In der reformierten Theologie der Frühen Neuzeit galten sämtliche Gespenster als Werk des Teufels. Dieser agiere jedoch nicht aus eigenem Antrieb heraus, sondern lediglich als Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Diesbezüglich hält der Elsauer Pfarrer Bartholomäus Anhorn von Hartwiss (1616–1700) in seinem Traktat Zorn-Zeichen Gottes (1665) fest, dass Gott die Teufelsgespenster aussende, um die Frommen zu erschrecken, zu warnen und zu versuchen, und um die Sünder zu bestrafen.[1] Anhorn schreibt weiter, dass Gespenster – auf Geheiss Gottes – die Menschen offtmahlen gewalthätig zuverletzten pflegen.[2] Sie waren somit Teil des zu dieser Zeit intensiv geführten Wunderzeichendiskurses. Pestepidemien, Hungersnöte, Kriege etc. galten als Ausdruck des göttlichen Zorns für eine sündhafte Menschheit, gleichzeitig aber auch als Warnung vor zukünftigen Strafen und als expliziter Bussaufruf. Während die soeben genannten Phänomene als Zeichen einer allgemeinen Sündhaftigkeit aufgefasst wurden und eine kollektive Bussleistung einforderten, verwies die Erscheinung eines Gespensts aus semiotischer Sicht auf potenzielle Sünden der von ihm heimgesuchten Person.[3] So sind, wie Jan-Friedrich Missfelder im Zusammenhang mit den reformierten Geistern festhält, „Gespenstergeschichten immer Mediengeschichten.“[4]
Diese theologische Sichtweise wirkte sich auch auf die Deutungspraxis im frühneuzeitlichen Zürich aus. Reformierte Pfarrer unterzogen jene Personen, bei denen angeblich ein gewalttätiger Poltergeist wütete, einer eingehenden Prüfung: Gab es Indizien für eine sündhafte Lebensweise? Und falls ja, wie konnten diese Sünder:innen wieder auf den rechten Weg gebracht werden?[5] Obwohl dieses Erklärungsmuster bis in das 18. Jahrhundert hinein bestehen blieb, zeigt sich ab Ende des 17. Jahrhunderts jedoch ein historischer Wandel, was die Macht des Teufels, und damit verbunden – so die These – auch dessen Funktion als Vermittler Gottes betrifft. Ein Poltergeistfall aus den 1690er-Jahren veranschaulicht diesen Prozess.
Im Jahr 1692 berichtete der Pfarrer aus dem zürcherischen Dörfchen Hirzel, Felix Herrliberger (1659–1709), dass der Hof Steinmatt von einem Poltergeist heimgesucht werde. Der Geistliche beschreibt unterschiedliche Phänomene: Kästen, die sich wie von selbst öffnen, zerbrochene Gegenstände, zerrissene Kleider oder fehlende Nahrungsmittel. Als Angriffsziel des Teufels galt die siebzehnjährige Verena Hegi, die nach Aussage des Pfarrers von mysteriösen Ohnmachtsanfällen geplagt wurde und zwischendurch die Fähigkeit zu sprechen verlor.[6] Die junge Frau wurde in das Spital Oetenbach in Zürich eingeliefert, wo sie von den städtischen Kundschaftern befragt wurde. An der Ursachenfindung beteiligt waren neben Herrliberger und den Kundschaftern auch die städtischen Geistlichen sowie der Zürcher Stadtarzt und Physikprofessor Johannes von Muralt (1645–1733). Aufgrund der allgemeinen Ratlosigkeit holte der städtische Rat ein Gutachten von niemand Geringerem als Bartholomäus Anhorn von Hartwiss ein,[7] der sich nicht nur mit dem oben erwähnten Traktat zu den Zorn-Zeichen Gotteseinen Namen gemacht hatte, sondern vor allem mit einer über 1’000 Seiten umfassenden dämonologischen Abhandlung, der Magiologia (1674).[8]
Der Stadtarzt von Muralt vertrat ganz in reformierter Manier die Ansicht, dass es sich beim Gespenst um eine göttliche Strafe für die Sünden von Hegi handeln müsse. In der Gegend um Hirzel werde viel Lachsnerei (Hilfszauber)[9] getrieben und auch Hegi habe sich unterstanden, einige Zauberstücke auszuprobieren. Aus diesem Grund habe ihr Gott zur Strafe einen Poltergeist geschickt.[10] Pfarrer Herrliberger ging wie die Hirzener Dorfgemeinschaft hingegen davon aus, dass das Gespenst auf den Hof gezaubert worden sei.[11] Der Glaube, dass Zauberer und Hexen jemandem einen Poltergeist ins Haus zaubern könnten, war weit verbreitet und wurde ab Mitte des 17. Jahrhunderts von der Obrigkeit vermehrt als mögliche Ursache für Spukphänomene verhandelt.[12]
