Content Notifications: Sexuelle Gewalt, Abtreibung, Gewalt gegen Frauen

Am 15.11.1654 wurde am Hof zu Hessen-Kassel ein Schreiben eingereicht, in dem Konstantin ‚Stam‘ Neurath (1633–1719), Lakai am Hof der Prinzessin und Schwester des Landesfürsten, der nothzucht anklagt wird. Verfasserin der Bitte um landesfürstlichen Beistand war Anna Martha Wißler. Sie identifiziert sich als Hans Georg Wißlers eheleibliche Tochter, ihrer Eltern Eheliches erzeugtes Landts Kindt, und bittet um Landts Vätterlichen Beistand. Das Schreiben hat einen Umfang von nur wenig mehr als einer Seite und nimmt Bezug auf eine womöglich längere Bittschrift vom vorhergehenden Tag, die vermutlich nicht erhalten ist. In dem kurzen Brief vom 15.11. wird beklagt, dass Konstantin Neurath abscheidt bekommen und die Gegend verlassen habe. Dem Brief hängt außerdem als Beigabe eine getrocknete Wurzel an, die er Anna Martha Wißler nach der Tat mit den Worten gegeben habe, sie solle davon nehmen, es werde ihr Schaden nicht sein und sie werde auch nicht schwanger werden; das hätten ihn Frauen in Frankreich gelehrt. Die unidentifizierte Wurzel, die im Aktenordner (zum Zeitpunkt der Einsicht) hinter dem Schreiben in Papier gehüllt liegt, ist also vermutlich ein pflanzliches Abtreibungsmittel oder ein Notfallverhütungsmittel.[1] Der Brief lässt nicht viele Schlüsse über Anna Martha Wißlers Identität zu. Dass sie sich aber lediglich als Landeskind und über ihren Vater identifiziert (statt über einen Ehemann oder ihren Stand), legt nahe, dass sie unverheiratet und nicht von gehobener Stellung ist.

Anna Martha Wißlers Schreiben, Landesarchiv Marburg, HStaAM M1 No. 445

Archivalische Quellen wie der oben erwähnte Brief galten seit Leopold von Ranke als Informationsträger von besonderer Authentizität und Bedeutung für das Verständnis vormoderner Gesellschaften.[2] Erst die Verbreitung von Video- und Tonträgern hat die Verzerrungen in der Aufzeichnung und Bewahrung archivalischer Quellen deutlich hervortreten lassen.[3] Vormoderne Quellen aus dem Archiv sind also in ihrer Objektivität eingeschränkt, selbst wenn es sich um Akten wie Protokolle handelt und nicht wie hier um kurze Ergänzungen zu unauffindbaren Bittschriften. Hinzu kommt, dass das Schreiben kurioserweise in Georg Landaus (1807–1865) Materialsammlung unter der Rubrik Aberglaube eingeordnet ist,[4] wodurch ein veränderter Kontext entsteht. Statt von Anzeigen und Prozessakten wegen (aus moderner Sicht) eher alltäglicher oder greifbarer Verbrechen wie Körperverletzung oder Raub ist Anna Martha Wißlers Klage umgeben von Verdächtigungen wegen Hexenseherei und Wahrsagerei aus den Jahren vor und nach ihrem Brief. Diese Verbrechen wären zu ihrer Zeit vermutlich ähnlich schwer geahndet worden wie sexuelle Gewalt. Beim Einsehen des Archivordners entsteht aber, für moderne Rezipierende wie uns oder Georg Landau, ein anderer Eindruck. Verbrechen im Umfeld von Hexerei werden in der Moderne als auf falschen Vorstellungen über die Welt basierend gesehen und daher als Falschanzeigen verstanden, da es das angezeigte Verbrechen nicht geben kann. Landaus Motivationen sind nicht mehr unzweifelhaft nachzuvollziehen, man kann aber annehmen, dass die angehängte Wurzel für die Abheftung in diesem Kontext verantwortlich war.

