Category Archives: Kipp-Momente. Prominenz, Selbstinszenierung, Kontrollverlust; am Beispiel von Kanye West

Hanna Pretreshnja

Kipp-Momente

Prominenz, Selbstinszenierung, Kontrollverlust; am Beispiel von Kanye West

In meiner Arbeit ging es mir darum zu erforschen, wie Prominenz entsteht und erhalten bleibt, wie die (Selbst-) Inszenierung von Prominenten vorgenommen wird, und was sie zum Ziel hat. Dabei wird behandelt, welche Rollen die klassischen Medien, und die jüngeren Sozialen Medien, einnehmen.
Im Weiteren befasste ich mich damit, was geschieht, wenn prominente Personen die Kontrolle über ihre eigene Inszenierung verlieren. Ich wollte erarbeiten, wie dies geschehen kann, und was zu diesen sogenannten Kipp-Momenten führen kann, in denen die Inszenierungsmacht nicht bei den Prominenten liegt. Dabei bin ich auch auf die pop-kulturelle Erscheinung, und Konsum, von Klatsch-Publikationen eingegangen, und darauf, welche Gefühle – u.a. die Schadenfreude – damit verbunden sind. In all dem soll auch erkennbar sein, wie diese Faktoren dazu beitragen, dass Prominenz für die Konsumierenden interessant ist.

Im Bezug auf die sogenannten Kipp-Momente konnte ich am Ende des ersten Teils meiner Arbeit Folgendes feststellen:
Mit der Selbstinszenierung versuchen die Prominenten Einfluss auf die Rezeption des Publikums zu nehmen. Bei Kipp-Momenten verliert die prominente Person die Kontrolle über die Inszenierung ihres Selbst – in Form von Patzern, Fehlern, Skandalen – und das Publikum fragt sich: Wollte diese Person das, oder hat sie sich nicht mehr im Griff?
Viele Momente des möglichen Kontrollverlusts von Prominenten finden heutzutage in den Sozialen Medien statt, so schreibt der Kulturwissenschaftler Graeme Turner:

„In celebrity news today, one of the most commonly cited signs of a celebrity caving in to stress or exhibiting signs of mental disturbance is the posting or tweeting of inaproppriate or unusually candid comments about their private lives“

Turner, Graeme. Understanding Celebrity. Los Angeles: SAGE Publications, 2014. S. 75.

Auch Gossip-Publikationen stellen eine Möglichkeit dar, die Selbstinszenierung von Prominenten zu stören. Sie können mit ihrem Klatsch Gegen-Narrative schaffen.
Wenn Gegennarrative auf Narrative treffen, wie beispielsweise bei Celebrity Gossip Inhalten, kann
ein Kampf um die Inszenierungshoheit entstehen. Welche Inszenierung, welches Narrativ, gilt?
Hier liess sich erkennen, welche Rolle die Rezeption dabei spielt. Die öffentliche Wahrnehmung, Rezeption, macht den Kipp-Moment aus. Sie bestimmt, welchem Narrativ gefolgt wird.
Die Rezeption ist abhängig vom inszenierten Narrativ der prominenten Figur, von den mediatisierten Gegen-Narrativen, und vom konkreten Ereignis.
Die Reaktion des Publikums auf ein Ereignis wird von verschiedenen Gefühlen beeinflusst,
unter anderen der Schadenfreude. Will es, beispielsweise, die prominente Figur diskreditiert sehen, und die eigene negative Wertung dieser Person bestätigt haben?

Ich bezog mich im zweiten Teil meiner Arbeit auf das Beispiel von Kanye „Ye“ West. Er steht schon seit fast 20 Jahren in der Öffentlichkeit und hat seit Beginn seiner öffentlichen Karriere für Schlagzeilen und Kontroversen gesorgt. Sein Beispiel erschien mir interessant, weil es sehr lange so schien, als habe er trotz aller negativen Reaktionen weiterhin die Kontrolle über seine Selbstinszenierung. Sein unberechenbarer und provozierender Auftritt schien für sein Image als musikalisches und kreatives „Genie“ zu sprechen, so interpretierten es zumindest seine Fans.
Ich befasste mich mit der Dokumentarfilmreihe „Jeen-Yuhs“, und einzelnen Lieder Wests, um seine Selbstdarstellung analysieren zu können. Dann sammelte ich Reaktionen auf diese Inhalte, und zusätzlich auf seine letzteren Skandale und öffentlichen Auftritte, die mehrheitlich online stattfanden. Im letzten halben Jahr machte West immer wieder Schlagzeilen, weil er in den Sozialen Medien seine Ex-Frau Kim Kardashian und deren neuen Partner öffentlich angriff und belästigte.

Ein Aspekt Wests öffentlicher Person, welcher immer wieder zu Thema wurde, war seine psychische Verfassung. 2016 wurde bei ihm eine bipolare Störung diagnostiziert, und später öffentlich gemacht. Diese Diagnose scheint ebenfalls grossen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung Wests zu nehmen, und ist ein zentrales Thema des öffentlichen Diskurses rund um West und sein Verhalten in der Öffentlichkeit.

Wests «Ausbrüche» wurden lange Zeit mit seinem Image des Genies erklärt und entschuldigt.
Er scheint durch sein Verhalten immer weiter an Kredibilität als öffentliche Figur zu verlieren, was mit der Zeit auch dazu führt, dass er auch als Musiker und Künstler an Kredibilität verliert. Er wurde lange als Meister-Provokateur verstanden, jedoch scheint diese Provokation ab einem gewissen Punkt auch so extrem über die Grenzen des sozial allgemein Akzeptierten hinauszuschlagen, dass es klar negativ gewertet wird, und sich auch negativ auf die Wahrnehmung seiner öffentlichen Person auswirkt.
Den, von mir analysierten, Beispielen zufolge, sind die letzteren Ereignisse rund um West nun für viele seiner Fans ein Punkt, an dem es naheliegend, und vielleicht nötig, scheint, ihn nicht mehr zu unterstützen. Er verletzt gesellschaftlich aktuell geltende Wertvorstellungen und Verhaltensnormen, als öffentlicher «harasser» Kardashians. Er verstösst mit der öffentlichen Preisgabe seines gewalttätigen Verhaltens gegen den Zeitgeist. Dies bringt auch viele Anhänger*innen Wests dazu, zu hinterfragen, wie sie ihm begegnen sollen.

Eigentlich sollte in meiner Arbeit Kipp-Momente einer prominenten Person analysiert werden. Im
Fall von Kanye West ist es jedoch so, dass er viele kontroverse Momente, gewollt oder ungewollt,
kreiert hat. Man kann also nicht von einem, oder mehreren einzelnen Kippmomenten sprechen,
sondern das Ganze ist wohl eher als ein fortschreitender Prozess einzuordnen.
West beeinflusst durch Kontroversen die öffentliche Wahrnehmung von ihm, und die öffentliche
Wahrnehmung macht die Kipp-Momente aus, das Ganze besteht also als andauernder Kipp-Prozess.

Fest steht, dass der Prozess immer noch im Gange, also nicht vollendet, ist. Und, dass West, und das Team von Publizist*innen rund um ihn, durch (Selbst-) Inszenierung versuchen, dagegenzuwirken. West scheint nicht so leicht zu kippen.