Brasserie Oerlikon

Brasserie Oerlikon

iblum 10. Dezember 2019

Die Brasserie Oerlikon befindet sich direkt am Bahnhof Oerlikon. Hier herrscht immer reger Betrieb. Der moderne, frisch renoviert Bahnhof lockt mit verschiedenen gastronomischen Angeboten. Take-Aways, Supermärkte und Coffee to go fnden sich hier auf engstem Raum verdichtet und kaum einer schafft es durch die grossen Unterführungen ohne einen Zwischenstopp. Die Leute kommen an, nehmen einen Zug nach Hause oder steigen um. Viele versorgen sich aber hier auch über ihre Mittagspause hinweg und es herrscht ein ständiges hin und her von Menschen. Die Brasserie im Seitenfügel des historischen Bahnhofsgebäudes aber bietet dazu einen Gegenpol. Das Gebäude strahlt Ruhe,Tradition, Konstanz aus. Ebenso gestaltet sich die Atmosphäre innerhalb des Lokals, das mit seiner hohen Gewölbedecke und seinen holzvertäfelten Wänden eine zeitlose Fortdauer vermittelt.

 

— Entschleunigung —

Hier kann man verweilen, sich zum Essen gemütlich hinsetzen, sich bei einem Kaffee oder Bier unterhalten und den Alltagstrubel vor der Tür für einen Moment vergessen. Trotzdem bleibt auch die Brasserie ein transitorischer Raum, den Leute für einen Zwischenstopp nutzen, bevor sie durch einen Hintereingang direkt aufs Gleis 1 treten und in den nächsten Zug steigen.

Ein Kaffeehaus, ein Bistro oder doch eine Kneipe oder Bar?

Die Brasserie vermarktet sich vor allem über ihr Bier. 30 verschiedene Biere soll man hier trinken können. Sechs davon werden direkt an der Bar gezapft. Auch die Einrichtung erinnert an eine Bierhalle. Eine riesige Bar steht frei in der Mitte des Raums und die schicken auffällig roten Barhocker sprechen von Alkoholgenuss mit Stil. Abgehobene, dekadente Stimmung wird aber von den vielen im ganzen Raum verteilten einfachen Tischen und Stühlen und der rustikalen Schroff- aber auch Herzlichkeit des Personals gekontert. Um hierherzukommen muss man sich nicht vorbereiten und das Ambiente drückt vorherrschend Gelassenheit aus. Jeder ist spontan willkommen! Und trotzdem: der Fokus auf das Bier scheint – angelehnt an stereotype, genderbezogene Geschmäcker – vor allem Männer anzulocken. Frauen bleiben der Brasserie Oerlikon weitgehend fern und erscheinen meist nur in männlicher Begleitung oder in männlich dominierten Gruppen.

Letztendlich bekommt man hier aber noch sehr viel mehr geboten als nur Bier. Die Brasserie bietet an und wird zu dem, was man eben dort am Bahnhof und im Mobilitätszentrum von Oerlikon gerade braucht. Und das sind neben Kaffee und etwas zu essen vor allem auch Ruhe und Geselligkeit. Der Alltag greift also in diesen Ort hinein und wird doch unterbrochen und ausser Kraft gesetzt. Wer die Brasserie betritt, verlässt für einen Moment sein Leben da draussen, kann hier seine Batterien wieder aufladen oder schlichtweg seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen, und so leicht wie ein Schritt wieder vor die Tür ist er in seinen alltäglichen Abläufen zurück, ohne dass sich etwas besonders verändert oder ein einschneidendes Ereignis stattgefunden hätte.

Diese konzeptionelle Offenheit und die langen Öffnungszeiten der Brasserie führen dazu, dass der Raum sich je nach Tageszeit verwandelt. Morgens ist es ein Kaffeehaus, mittags ein bunt gemischtes Bistro und abends eine waschechte Kneipe. Ändern tut sich dabei aber nicht wirklich etwas. Das Lokal bleibt das gleiche. Dieselbe Einrichtung, dieselben Kellner und Kellnerinnen, dieselbe Pop-Musik im Hintergrund. Was sich verändert sind vor allem die Gäste und mit ihnen die gesamte Atmosphäre.