Im ersten Moment präsentiert sich das Schreiben samt Anhang also als deplatziertes, zusammenhangsloses Kuriosum. Wäre das Schreiben in seinem eigentlichen Kontext abgeheftet worden, wäre es vermutlich, wie die eigentliche Bittschrift, inzwischen verloren. Das Überleben, das Erfüllen der Speicherfunktion der archivalischen Akte, ist hier also nur ‚versehentlich‘ erfolgreich, als Folge seiner Deplatzierung und Dekontextualisierung. Die beigegebene Wurzel, als zusätzliche Informationsquelle neben dem geschriebenen Wort, erlaubt also Rückschlüsse, die das Schreiben allein nicht im gleichen Maße vermitteln würde, und bedingt die Überlieferung als aktenfremde Zugabe, die durch die Jahrhunderte hindurch das Interesse erweckt.

Als möglicher Teil einer Kriminalakte fehlt dem Schreiben Anna Martha Wißlers jeglicher Kontext. Kein sich anschließendes Verfahren ist überliefert. Es gibt nicht einmal Hinweise in den Akten, dass jemals ein Prozess gegen Konstantin Neurath eingeleitet wurde. Archivalisch ist das Schreiben trotzdem interessant. Es registriert als Negativ[5] den Eingang der vorauszusetzenden, jetzt fehlenden Bittschrift und verweist auf eine Leerstelle in den Akten, einerseits im Sinne der fehlenden Korrespondenz, andererseits auf das Ausbleiben eines Verfahrens, das Neuraths Schuldigkeit prüft und ahndet. Rechtshistorisch ist die Akte also wohl von mittelmäßiger Bedeutung und eher ein Beleg für die geringe Verfolgungsrate von sexualisierter Gewalt gegen Frauen in der frühen Neuzeit. Allerdings fehlen auch in dieser Hinsicht wichtige Informationen: Wieviel Zeit lag zwischen der Tat und dem Eingehen der Bittschrift? In welcher Funktion kam Anna Martha Wißler mit Konstantin Neurath in Kontakt? Wie alt war sie zum Tatzeitpunkt (eine Frage, die vor allem hinsichtlich der Verweise auf Vaterschaft und Landes-Vaterschaft interessant scheint)? Wie und von wem wurde die Bittschrift verfasst und übergeben?[6]

Als ein solches Fallbeispiel ist das Schreiben illustrativ in seinem kontemporären, rechtlichen Kontext und erlaubt einen kleinen Einblick in die konkreten, gelebten Auswirkungen historischer Ereignisse. Im Rahmen einer Modernisierung des Strafprozesses wurde im Jahr 1532, also 122 Jahre vor dem Schreiben, die Constitutio Criminalis Carolina im Heiligen Römischen Reich eingeführt, die Verfahrensweisen in der Strafverfolgung, vor allem von schweren Verbrechen, vereinheitlichen sollte.[7] Die Carolina setzte Regeln für die Strafverfolgung, die trotz ihrer Unterordnung unter die Landesrechte bis in das 18. Jahrhundert hinein relevant blieben.[8] Als vollen Beweis für schwere Straftaten wie nothzucht– also solche, die Körperstrafen nach sich zogen – schrieb sie mindestens zwei Tatzeugen oder ein Geständnis vor.[9] Im vorliegenden Fall gab es also ohne Geständnis keine Aussicht auf eine Verurteilung, und die Abreise bzw. Flucht Konstantin Neuraths legt nahe, dass er zu einem solchen nicht im Mindesten bereit war. Die Wurzel als weiteres Indiz könnte nachgeliefert worden sein, um den Prozess dringlicher zu machen, die Beweislast zu erweitern. Da Anna Martha Wißler, laut eigener Angabe, nicht von der Wurzel genommen hatte, bestand außerdem die Gefahr einer Schwangerschaft. Diese wäre dann, sollte für die Obrigkeit kein ausreichender Verdacht gegen Konstantin Neurath vorgelegen haben, als Beweis für Unzucht gesehen worden. Unzucht, anders als Abtreibung, wurde zwar nicht ‚peinlich‘, also mit Körperstrafen geahndet, galt aber ebenfalls als ein durch schwere Strafe zu ahndendes Sexualverbrechen.[10] Schlimmer noch, sollte eine Schwangerschaft folgen und mit einem Abgang oder einer Totgeburt enden, wäre Anna Martha Wißler als der Abtreibung oder der Kindestötung höchstverdächtig gewesen. Im Kontext der Carolina waren prinzipiell alle unverheirateten Frauen (insbesondere von niederem Stand) potentielle Kindsmörderinnen, da vor allem diese Frauen Grund hatten, Schwangerschaft und Geburt zu verheimlichen, um Unzucht zu verbergen.[11] Da Hinrichtungsraten für Abtreibung und Infantizid nach Kodifikation der Carolina in die Höhe schossen, war ein Prozess gegen Konstantin Neurath auch angesichts der hohen Kindersterblichkeitsrate in ihrem Interesse.[12]

