Category Archives: FLUCHT AUS DER ZWEISAMKEIT. Liebes- und Lebensutopien abseits der Monogamie

Selina Zora Rohr

Liebes- und Lebensutopien abseits der Monogamie

In diesem Blog wird ein Einblick in die Ergebnisse der Bachelorarbeit zum Thema Polyamorie und anderen alternativen Beziehungsformen gegeben.

Folgendes Video, welches die Präsentation dieser Bachelorarbeit darstellt, ist aus Bruchstücken der Interviews sowie aus verschiedenen Fotos zusammengetragen worden, wobei die Fotos nur teilweise von den interviewten Personen stammen. 

Alternativ und frei?

Forschungsinteresse der Arbeit war, sich mit dem Phänomen der Polyamorie und anderen alternativen Liebes- und Lebenskonzepten auseinanderzusetzen, in welchen die Akteur*innen eine Mehrzahl von Beziehungspersonen haben, sei es romantisch oder freund*innenschaftlich.

Die Personen wurden zuerst in Gruppen von 3 Personen interviewt und im Verlauf der Verschriftlichung der Arbeit dann erneut separat für Interviews getroffen. Einige der Befragten, welche an den Gruppeninterviews aus zeitlichen Gründen nicht teilnehmen konnten, wurden einzeln interviewt. Zusätzlich wurde mit den Teilnehmer*innern über den Messagerdienst Telegram kommuniziert, was zusätzliches Interviewmaterial in Form von Sprachnachrichten zur Folge hatte. 

Das Sample der zu erforschenden Personen beschränkte sich auf junge Menschen, die sich in alternativen Kreisen innerhalb der Stadt Zürich aufhalten und sich mehr oder weniger auch über diese Subkulturen definieren. 

Durch die Definition über diese alternativen linken Subkulturen, welche bürgerliche Wertvorstellungen sowie kapitalistische Denkweisen ablehnen, werden auch Liebesbeziehungen und Freund*innenschaften kritisch hinterfragt. 

Das Kollektiv wird dabei ins Zentrum gerückt und somit hinterfragt, wieso es eine Exklusivität beziehungsweise den Fokus auf eine Person in der bürgerlichen Wertevorstellung gibt. Der Wunsch nach Kollektivität lässt sich unter anderem auch durch die Vereinzelung der Gesellschaft, welche die Interviewten wahrnehmen, erklären.

Formen des Kollektivs

Innerhalb der Arbeit wurden acht Personen interviewt. Von ihnen leben sechs in Liebesbeziehungen und haben entweder mehrere Beziehungspersonen oder sicherlich mehr Sexualpartner*innen. 

Jede*r der sechs Befragten lebt eine individuelle Form der Polyamorie / offenen Beziehung. Die meisten der Befragten haben zwar mindestens eine feste Beziehungsperson, doch wird diese Beziehungsperson von jeder befragten Person anders hierarchisiert. Einige führen mehre gleichwertige Beziehungen, während andere Befragte einzelne Beziehungspersonen höher stellen und mit anderen Akteur*innen ihres Lebens vor allem sexuellen Austausch oder kurzweilige Abenteuer teilen. 

Zwei der Befragten definieren sich als freund*innenschaftlich zentriert, was bedeutet, dass sie Zukunftsperspektiven mit Freund*innen und nicht mit Beziehungspersonen erarbeiten möchten. Sie sehen ihre Zukunft in Kollektivstrukturen, die beispielsweise (ohne romatisches Interesse aneinander) ein Kind aufziehen oder zusammen wohnen und, wenn nötig, die Pflege voneinander übernehmen. Der Ursprung dieser Vorstellung liegt für diese beiden Personen in den Erfahrungen, welche sie in ihrer Kindheit hatten: Elter die zusammen bleiben, obwohl der Haussegen schon lange schief hängt. Nach ihnen ist die Chance, dass langjährige Freund*innenschaften ein ganzes Leben lang halten grösser, als die Chance, dass romantische Beziehungen ein Leben lang halten. Sie erhoffen sich durch die freund*innnenschaftlich zentrierte Lebensweise, dass Problemstellungen, welche sich in romantischen Beziehungen stellen, wegfallen und so das Zusammenleben vereinfacht wird. 

Wichtig ist zu erwähnen, dass auch einige der polyamourösen Personen ähnliche Vorstellungen ihrer Zukunft hegen, wie die Personen, welche freund*innenschaftlich zentriert leben (wollen). Auch die freund*innenschaftlich zentrieren Personen machen zudem polyamouröse Erfahrungen. 

Die Umsetzbarkeit der Utopie

Auch wenn sich die Teilnehmenden wünschen, dass ihre präferierten Liebes- und Lebensformen alltagstauglich wären, ist ein solcher alternativer Lebensstil in der momentanen Gesellschaft mit Hindernissen, Schwierigkeiten und Unverständnis verbunden. 

Zu den bürokratischen Schwierigkeiten, welche zur Zeit unüberwindbar sind, kommen Stigma und Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft. Oft leben die Befragten ihre alternativen Lebensentwürfe daher vor allem in ihren alternativen Kreisen aktiv aus. Bei einigen der Befragten ist es nur schon schwierig, Verständnis von der eigenen (Kern-)Familie zu kriegen. 

Doch nicht nur die Anerkennung der Beziehungen beziehungsweise der Blick von aussen erschwert die Utopien: Alle Befragten verbinden ihre Beziehungen mit einem grossen Zeitaufwand, den sie nicht immer betreiben können. Neben Lohnarbeit, Studium oder Ausbildung und freiwilligen Engagement erweist es teilweise als schwierig, allen Beziehungen gerecht zu werden. Viele der Befragten erzählen auch, dass sie neu lernen mussten zu kommunizieren, ohne Verschönungen oder Halbwahrheiten, welche sie als Kind unter dem Vorwand der Höflichkeit gelernt hatten. Nur durch eine offene und ehrliche Kommunikation, da sind sich alle Teilnehmer*innen einig, könnten solche Beziehungskonstrukte funktionieren.  

Auch strukturelle Problem wie unsere patriarchale Gesellschaft erschweren das Ausleben. Alle weiblich sozialisierten Personen sowie all jene Personen unter den Befragten, die sich nicht mit dem Geschlecht Mann identifizieren, erzählen von Schwierigkeiten in der Gestaltung von Beziehungen mit Cis* Männern. 

Und nun?

Eine klare Zukunftsperspektive für diese jungen Menschen zu geben, erscheint unmöglich. Wer von ihnen diesen alternativen Beziehungsformen treu bleibt und wer in 10 – 15 Jahren dann doch in bürgerlichen Konstrukten verweilt, lässt sich nicht abschliessend sagen. Es wäre spannend, diese Forschung in zwei bis drei Jahren zu wiederholen und zu schauen, wo die Teilnehmer*innen dann stehen. Auch ihnen ist nämlich bewusst, dass das Kämpfen für diese Utopien vielleicht irgendwann zu Ende geht. Eine der Teilnehmer*innen bemerkt beispielsweise: „Weil, wenn ich dann, so meine Eltern anschaue, die früher auch alternativ waren, sind sie jetzt die grössten Bünzlis …“