«Ei du kleiner Knirps, was gibt’s denn durch das Guckloch zu schauen? Willst du aus der engen, bekannten Welt des elterlichen Gartens einen Blick hinaus tun in die weite, unbekannte Welt draussen?» fragt die Pädagogin Adelheid Stier den kleinen Protagonisten ihrer Kurzgeschichte Am Ausguck. Zur Sprache kommen hier die kindliche Schaulust und Neugier, aber sogleich auch ihre Tücken. Denn der Knabe erblickt den furchteinflössenden Nachbarshund und nimmt Reissaus: «Von dem Ausguck in die weite Welt aber hat er vorläufig genug […].» Dem Drang des Knaben, Neues und Unbekanntes zu entdecken, stehen Sicherheit und Vertrautheit des Elternhauses gegenüber. Sich von dieser heilen Geborgenheit loszureissen und der lockenden Fremde jenseits des Zauns hinzugeben, getraut sich das Kind noch nicht. In seiner Verwunderung deutet sich indes ein Wissensdrang an, der in neugieriges Fragen münden kann.
Was der Knabe nach seiner eindrücklichen Erfahrung macht, verrät die Geschichte nicht. Vielleicht beschaut er nun – drinnen in der warmen Stube – ein farbiges Bilderbuch, entzückt über die wundersame Welt, die es darin zu lesen, zu sehen, zu bestaunen gibt. So kann er die nahe und ferne Umwelt entdecken, ohne sich den realen Gefahren aussetzen zu müssen. Indem er munter im Buch blättert, mal diese, mal jene Dinge betrachtet, wird er schrittweise in eine Wissenskultur eingeführt, die auf seinem Staunen fusst. Am Bilderbuch lassen sich mithin historisch unterschiedliche Phänomene und spezifische Situationen des Medialen beobachten.
Seit der Antike wird das Staunen in religiösen, philosophischen und poetisch-ästhetischen Diskursen auf ambivalente Weise verhandelt: Zwischen neugierigem Nachfragen und (ver)wundernder Erstarrung oszillierend wird es aber allenthalben als Keimzelle von Erkenntnisprozessen verstanden. Im Sinne eines epistemologisch relevanten Grenzphänomens ist das Staunen mithin an Verfahren der Wissensvermittlung beteiligt und bewegt sich dabei auf dem schmalen Grat zwischen kognitivem Affekt und emotionaler Erregung. Während Adelheid Stiers Knirps genussvoll vor dem Unbekannten verharrt, wird er zugleich in einen Lernprozess verwickelt, der seine Neugier befördert. Kurz: Am Anfang der Welterschliessung steht das kindliche Staunen.
In der Figur des staunenden Kindes, die im 18. Jahrhundert zusehends Form annimmt, finden dichtungstheoretische und didaktisch-pädagogische Überlegungen zusammen. Wird das Kind als unwissendes, naives Neugierwesen konzeptualisiert, gerät es sodann in den Blick einer mit Staunensrhetorik operierenden Erziehung. Haftet dieser Wissensgier zwar die Kehrseite sinnlicher Zerstreuung an, kann sie hingegen didaktisch produktiv gewendet werden, indem kindliche Aufmerksamkeit gelenkt und Imaginationskraft instrumentalisiert wird. Im sorgfältig gesteuerten Staunen kann sich das Kind lauter Wissenswertes aneignen. Diese theoretisierte Neugier findet in Konzepten des spielerischen Lernens sowie in bebilderten Sachbüchern für Kinder und Jugendliche ihre praktische Entsprechung. Eine auf Visualisierung beruhende Wissensvermittlung, bei der sich piktorale und verbale Elemente wechselseitig ergänzen, erlebt im 18. Jahrhundert einen regelrechten Boom. Staunen wird als pädagogisches Instrument entdeckt: Das anregend illustrierte Bilderbuch mit seinen realistischen Darstellungen verdrängt nach und nach rein sprachorientierte, mnemotechnische Lehrformen.
Ein einträgliches Beispiel für die Verbindung von Theorie und Praxis sowie von Text und Bild ist Johann Bernhard Basedows Elementarwerk aus dem Jahre 1774. Basedow gilt als Mitbegründer des reformpädagogischen Philanthropismus. Seine Enzyklopädie für Kinder zielt auf einen vergnüglichen Unterricht, der vom Leichten zum Schweren voranschreitend grundlegende Bildungsinhalte stufenweise und altersgerecht zu vermitteln sucht. Ganze 100 kunstvoll gestochene Illustrationen veranschaulichen dabei den Gesprächstext. So entzünden sich Staunen und Neugier nicht nur visuell an den Kupfertafeln selbst, sondern werden auch im Dialogmodus zwischen Lehrinstanz und rezipierendem Kind erzeugt. Exemplarisch geschieht dies etwa im Kapitel zu den menschlichen Trieben, in welchem die Wissbegierde thematisiert und problematisiert wird.