Die Wurzel, eingelegt in Anna Martha Wißlers Brief, Landesarchiv Marburg HStaAM M1 No. 445

Die Carolina erweiterte zudem die Autorität der weltlichen Gerichtsbarkeit, Folter zur Beweiserbringung jenseits von Strafen wie Häresie oder Hochverrat einzusetzen.[13] Diese Methode war besonders relevant für Straftaten, die von Natur aus schwer nachweisbar waren – wie zum Beispiel die Abtreibung in einer Zeit, die ohnehin von besonders hoher Kindersterblichkeit geprägt war, oder die Abtreibung während einer heimlichen Schwangerschaft. Mit der partiellen Gleichsetzung und Kriminalisierung von Abtreibung und Kindstötung reagierte die Carolina, beeinflusst wohl auch durch den zunehmenden Fokus auf Moral im Kontext der Reformation und Gegenreformation, auf eine vermeintliche Welle von Unmoral. Um dem beizukommen, was als eine Welle von Gewalt gegen Kinder durch ruchlose Frauen wahrgenommen wurde, wurden schwerste Körperstrafen zur Abschreckung verhängt.[14] Während Fälle vor 1600 in der Regel lokal verhandelt und im Verurteilungsfall eher mit Exil geahndet wurden, waren Exekutionen nach 1600 eine regelmäßige Erscheinung.[15] Abtreibung, im Gegensatz zu Kindstötung (wenn auch in der Carolina gemeinsam unter ‚Tötung‘ verhandelt)[16], ist als Verbrechen gegenüber dem Vorfall des ungeplanten Abgangs eines Fötus lediglich durch Absicht zu unterscheiden. Absicht aber ist juristisch schwer zu belegen, weshalb Folter als Instrument der Wahrheitsfindung in diesen Fällen gebräuchlich war.[17] Die Anforderung, als vollen Beweis zwei Zeugenaussagen oder ein Geständnis vorzuweisen, machte die Folter zur Beweiserbringung in privaten oder verborgenen Straftaten wie Abtreibung zu einem logischen Schritt.[18]

Als Fallbeispiel oder Mikrohistorie kann das einfache Dokument mit einem Umfang von nicht mehr als einer Seite also die dramatischen Konsequenzen der frühneuzeitlichen Gesetzgebung illustrieren. Im Falle einer Schwangerschaft ohne erbrachten Beweis der nothzucht wäre Anna Martha Wißler vermutlich der Unzucht bezichtigt worden, als ledige Frau im Falle eines Abgangs womöglich sogar mit ‚peinlicher‘ Befragung bis hin zu Exekution konfrontiert gewesen. Paradoxerweise ist das Wissen um ihren Fall nicht der Speicherfunktion der Archivalie zuzuschreiben, schon gar nicht der Prozessakte, da die Supplik allem Anschein nach in dem Versuch, ein Verfahren einzuleiten, nicht erfolgreich war. Die Akte als Speichermedium[19] ist hier vielmehr nur in der Lage, ihre Aufbewahrungsfunktion zu erfüllen, wegen dem, was ihr eigentlich Fremdes, Äußeres sein sollte: dem physischen Beweisstück. Die Beigabe der Wurzel ermöglichte es dem Brief – als Kuriosum statt als Teil einer Prozessakte –, später vom Archivar und Historiker Landau aufbewahrt zu werden.

