Vom vaðmál zum hǫttr – die Funktion von Kleidung im mittelalterlichen Island 

Vom vaðmál zum hǫttr – die Funktion von Kleidung im mittelalterlichen Island 

Könnt Ihr euch vorstellen, dass es in einem Gesetz Kleidervorschriften gibt? Wir kennen zwar Einschränkungen für gewisse Bereiche (Schule, Arbeit, Kirchen), aber generelle gesetzliche Vorgaben, welche für alle, immer und überall gelten? Was für uns heute in unserem Kulturkreis recht merkwürdig erscheint, war im mittelalterlichen Island gegen Ende des 13. Jahrhunderts Realität. Im Jahr 1281 genehmigte das isländische Parlament, das Althing, auf Vorschlag des norwegischen Königs ein umfassendes Gesetzeswerk, die Jónsbok. Und diese beinhaltete, wie auch die Gesetzessammlung Grágás, tatsächlich Vorschriften über die Kleidung. Aber schön der Reihe nach.

Wenn wir über die Funktion von Kleidern sprechen, können wir intuitiv zwei Hauptfunktionen unterscheiden. Die Kleider befriedigen einmal grundlegende menschliche Bedürfnisse. Sie dienen als Bedeckung für unseren Körper, sie schützen uns vor äusseren Einflüssen wie Kälte, Hitze, Feuchtigkeit und sie helfen uns bei gewissen Tätigkeiten, zum Beispiel bei der Arbeit oder beim Sport. Aus Konsumsicht können sie insoweit den Basiskonsumgütern zugeordnet werden. Zusätzlich haben viele Kleider in unserer modernen Gesellschaft eine über Deckung der grundlegenden Bedürfnisse hinausgehende Funktion, über Statussymbol bis hin zum reinen Luxusartikel. So definieren Kleider soziale Rollen, wie Reichtum oder Armut, das Geschlecht, die Religion oder die Weltanschauungen. Und sie können auch «nur» Mode oder Schmuck sein. So weit, so klar. Oder doch nicht?

Im mittelalterlichen Island hatten Kleider, oder besser gesagt der Stoff, aus dem Kleider gemacht wurden, noch eine weitere Funktion: Stoff war Geld. Das vaðmál, das aus Schafwolle hergestellte Rohmaterial, war eine Währung; es wurde im Mittelalter als Zahlungsmittel verwendet. Gemäss den ältesten Quellen zu diesem Thema entsprachen 6 Ellen vaðmál einer norwegischen Krone.  Eine wichtige Funktion hatte es insbesondere im Handel zwischen Island und Norwegen: Die norwegischen Kaufleute lieferten Waren nach Island, und die Isländer bezahlten mit vaðmál statt mit Münzen. Und umgekehrt bezahlten isländische Kaufleute, welche Waren in Norwegen bezogen, ebenfalls mit vaðmál. Und auch Steuern wurden in vaðmál erhoben.1

Rocktasche aus schwarzem vaðmál mit Applikationen in Rot, Grün und Gelb. Nordiska Museet Stockholm. Public domain, via Wikimedia Commons.

In jener Zeit wurden die grundlegenden Bedürfnisse in Bezug auf Kleider auf relativ einfache Art und Weise abgedeckt. Wir wissen das auf der einen Seite aus der Sagaliteratur und auf der anderen Seite aufgrund (eher spärlicher) archäologischer Funde.2 Die Alltagskleidung bestand aus einem Kittel / Hemd (skyrta, sekr), einem Rock (kyrtill) oder Hosen (broekr), Schuhen (skór) und einer Mütze (hǫttr oder hattr). Das mag dann etwa so ausgesehen haben:


Wikingermuseum Borg, Wachsfiguren in der Eingangshalle. Public domain, via Wikimedia Commons.

Bis zu einem gewissen Grad kann man auch die Kriegs- und die Jagdbekleidung zur grundlegenden Kleidung zählen, aber wir wollen hier nicht näher darauf eingehen.

Mit der über die grundlegenden Bedürfnisse hinaus gehenden Kleidung ist es etwas komplizierter. Diese kann, wie bereits erwähnt, vielfältige Funktionen haben. An dieser Stelle soll der Blick auf das Verhältnis von Kleidern und Kommunikation gerichtet werden. Und wir konzentrieren uns auf mittelalterliche isländische Texte. Dabei kann unterschieden werden zwischen Kommunikation über Kleidung einerseits und Kommunikation durch Kleidung andererseits. Im ersten Fall geht es darum, wie die Kleider beschrieben werden, und im zweiten Fall darum, welche Aussage mit der Kleidung gemacht wird. 

Für die Sagas liefert uns Anita Sauckel viel Anschauungsmaterial. Sie untersuchte dafür im Wesentlichen drei Kategorien von Kleiderfunktionen, nämlich Kleidung und soziale Funktion, Kleidung und Geschlecht sowie Kleidung und Gefühle.