«Seht den Seiltänzer! Er hat sich geübt, mit einer Balancirstange, die ihn im Gleichgewichte erhält, auf dem schlaffen und auch auf dem steifen Seile zu gehn, zur Verwundrung der Zuschauer.» In direkter Ansprache weckt Basedow die Aufmerksamkeit seines Publikums und lenkt sie auf das Zentrum des Bildes. Seine Beschreibung bedient sich an Begriffen des Wunderbaren. Was beim artistischen Seiltanz zu Erstaunen führt, wirkt bei den «wunderliche[n] Gebärden» des Harlekins auf der rechten Seite «zum Vergnügen der neubegierigen Zuschauer». Und weiter: «Wer so etwas noch nicht gesehen hat, der mag es wohl sehn. Denn der Mensch ist mit dem Instinkt der Neubegierde gebohren.» Neugier – die Gier nach (Erkenntnis von) Neuem – fungiert somit als genuiner Antrieb zur Wissenssuche: Das lernende Kind ergötzt sich am Unbekannten, das Staunen erregt. Diese angeborene Wissbegierde gilt es jedoch, folgt man Basedows Erziehungsimpetus, im Zaum zu halten. Klingt die Narrheit in der Figur des Harlekins bereits an, verdichtet sie sich im Knaben, der «neubegierig zu sehn [war], wie es ihm ginge, wenn er in einen Kahn stiege und ihn los machte», zum gefährlichen Vorwitz. Im Hintergrund des Bildes ist zu sehen, wie das «verwegene Närrchen», unwissend und unerfahren, bei diesem Versuch beinahe ertrinkt. Der erzählende Kommentar wechselt darauf wieder zur direkten Rede eines mahnenden Lehrsatzes: «Widersteht eurer Neubegierde, wenn sie euch in Gefahr bringt, oder zu abgerathnen und verbotnen Handlungen reizt.»
Auf das vergnügliche Lernen im Bilderbuch folgt so immer wieder lenkende Didaxe. Einer Pädagogik der Anschauung eignet hier eine auffällige Poetik des Staunens. Dabei sorgt das Zusammenspiel von Text und Bild dafür, dass die neugierigen Kinder immer mehr hören, sehen, lesen und wissen wollen. Es ist das Neuartige, das Seltsame, das Staunen hervorruft, wie es auch die Tafel zu den Affekten zeigt. Diese zwei Männer haben noch nie das weite Meer erblickt, jene noch nie ein solch grosses Gebirge, die springenden Knaben noch nie einen abgerichteten Hund. «Alle sind erstaunt, alle im Affecte der Verwunderung über diese ihnen ungewöhnliche Gegenstände.» In Basedows Elementarwerk findet sich die Ambiguität wieder, die schon beim Knaben am Guckloch begegnet: Im Staunen beginnt ein Lernprozess, ein erstes Erkennen der Welt, das von Anfang an prekär, ja gefährlich ist und daher kanalisiert werden muss. Staunen will gelernt, aber auch gelehrt sein.
Diese und über 100 weitere Exponate versammelt die Online-Ausstellung Staunen im Kinderbuch, die als Teil des SNF-Sinergia-Projekts «The Power of Wonder» in Kooperation mit dem Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien entstanden ist. Anhand ausgewählter Beispiele von der Mitte des 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgt sie zeitspezifische Inszenierungen und Instrumentalisierungen des Kinderstaunens. Zwanzig «Perspektiven» eröffnen dabei Einblicke und Zugänge in Themen und Motive der einzelnen Werke, wenn man nicht einfach neugierig auf dem violetten Büchertisch stöbern will. Infotafeln vermitteln Hintergrundwissen zu den bunten Bilderbüchern; Audiobeiträge imitieren deren konkrete Vorlesesituation. Während die Materialität der Exponate in ihrer digitalen Aufführung zwar nicht mehr erfahrbar ist, vermag die Ausstellung dennoch das Publikum eindrücklich in die zauberhafte Welt der Kinderbücher zu entführen und selbst in Staunen zu versetzen.
Pasquale Pelli studiert Geschichte und Mediävistik an der Universität Zürich und hat an der Ausstellung mitgewirkt.