Ein Raum mit Konzept

Die grosse Differenziertheit an Angeboten, die geschaffen wird, bleibt aber nicht vollkommen offen und dem Zufall überlassen. Eine besondere Rolle spielt dabei die konzeptionelle Aufteilung des Raums, die die Gäste in verschiedene Gruppen mit einer jeweils anderen Nutzungsweise der Brasserie unterscheidet und auch das Verhältnis zwischen den Gästen und den Angestellten strukturiert. Als allererstes fällt beim Betreten des Lokals die grosse freistehende Bar in der Mitte des Raums ins Auge. An drei der vier Seiten dieses rechteckigen Gebildes reihen sich Barhocker. Die vierte Seite bleibt offen, sodass das Servicepersonal hier ungehindert ein- und austreten kann. Die Bar bildet somit nicht nur atmosphärisch den Fixpunkt, sondern ist gleichzeitig auch das organisatorische Zentrum des Service, der dadurch im Geschehen des Lokals präsent und integriert bleibt. Anders gestaltet es sich mit der Küche. Zwar gibt es einen sich über das gesamte vordere Ende des Raums ersteckenden offenen Küchenbereich, in dem Speisen angerichtet und zubereitet und dann vom Servicepersonal abgeholt werden können. Allerdings befndet sich die eigentliche Küche dahinter versteckt und auch der einsehbare Bereich ist durch seine Lage am Rande, weit entfernt von den Gästen, mehr Zierde als tatsächlicher Teil des Gastraums. Der Kontakt zur Küche bleibt den Gästen somit weitestgehend verwehrt und wird im Hintergrund unauffällig von den Kellnern und Kellnerinnen organisiert.

Rund um die zentrale Bar, die zum Bierkonsum direkt über den Tresen hinweg einlädt, bieten sich aber noch andere klar strukturierte Sitzgelegenheiten. Seitlich rechts und links neben der Bar sind kleine Tische für entweder zwei oder vier Personen gruppiert. Während die Anordnung der Tische auf der einen Seite mit zwei sich gegenüberstehenden Stühlen auf eine klassische Restaurantsituation verweisen und die damit verbunden Verhaltenskonventionen ins Gedächtnis ruft, lässt die andere Seite mit einer gemütlichen Bank entlang der Wand und der offeneren Zusammenstellung von mehreren Tischen zu Gruppen eine gemütlichere und lockere Café-Stimmung aufkommen. An der hintersten Seite der Brasserie fnden sich im Gegensatz zu den ansonsten frei angeordneten Tischen und Stühlen feststehende Sitznischen, wie in einem amerikanischen Diner. Ihre Lage und die in sich geschlossene Abgrenzung durch die Architektur der Möbel vermitteln den Eindruck von geschützter Privatsphäre. Dieser stehen die einladenden grossen Gruppentische im vorderen Bereich entgegen. Wer hier sitzt, ist für den ganzen Raum sichtbar und bleibt gleichzeitig, durch den von diesen Sitzplätzen hervorgerufenen Eindruck der Spontanität, unverbindlich. Wiederum ein ganz anderes Bild erweckt der grosse, runde Gruppentisch mit Stammtischcharakter, der eine gewisse Exklusivität ausstrahlt. Und auch draussen kann man sitzen, wobei im Sommer natürlich mehr Tische zur Verfügung stehen als im Winter. Aber auch wenn es kalt ist, verlockt die gemütliche, mit Decken ausgestattete Sitzecke zu einer kurze Pause bei Kaffee oder einem Bier.

Wer sucht, entscheidet selbst, was er fndet!

In der klaren Struktur der Raumaufteilung sind bereits verschiedene Angebotskonzepte der Brasserie angelegt, vom Kaffee zwischendurch bis der Zug kommt über eine gemütliche Bierrunde mit Freunden bis hin zum auswärtigen Abendessen. Gestaltet werden die geschaffenen Räume letztendlich aber von den verschiedenen Gästen, die sich dort niederlassen, mit ihren ganz spezifschen Bedürfnissen, Vorstellungen und Verhaltensweisen.