Als Beispiel für die Identifizierung der sozialen Funktion nennt sie die Beschreibung von 

Eyj́olfr Bǫlverksson in der Niálls Saga:

[Hann] hafði skarlatsskikkju á herðum ok gullhlað um hǫfuð ok øxi

silfrrekna í hendi

[Er] hatte einen Scharlachmantel um die Schultern und eine Goldborte um den Kopf und eine silberverzierte Axt in der Hand.3

Was hier mit der Kleidung implizit gesagt wird, ist ziemlich offensichtlich: Er war ein reicher und mächtiger Mann. In den meisten Fällen hatte eine solche oder ähnliche Beschreibung denn auch eine positive Bedeutung. Aber selbstverständlich ist es in den Sagas nicht immer so einfach, die Bedeutungen richtig zu deuten. Es gibt auch Leute, die sich mit den Kleidern gerne besser darstellten, als sie es effektiv waren. Sauckel meint, dass dies vor allem bei Norwegern und anderen Skandinaviern der Fall war.4

Ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Kleidung und Gefühlen ist die Schilderung mordlustiger Männer. Diese tragen auffallend oft einen dunkelblauen Mantel. So wird Ljótr Ljótólfsson in der Valla-Ljóts saga wie folgt beschrieben: 

Hann átti tvennan búnað, blán kyrtil stuttan ok øxi snaghyrnda, ok var vafit járni skaptit; þá var hann svá búinn, er víghugr var á honum. En þá er honum líkaði vel, hafði hann þá brúnan kyrtil ok bryntrǫll rekit í hendi.

Er hatte zweierlei Ausstattungen, einen blauschwarzen Leibrock und eine Axt mit gebogenem und in zwei scharfe Spitzen auslaufendem Blatt, und deren Schaft war mit Eisen eingelegt. Dann war er so ausgerüstet, wenn die Mordlust in ihm war. Aber wenn er zufrieden war, trug er einen braunen Leibrock und eine zweischneidige, mit Metalleinlagen verzierte Axt in der Hand.5

Ungewöhnlich an diesem Textausschnitt ist, dass auch die Bedeutung der Kleider ausdrücklich beschrieben wird. Damit wird sowohl eine Kommunikation über die Kleidung – die Beschreibung der Kleidung – als auch die Kommunikation durch die Kleidung – die Bedeutung der Kleidung – wiedergegeben. Aber das Beispiel weist auch sehr schön darauf hin, wie Gefühle mit Kleidern ausgedrückt und beschrieben werden können.

Beide Beispiele zeigen, dass die Beschreibungen in der Regel einfach – oder in den Worten von Roland Barthes – banal sind. Auch die Bedeutung ist in der Regel recht trivial. Daher sind Kleider auch sehr gut für die implizite Kommunikation geeignet, sowohl im wirklichen Leben wie auch in der Literatur.

Zurück zur Jónsbók. Diese beschreibt eine klare Zuteilung der Art der Kleidung und deren Bedeutung. Von der Kleidung kann man danach direkt den Reichtum einer Person ablesen. Je reicher jemand ist, desto bessere Kleider darf er von Gesetzes wegen anziehen. Es gab ein paar Ausnahmen für gelehrte Menschen und für Kleider, welche im Ausland gekauft wurden. Im Einzelnen sah das wie folgt aus:

Beschreibung der Kleidung (alles aus wertvollem Material)Bedeutung
Jacke mit Kapuze Besitzt mehr als 20 Hundert6
zusätzlich einen KittelBesitzt mehr als 40 Hundert
zusätzlich einen Mantel oder UmhangBesitzt mehr als 80 Hundert
freie Wahl der KleidungBesitzt mehr als 100 Hundert

Die Jónsbók gibt auch eine Begründung an für diese klaren Kleidervorschriften: manche Leute würden zu prächtige Kleider tragen. Dadurch würden sie sich einerseits zu stark verschulden und könnten sich die notwendigen Dinge nicht beschaffen, und andererseits wären viele Bedürftige auf ihre Hilfe angewiesen und lägen nun stattdessen draussen und erfrören.7

Egil Skallagrimsson, gut gekleidet, aus dem isländischen Manuskript AM 426 fol. (17.Jhd.) http://fathom.lib.uchicago.edu/1/777777122294/3093_egilsidebar.html,
 

Titelbild: Jónsbók MS AM 351 Fol, Skálholtsbók eldri. Manuskript in Facsimilie. Public domain, via Wikimedia Commons.


  1. Helgi, Þorláksson. “King and Commerce. The foreign trade of Iceland in medieval times and the impact of royal authority”, in: Steinar, Imsen (ed.): The Norwegian Domination and the Norse World c.1100 – c.1400, Tapir Academic Press, 2010, S. 151. []
  2. Toplak, Matthias. Kleidung und Tracht in der altnordischen Sagaliteratur und im archäologischen Fundkontext. Tectum Verlag, 2011, S. 30f. []
  3. Sauckel, Anita. Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir. De Gruyter, 2014, S. 21. []
  4. Brennu-Njáls Saga. Íslenzk Fornrit, XII. bindi (Einar Ól. Sveinsson, gaf út), Hið Íslenska Fornritafélag,1954, 138. kap. S. 366. Übersetzung von Sauckel, Anita. Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir. De Gruyter, 2014, S. 136. []
  5. Valla-Ljóts Saga. Íslenzk Fornrit, IX. bindi (Jónas Kristjánsson, gaf út), Hið Íslenska Fornritafélag, 1956, 138. kap. S. 366. Übersetzung von Sauckel, Anita. Die literarische Funktion von Kleidung in den Íslendingasǫgur und Íslendingaþættir. De Gruyter, 2014, S. 116f. []
  6. Gemeint waren wohl aurar bzw. øren oder Mark. []
  7. Jónsbók. The Laws of Later Iceland. The Icelandic Text According to MS AM 351 fol. Skálholtsbók eldri. With an English Translation, Introduction and Notes by Jana K. Schulman. 2010, AQ Verlag, S. 135. []

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