Bartholomäus von Anhorn brachte eine dritte Erklärung ins Spiel: Die Schäden würden gar nicht durch ein echtes Gespenst verursacht, sondern durch unsichtbare Menschen. Dass der Teufel selbst in Form eines Poltergeists wüte, halte er aus unterschiedlichen Gründen für unwahrscheinlich. So höre und sehe man das Gespenst am helllichten Tag. Zudem würden die vnmittelbaren Teüffels gespenst keine Kleider, Nahrungsmittel und Mobiliar beschädigen oder Kästen auf- und zuschliessen. Er führt weiter aus, dass wahrhaftige gespenster keine materialistischen Leiber hätten und deshalb Gegenstände nicht verstellen könnten. Nur Menschen mit einem fleischernen leib sei es möglich, auf die Materie einzuwirken. Sein Fazit: Der Schaden werde nicht durch ein leibloses gespenst verursacht, sondern durch einen leibhaffte[n] zauberer. Anhorn hält weiter fest, dass die Zauberer gar nicht wirklich unsichtbar seien:
Ihre leiber sind von natur aus sichtbar, unsichtbar aber, weil der Teüfel die außerliche sinnligkeit des gesichts verblendet, dass sie nicht gesehen werden, darby er diße seine Gott verleügnende diener beredt, sie können sich selbs unsichtbar machen […].[13]
Wie sollte man solchen Phänomenen nun begegnen? Anhorn referiert auf einen ähnlichen Fall, in welchem der Unsichtbarkeits-Zauber durch eine Verletzung des Zauberers aufgehört habe. Er schlägt dem Zürcher Rat deshalb vor, den Übeltäter, wenn möglich, aufzugreifen oder in ein Gemach einzuschliessen. Darin solle man mit einem Stab so lange herumschlagen, bis man damit den Zauberer treffe. Diesem Vorschlag musste der Zürcher Rat nicht mehr nachkommen, denn der Spuk in Hirzel hörte irgendwann von allein auf. In einem letzten Brief aus dem Jahr 1694 heisst es, dass Verena Hegi gesund und wohlauf sei und sich durch fleissige Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst verdiene.[14]
Anhorns Ausführungen sind erstaunlich, da er in seinem Traktat zu den göttlichen Zornzeichen im Jahr 1665 noch eine andere Ansicht vertrat. Wie bereits oben erwähnt, konnte für ihn der Teufel zu diesem Zeitpunkt Menschen körperlich angreifen und verletzen. Zudem schreibt er, dass der Teufel eine leibliche Gestalt annehmen könne:
Offtmahlen aber nemmen die Gespenster warhafftiger Leiber an sich / in denen sie betastet werden können […]. Mit diesen gespenst-leiberen hat es folgende Beschaffenheit. Der Teuffel bereitet ihme einen Leib auß dem Lufft / oder einer anderen diken Materi; welcher Leib / belangend seine Schwäre / Form / Farb / Bewegung und Stimm / einem menschlichen Leib ganz gleich scheinet […].[15]
Während der reformierte Dämonologe dem Teufel dreissig Jahre zuvor demnach noch eine fast uneingeschränkte Macht einräumt hatte, konnte der Widersacher Gottes für ihn nun nur noch die Sinneswahrnehmung täuschen. Anhorns Ausführungen zur Materialität des Teufels hängen ohne Frage mit gesamteuropäischen Entwicklungen zusammen. So debattierten Gelehrte ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhundert vermehrt darüber, wie der Teufel als Geistwesen auf die Materie einwirken könne.[16] Wie der Fall in der Steinmatt zeigt, brachte die verminderte Macht des Teufels ein neues Deutungsmuster in Bezug auf Poltergeisterphänomene hervor. Es ist wahrscheinlich, dass sich Anhorn eines populären Glaubens bediente, da Anleitungen, um sich unsichtbar zu machen, häufig in Rezeptsammlungen und Arzneibüchern zu finden sind.[17]
Was bedeutete dieser Wandel in Bezug auf den Teufel als Kommunikationsmedium Gottes? Die Erscheinung ‚echter‘ Poltergeister lenkte den Fokus zunächst einmal auf die Lebensweise der heimgesuchten Person und galt somit als unmittelbarer Bussaufruf Gottes. Ein angezaubertes Gespenst galt nicht mehr primär als Zeichen Gottes für die Versündigung einer heimgesuchten Person; vielmehr lenkte diese Deutung den Blick auf den bösen Willen einer Hexe oder eines Zauberers. Nun kam hinzu, dass nicht mal mehr der Teufel selbst die Phänomene verursacht haben soll, sondern Menschen, die sich mithilfe des Teufels unsichtbar machten. Indem der Widersacher Gottes zunehmend seine Macht verlor, büsste er auch seine Funktion als unmittelbares Heilszeichen ein.
Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Existenz des Teufels, von Geistern und von Zauberei um 1700, zumindest in der frühneuzeitlichen Schweiz, generell nicht in Frage gestellt wurde. Der soeben besprochene Fall belegt anschaulich, dass historischer Wandel nicht als eine Abfolge abrupter und präziser Zäsuren zu verstehen ist. Vielmehr konkurrierten jeweils mehrere Deutungsmuster miteinander, die sich gleichzeitig aus soteriologisch-religiösen, populären sowie intellektuellen Vorstellungen speisten, und deren Pro und Kontra sorgsam geprüft wurden. Dabei kam es zu Überschneidungen, Spannungen und Integrationen. Über die Jahrhunderte hinweg zeigt sich jedoch auch eine Konstanz in Bezug auf Spukphänomene: Sie dienten schon immer als ideale Projektionsfläche für Befürchtungen und Hoffnungen sowie moralische und religiöse Werte. Auf einer übergeordneten Ebene können wir mit dem Fokus auf die historische Semiotik von Gespenstern über die reine Phänomenologie hinaus ebenjene komplexen Sinngefüge offenlegen, auf die das Gespenst mit seiner Erscheinung verwies.
Eveline Szarka ist Postdoc.Mobility-Stipendiatin des Schweizerischen Nationalfonds SNF an der Universität Heidelberg. Ihre Dissertation Sinn für Gespenster. Spukphänomene in der reformierten Schweiz (1570–1730) erschien 2022 im Böhlau Verlag. Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Version eines Kapitels aus der Dissertation. Im Rahmen ihres Habilitationsprojektes erforscht sie Techniken der Geheimkommunikation im frühneuzeitlichen Deutschland.
[1] Bartholomäus Anhorn von Hartwiss: Christliche Betrachtung der vielfältigen, sich dieser Zeit erzeigenden Zorn-Zeichen Gottes, und Vorbotten seiner gerechten Straffen. Basel 1665, S. 341f.
[2] Ebd., S. 328.
[3] Eveline Szarka: Sinn für Gespenster. Spukphänomene in der reformierten Schweiz (1570–1730). Köln 2022 (Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 12), S. 135.
[4] Jan-Friedrich Missfelder: Nichts als Gespenster. Ludwig Lavater und die Medialität der Reformation. In: Archiv für Mediengeschichte 15 (2015), S. 121–129, hier: 122.
[5] Szarka, Sinn für Gespenster (wie Anm. 3), S. 220.
[6] StaZH A 27 164, Brief Felix Herrliberger, 22.12.1692. Insgesamt generierte der Schriftverkehr eine Akte mit über 40 Dokumenten, vgl. StaZH A 27.164, Akte zum Gespenst Hirzel, 1692–1694.
[7] BBB Mss. Hist. Helv. X. 91, Nr. 8, Bedenken Bartholomäus Anhorn von Hartwiss, 24.05.1693.
[8] Bartholomäus Anhorn von Hartwiss: Magiologia. Basel 1674.
[9] Zu diesem Begriff siehe Eveline Szarka: Vom Segnen und Lachsnen. Duldung und Verfolgung des Heilzaubers. In: Loetz, Francisca (Hg.): Gelebte Reformation. Zürich 1500–1800. Zürich 2022, S. 289–302.
[10] StaZH A 27 164, Bedenken Johannes von Muralt, 11.07.1693.
[11] StaZH A 27 164, Brief Felix Herrliberger, 16. und 22.03.1693.
[12] Szarka, Sinn für Gespenster (wie Anm. 3), S. 227.
[13] BBB Mss. Hist. Helv. X. 91, Nr. 8, Bedenken Bartholomäus Anhorn von Hartwiss, 24.05.1693.
[14] StaZH A 27 164, Brief aus dem Spital Oetenbach, 17.04.1694.
[15] Bartholomäus Anhorn von Hartwiss, Christliche Betrachtung (wie Anm. 1), S. 328.
[16] Szarka, Sinn für Gespenster (wie Anm. 3), S. 232f.
[17] Ebd., S. 230.