So ist ein wiederkehrender Typ Gast in der Brasserie der morgendliche oder auch nachmittägliche Zeitungsleser. Dieser sucht sich aus der direkt am Eingang auf einem Tisch bereitliegenden Auswahl an Tageszeitungen die für ihn passende Version aus. Besonders beliebt fürs Zeitunglesen sind die grossen Tische im vorderen Bereich, die sich perfekt für einen ruhigen Zwischenstopp eignen. Zusätzlich zur Zeitung gibt es dann noch einen leckeren Kaffee. Der Zeitung lesende Geschäftsmann oder ältere Herr kommt grundsätzlich alleine und bleibt für sich, versunken in seine Lektüre, in stiller Kommunikation mit sich selbst oder vielleicht zwischendurch abgelenkt durch sein Handy.
In dieser Abgeschiedenheit und Fokussierung auf sich selbst ähnelt der Zeitungsleser dem schweigsamen Biertrinker, bei dem es sich ebenfalls oft um Männer fortgeschritteneren Alters handelt, die an der grossen Bar sitzen. Auch sie kommen alleine in die Brasserie und kommunizieren kaum mit anderen, sondern geniessen die Zeit für sich alleine. Im Umgang mit den Kellnerinnen und Kellnern kommt der Eindruck einer grösseren Vertrautheit auf , sodass zwischendurch vielleicht sogar ein paar Worte geplaudert werden, auch wenn es meist bei floskelhaften Belanglosigkeiten bleibt. Auf jeden Fall ist aber beiden Parteien von vorne herein klar, was der schweigsame Biertrinker in der Brasserie möchte: eine Auszeit, durch die hindurch ihn das Servicepersonal unaufdringlich und trotzdem immer präsent begleitet. Im Gegensatz zum zum sich ansonsten sehr ähnlich zeigenden Zeitungsleser nutzt der stille Trinker die Brasserie eher am Nachmittag und frühen Abend und bleibt wesentlich länger. Stosszeiten am späteren Abend und am Wochenende, wenn sich das Lokal zunehmend füllt, die Lautstärke stark ansteigt und die allgemeine Atmosphäre von Entspannung zunehmend in Hektik und Durcheinander umschwenkt, werden jedoch eher gemieden.

Ebenfalls überwiegend alleine kommt der Gast zum schnellen Lunch in der Mittagspause. Seine Aufenthaltsdauer richtet sich vor allem nach seinem Konsum. Gewählt wird hier lieber einer der richtigen Tische und durch die Essensbestellung erhöht sich der Kontakt mit dem Servicepersonal. Zu einer Interaktion, die über die Organisation des Bereitstellens von Essen hinaus geht, kommt es aber auch hier nicht, denn die hier zu Mittag essenden Frauen und Männer wollen vor allem die dienstleistende Funktion des Restaurants als Ort der Nahrungsaufnahme in Anspruch nehmen. Um den Mittag und frühen Nachmittag herum kommen aber auch immer wieder grössere oder kleinere, vor allem männliche Mittagspausengruppen von Arbeitern, die sich in einer gemütlichen Runde mit einem Kaffee oder auch einem Bier stärken und herumwitzeln und Neuigkeiten austauschen, bevor es wieder zurück an die Arbeit geht. Essen bestellen sie hier allerdings nicht und die Geselligkeit in der Gruppe steht über der Funktion der Nahrungsaufnahme.

Typisch für den Vormittag und frühen Nachmittag sind ausserdem Gäste, die sich eigentlich nur auf der Durchreise befnden und teilweise auch ihr Gepäck mitbringen. Auch sie bleiben nur für einen kurzen Zwischenstopp und nutzen vor allem das Kaffeeangebot. Ob der Durchreisende dabei alleine bleibt oder mit seinen Mitreisenden spricht, ob die Brasserie auch für eine spontane Verabredung oder – durch ihre günstige Lage am Bahnhof – gar als Abholpunkt genutzt wird, variiert stark. In dieser heterogenen und individuellen Ausgestaltung des Aufenthalts lassen sich Parallelen zu den mehr oder weniger spontan wirkenden Verabredungen auf einen Kaffee oder ein Bier zwischen Freunden und Freundinnen jeglichen Alters erkennen, wobei die Frauen eher zum Kaffee und die Männer eher zum Bier tendieren. Hier lässt sich vom neusten Tratsch- und Klatsch-Austausch mit der besten Freundin über private, sich hinziehende Männergespräche bis hin zum semi-formellen Businessgespräch beim Feierabendbier eine grosse thematische Spannbreite an Unterhaltungen fnden, die sich auch in der stark variierenden Länge des Besuchs in der Brasserie niederschlägt. Auch diese Verabredungen fnden zum Teil schon vormittags statt, verteilen sich aber stärker über den ganzen Tag und sind auch in den Abendstunden noch in der Brasserie zu finden. Gerne nutzen auch diese Gäste die zentrale Bar und sitzen am Tresen. Sie verteilen sich aber auch über den restlichen Raum. Eine spezielle Untergruppe dieser Art von Gästen sind junge Pärchen. Richtige Dates kommen hier allerdings weniger zustande und auch die Paare legen hier eher eine kurze Zwischenstation vor anderen Unternehmungen ein. Dafür verziehen sie sich auch gerne mal in die abgeschiedenen Sitznischen, wo sie sich ungestört unterhalten und ihre Zweisamkeit geniessen können.