Als Akt („das, was einen bestimmten Typ von Recht generiert“[20]) repräsentiert der Brief Anna Martha Wißlers also ein Bruchstück oder ein Scheitern. Wesentliche Funktionen der Prozesshaftigkeit von Akten sind durch den veränderten Kontext verlorengegangen, aber auch die Prozesskette, die das Schreiben im juristischen Sinne anzustoßen suchte, ist unterbrochen/nicht vorhanden. Ihre Anzeige wurde, soweit der Überlieferungszustand Rückschlüsse zulässt, vermutlich ad acta, zu den Akten, gelegt und damit abgeschlossen/abgebrochen. Es verbleiben keine Hinweise, dass Konstantin Neuraths Schuld geprüft oder Anna Martha Wißler zu einer weiteren Befragung geladen wurde.

Zum einen erlaubt das Schreiben also selbst als geringstmögliches, de-kontextualisiertes Überbleibsel noch Schlüsse auf und Spekulationen über das frühneuzeitliche Alltagsleben; im Besonderen fungiert es als Zeugnis der Realität einer marginalisierten Gruppe im Heiligen Römischen Reich: hier nichtadlige Frauen. Zum anderen wird die Person Anna Martha Wißlers auf das an ihr verübte Verbrechen reduziert – soweit ersichtlich ist alles, was in den Akten von ihr bleibt, eine kontextlose Ergänzung einer Fürbitte und ein Abtreibungs- oder Verhütungsmittel, letzteres als kurioses Artefakt, welches im Aktenordner eigentlich nichts zu suchen hat. Abgeheftet in Georg Landaus Nachlass unter der Rubrik Aberglaube ist anzunehmen, dass die Wurzel als aktenfremdes Kuriosum das Interesse des Archivars erweckte und die (aktenfremde) Aktion des De-Kontextualisierens und Auftrennens des Aktenprozesses bedingte, aber letztlich auch die Überlieferung des Schreibens und der festgehaltenen Anklage in Landaus Nachlass.

Steve Commichau (er/ihm) ist PhD Kandidat im Bereich Germanistik an der University of British Columbia. Seine Forschungsinteressen beinhalten Monstrosität in vormodernen Texten, mit einem besonderen Fokus auf Körper und Geschlecht in nicht-fiktiven, frühneuzeitlichen Geisterberichten.


[1] Das Schreiben, nebst Wurzel, ist erhalten im Landesarchiv Marburg mit der Kennung HStaAM M1 No. 445.

[2] Head, Randolph C.: Making Archives in Early Modern Europe. Proof, Information, and Political Record-Keeping, 1400–1700. Cambridge / New York 2019, S. 4.

[3] Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2001, S. 26.

[4] https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=s200704.

[5] Vgl. Vismann, Akten (wie Anm. 3), S. 174.

[6] Fragen nach der Verfolgungsrate von sexualisierter Gewalt (in Europa generell zwischen 1–2%) oder nach der Identität der Anzeigenden (häufig Väter oder Ehepartner) werden z. B. diskutiert in Steinberg, Sylvie / Rubens, Andrew: Reading and Interpreting Accounts of Rape in the Criminal Archives (Early Modern Europe). In: Clio. Women, Gender, History 52 (2020), S. 169–198.

[7] Ignor, Alexander: Geschichte des Strafprozesses in Deutschland. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz. Paderborn 2002, S. 43.

[8] Ebd.,S. 28.

[9] Ebd., S. 62.

[10] Lewis, Margaret B.: Infanticide and Abortion in Early Modern Germany. London / New York 2016, S. 27.

[11] Ebd., S. 17, 25.

[12] Ebd., S. 2.

[13] Ebd., S. 22.

[14] Ebd., S. 27; Juo Schoeffer [Drucker]: Kaiser Carl des Fünften und des heiligen Römischen Reichs peinliche Halsgerichtsordnung, Meyntz 1534, Bayerische Staatsbibliothek München, CXXXI–CXXXIII. Online: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb00019882?page=1.

[15] Lewis, Infanticide and Abortion (wie Anm. 10), S. 2, 18.

[16] Juo Schoeffer, Peinliche Halsgerichtsordnung (wie Anm. 14), CXXXI–CXXXIII.

[17] Lewis, Infanticide and Abortion (wie Anm. 10), S. 19–22.

[18] Ignor, Geschichte des Strafprozesses (wie Anm. 7), S. 28.

[19] Vismann, Akten (wie Anm. 3), S. 11.

[20] Ebd., S. 9.

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