In der gutgemeinten Warnung «Pass doch auf, wo Du hinfolterst!» lässt der deutsche Komiker Otto Waalkes 1984 seine ebenso knappe wie hellsichtige Darstellung des «finsteren Mittelalters» kulminieren. Aufpassen, wo er hinfoltert, muss auch der in Lederkluft gewandete Scharfrichter-Darsteller auf dem Mittelaltermarkt im Zürcher Oberland. Gerade hat sich eine junge Marktbesucherin im strahlenden Sonnenschein auf seine Streckbank gelegt. Fachkundig fesselt der Folterknecht ihr die Hände hinter dem Rücken, bittet sie noch, die Sonnenbrille kurz abzunehmen und verbindet schliesslich das Seil mit der hölzernen Winde am Kopf der Streckbank. Langsam zieht er ihre Arme am Seil nach oben, bis sie fast gerade nach oben ragen. Während der «Scharfrichter» ebenso informiert wie routiniert über vormoderne Folterpraktiken doziert, bewundern die Umstehenden die yoga-gestählte Flexibilität seines Opfers. Obwohl sie bekennt, nur ganz wenig Schmerz zu empfinden, beruhigt der Folterknecht sein Publikum: Bevor die Maschine die Schultern der jungen Frau ausgekugelt hätte, würde eher die hölzerne Konstruktion zerbrechen. Trotzdem atmet sie erleichtert auf, als der «Scharfrichter» wieder von ihr ablässt. Die Zeitreise ist glücklicherweise vorbei: einmal Mittelalter und zurück, Foltern inklusive.
Mittelaltermärkte setzten auf den Körper als Medium der Geschichtserfahrung. Das haben sie in der zeitgenössischen populären Geschichtskultur mit Re-Enactments gemeinsam. Wo am einen Ort in Präsentationen historischer Handwerkskunst die Wiederaneignung verlorener Körpertechniken zelebriert wird, geht es bei grossformatigen Nachstellungen historischer Szenen um die Ganzkörpererfahrung von Geschichte im Kostüm. In beiden Formen artikuliert sich ein eigentümlich paradoxes «Verlangen nach Präsentifikation» (Hans Ulrich Gumbrecht) der Geschichte. Einerseits wird dabei die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart neu justiert. Die Geschichte ist nicht mehr deswegen interessant, weil sie Aufschlüsse über das «So-und-nicht-anders-geworden-sein» (Max Weber) der Gegenwart bietet, sondern weil sie das Versprechen bereithält, Alterität als solche zu erleben: «Durch den Wunsch nach Präsenz werden wir dazu bewogen», so Gumbrecht, «auf die Sinnfrage zu verzichten und uns statt dessen auszumalen, wie wir uns theoretisch und körperlich zu bestimmten Gegenständen verhalten hätten, wenn wir in ihrer eigenen historischen Alltagswelt auf sie gestossen wären.» Dieses nekromantische Bedürfnis, den eigenen Körper in konkrete Interaktion mit historischen Objekten zu bringen, ist sich seiner eigenen Begrenztheit andererseits stets bewusst. Die totale historische Erfahrung gibt es nicht, sie scheitert an der Überkomplexität der Vergangenheit. Also arbeiten Re-Enactments im Modus der Metonymie. Im einzelnen, isolierten körperlichen Erleben wird der ganze Geist des Mittelalters im Wortsinne spürbar. Doch um diese Erfahrung zu ermöglichen, muss die Geschichte zum Anderen werden, das nur durch den Körper erlebt, aber nicht durch Geschichtsschreibung verstanden werden kann.
Daher bezeichnet die Erfahrung von Folter nur den Extremfall eines generellen Musters von Körperbehandlung in der living history. Der Schmied, der für die für seine Arbeit benötigte Glut durch das mühsame Treten eines mechanischen Blasebalgs selbst sorgen muss, wird ebenso aus seiner vermeintlich modernen Komfortzone gestossen wie die Tänzerin an einem Jane-Austen-Memorial-Ball, die sich in ein enges Korsett zwängt. Anstrengung und Schmerz werden dabei als Erlebnis von Fremdheit begrüsst, denn eben sie verbürgen die Authentizität der historischen Erfahrung. Dieser gleichsam geschichtstheoretische Masochismus beruht selbstverständlich auf dem Wissen, dass diese Schmerzerfahrungen reversibel sind, dass der «Scharfrichter» seine Winde schon nicht so weit drehen wird, bis es ernsthaft wehtut. Einerseits handelt es sich also um Meta-Schmerz, um historische Ironie. Bei «Folterey» und «Henkerey» muss immer auch «Spasz dabei» bleiben, um die exit option der Zeitreise offen zu halten. Andererseits ist es kein Zufall, dass die Möglichkeit körperlicher Geschichtserfahrung auf dem Mittelaltermarkt gerade am Grenzfall der Folter verhandelt wird. Bis weit in die Frühe Neuzeit hinein galt in der juristischen Theorie als ausgemacht, dass in der Folter die Wahrheit als Licht käme. Diese diente, so etwa der italienische Scholastiker Albertus Gandinus in seinem Tractatus de maleficiis von 1299, «ad eruendam veritatem». In der Folter erwies sich der Körper als Medium der Wahrheit, der «Körper im Schmerz» (Elaine Scarry) konnte nicht lügen. Diese Logik der Tortur, die prominent etwa durch Friedrich von Spee in seiner Cautio criminalis von 1631 dekonstruiert wurde, kehrt damit auf dem Mittelaltermarkt in gespenstischer Weise zurück. Einzig ein temporär und aushaltbar geschundener Körper verspricht die Wahrheit der Geschichte. Das Motiv der Zeitreise, das für so viele Re-Enactments das grosse Versprechen darstellt, erweist sich so als eine angstlustige Reise in den Schmerz. Auf dem Mittelaltermarkt wiederholt sich die Tragödie der vormodernen Folter als geschichtskulturelle Farce.
Jan-Friedrich Missfelder forscht und lehrt am Historischen Seminar der Universität Zürich.
Photos © Yasemin Agirbas, Ursina Storrer
Nächster Beitrag (1.11.): Incubus Faust (Claudia Keller)