Paar-Konstellationen lassen sich aber unter anderem auch in der grossen Gruppe von Gästen fnden, die zum auswärtigen Abendessen in die Brasserie kommt. Hier kann sich diese als Restaurant mit einer umfassenden Schweizer Küche und verschiedenen Nachspeisen präsentieren. Aber auch bei dieser Erfahrung darf das Bier natürlich nicht fehlen. Abends wird es in der Brasserie zum Teil sehr voll und laut und viele der bunt durchmischten Zweier- bis Vierergruppen, die hier essen, bleiben danach noch länger, unterhalten sich und trinken weiter.
Zum Teil fnden sich gegen Abend aber auch grössere Gruppen ein, die vor allem zum Alkoholkonsum hierherkommen und lange bleiben. Zum einen zeigen sich hier feste Stammtischgruppen, deren Bestellung dem Personal bereits von vorangegangenen Besuchen bekannt ist. Es herrscht also dieselbe Vertrautheit wie bei manchen der schweigsamen Trinker. Ein sehr viel lauteres, jüngeres und weniger regelmässiges Pendant zu diesen Stammtischgruppen bilden Partygruppen, die sich in der Brasserie zum Vorglühen oder gemütlicheren Abenden unter der Woche treffen und sich in die hinteren Sitznischen verziehen, die ihre Zusammengehörigkeit unterstreicht. Neben dem zum Teil standardisierten oder aber zelebrierten Alkoholkonsum erscheint bei beiden Runden die Kommunikation innerhalb der Gruppe als sehr wichtig und vorrangiger Grund für das Zusammenkommen. Je nachdem gemächlich oder eher wild wird hier durcheinandergeredet, wobei Teilgespräche immer wieder ineinanderfliessen, voneinander abgelöst werden und sich zwischen den Gesprächsteilnehmern aufteilen.

Neben diesen überwiegend lokalen Gästen wird die Brasserie aber auch immer wieder Anlaufpunkt für Touristen, die vor allem in grossen Reisegruppen erscheinen und vorab reservieren. Für diese bietet die Brasserie ein Stück aufbereitete Kultur, die sich über die Betonung der Schweizer Küche, eine auf Schweizerdeutsch verfasste Speisekarte und mit standardisierten Assoziationen von Schweizer Ländlichkeit arbeitende Dekorelemente bewusst ausstellt. Damit werden aber nicht nur touriststische Blickstrukturen, die über Authentizität grosszügig hinwegsehen, bedient, sondern auch romantisierte Vorstellungen von Heimat, von Ursprünglichkeit und Zugehörigkeit produziert und bestätigt.

Offen, aber durchdacht systematisiert

Wie sich gezeigt hat, ermöglicht die Brasserie ein unglaublich breit aufgestelltes Angebot von Erlebnissen und Nutzungen. Hier wird nicht nur ein Ort des Essens bereitgestellt, sondern auch ein Ort des Pausierens, des sozialen Kontakts und teilweise der zum Event anmutenden Erfahrung. Die Offenheit und individuelle Ausgestaltung wird dabei auch durch das Auftreten des Personals ermöglicht. Zwar sind sie sehr achtsam und immer auf eine Zufriedenstellung der Gäste bedacht, doch ergibt sich gerade diese Zufriedenstellung oft aus ihrer Zurückhaltung und Unaufdringlichkeit.

Bei aller Offenheit lassen sich aber auch Tendenzen der Planung und Strukturierung im Hintergrund erkennen. Die stark konzeptionierte Raumaufteilung schafft somit nicht nur Klarheit in der Aufteilung der Gäste und über das bereitgestellte Angebotskonzept, sondern beeinflusst damit auch die Nutzungsarten des Lokals und gibt diese vor, wodurch eine Ausrichtung auf bestimmte Zielgruppen entsteht. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass es sich bei der Brasserie Oerlikon trotz ihrem persönlich erscheinenden Charakter um einen Teil einer Kette mit mehreren Gastronomien handelt. Als Teil der Candrian Catering AG ist das Lokal dementsprechend auch immer als Bestandteil eines grösseren Unternehmens zu verstehen und lässt sich der Systemgastronomie zuordnen.

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