vgl. Laurin. Hg. von Hendrukje Hartung u. a. Stuttgart 2016, S. IX-7. Zitate nach dieser Angabe künftig im Text unter der Sigle L mit Versangabe.

[2] Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/Boston 1999, S. 29.

[3] Vgl. Claudia Brinker-von der Heyde: Burg, Schloss, Hof. In: Tilo Renz / Monika Hanauska / Mathias Herweg (Hg.): Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2018, S. 101.

[4] Vgl. Andreas Hammer: Höhle, Grotte. In: Tilo Renz/ Monika Hanauska / Mathias Herweg (Hg.): Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2018, S. 289.

[5] Hammer 2018, S. 288. (wie Anm. 4)

[6] Vgl. Judith Klinger: Anderswelten. In: Tilo Renz / Monika Hanauska / Mathias Herweg (Hg.): Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2018, S. 27f.

[7] Vgl. Anna-Lena Liebermann: Wald, Lichtung, Rodung, Baum. In: Tilo Renz / Monika Hanauska / Mathias Herweg (Hg.): Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2018, S. 559f.

[8] Dieses Nicht-Wahrnehmen wird vom Text nicht weiter kommentiert, weshalb hier wie auch in der Forschungsliteratur diese Unfähigkeit des Wahrnehmens als ein möglicherweise unlösbares Rätsel anerkannt wird. Vgl. Florian M. Schmid: „der getwerge ebenture in den holen bergen“. Mittelalterliche Konstruktion und Rezeption von Raum im ‚Laurin‘. In: Christoph Bartsch / Frauke Bode (Hg.): Welt(en) erzählen: Paradigmen und Perspektiven. Berlin/Boston 2019 (Narratologia 65), S. 355–357.

[9] Vgl. ebd., S. 361.

[10] Vgl. Heinzle 1999, S. 166 (wie Anm. 2).

[11] Vgl. Hammer 2018, S. 291 (wie Anm. 4).

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