„Der Mythos ist wahr“.1 Mit diesen grossen Worten bewirbt Netflix den Release der dänisch-norwegischen Serie Ragnarök. Da stellen sich natürlich gleich die Fragen: Welcher Mythos? Und wie kann ein Mythos wahr sein? Dem soll in folgendem Blogbeitrag auf die Spur gegangen werden…(Spoiler alert – duh!)
Die Sonne verdunkelt sich, das Land versinkt im Meer
vom Himmel stürzen die hellen Sterne;
es wüten Feuer und Rauch,
große Hitze steigt selbst bis zum Himmel empor.
Die Weissagung der Seherin. In: Die Götterlieder der älteren Edda. Hg. von Arnulf Krause. Reclam 2018, Str. 57.
Ein beeindruckendes Bild apokalyptischen Ausmasses, das die Völuspá, die Weissagung der Seherin, hier vom Untergang der Welt zeichnet. Kein Wunder, bedient sich die Netflixserie Ragnarök verschiedener Elemente dieser wichtigen Quelle der nordischen Mythologie, um auf die gegenwärtige Klimakrise aufmerksam zu machen.
Die im Februar 2020 angelaufene Serie versetzt die mythologische Erzählung rund um die Æsir (die Götter der nordischen Mythologie) und die Jötnar (die Riesen, die Gegenspieler der Götter) nämlich kurzum in das Norwegen der Gegenwart, spezifischer in die am Hardangerfjord gelegene Kleinstadt Edda. Diese zeigt, obwohl grundsätzlich fiktiv, grosse Ähnlichkeiten mit dem norwegischen Schwerindustriestandort Odda. Hier ziehen die Brüder Magne und Laurits zusammen mit ihrer Mutter hin, damit diese ihren neuen Job bei „Jutul-Industries“ beginnen kann. Edda präsentiert sich vordergründig als intaktes Naturparadies, was sich allerdings schnell als Täuschung entpuppt: Gletscherschmelze, konstant überdurchschnittlich warme Temperaturen und verunreinigtes Trinkwasser zeigen die Folgen von Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung durch die Industrie auf.
Hauptschuldig an dieser negativen Entwicklung ist, wie sich bald herausstellt, niemand anderes als „Jutul-Industries“. Der Grosskonzern wird von der Familie Jutul geleitet, vier Jötnar, die seit Ewigkeiten unerkannt unter den Menschen leben und sich offensichtlich keinen Deut darum scheren, ob die Erde vor die Hunde geht. Da die Jutul Familie Edda mehr oder weniger beherrscht – Vidar Jutul als CEO von „Jutul Industries“ ist der Hauptarbeitgeber des Ortes, Ran Jutul die Rektorin und Fjor und Saxa, in ihrer Rolle als Kinder der Familie Jutul, die Stars der Schule – wagt es kein Mensch, sich offen gegen sie zu stellen. Dafür braucht es schon Götter. Und die lassen zum Glück nicht auf sich warten. Magne, der etwas ungeschickte, legasthenische Neuzuzüger, ist nämlich die Reinkarnation des Asen Thor (genau, der mit dem Hammer und den Blitzen) und als solcher kann er es durchaus mit den Jutuls aufnehmen – auch wenn er immer wieder an sich und seinen Fähigkeiten zweifelt und Unterstützung braucht. Die erhält er, denn Episode für Episode schliessen sich ihm weitere wiedergeborene Æsir im Kampf gegen die Umweltsünder an, und so nimmt Ragnarök seinen Lauf.
Bild 2: Thor kämpft gegen die Jötnar. „Thor’s fight with the giants”, von Mårten Eskil Winge, Public domain, via Wikimedia Commons.
Ragnarök, die Klimakrise der nordischen Mythologie?
Die Netflixserie aktualisiert und kontextualisiert den eigentlich raum- und zeitlosen Mythos der Völuspá und stellt eine Analogie her zwischen Ragnarök, dem Untergang der Welt der Æsir, und der gegenwärtigen Klimakrise. Diese Analogie beruht darauf, dass Ragnarök in der Völuspá nicht nur als Umweltkatastrophe planetarischen Ausmasses beschrieben wird – wie die eingangs zitierte Strophe aufzeigt – sondern sich auch Hinweise auf verschiedene ökologische Krisen, wie beispielsweise Vulkanausbrüche, Erdbeben oder einen dreijährigen Winter (den Fimbulvetr) finden lassen, die den Weltuntergang einleiten.2 Zudem nehmen die Jötnar auch in der Völuspá die Rolle der ewigen Gegenspieler der Æsir ein: Sie werden mit unwirtlichen, brennend heissen oder unerträglich kalten Landschaften assoziiert und treten als konstante Unruhestifter und Aggressoren auf. Die Animosität hat schlussendlich eine grosse Schlacht zwischen den Æsir und den Jötnar zur Folge, die als sozialer Konflikt genauso zu Ragnarök beiträgt, wie die ökologischen Krisen. In der Serie wird dieser Antagonismus zwischen den Æsir und den Jötnar auf eine umweltpolitische Ebene gezogen, um den ökokritischen Standpunkt der Serie zu verdeutlichen.
Bild 3: Die ersten Strophen der Völuspá in der Edda Sæmundar hins fróda. Abschrift aus dem Jahr 1818. „Afzelius Edda Sæmundar (1818) Völuspá sid1„, von Arvid August Afzelius (1785-1871), Public domain, via Wikimedia Commons.
Ragnarök und Ecocriticism
Indem Ragnarök diese Parallelen zwischen der Völuspá und der gegenwärtigen Klimakrise aufzeigt, tritt die Netflixserie in die Stapfen verschiedener (nordischer) umweltengagierter Medienproduktionen, die sich dem Thema der Zerstörung des Planeten durch den Menschen, und damit einer besonders destruktiven Form von Konsum, annehmen.3 Das Ziel solcher ökokritischen Produktionen ist es, ein Umdenken in der Gesellschaft zu erreichen, und dadurch möglichst viele Menschen dazu zu bringen, ihren Umgang mit der Umwelt zu überdenken, und sich für eine nachhaltigere Lebensweise zu entscheiden.4 (Bei Interesse an ökokritischer Literatur geht es hier zu Ayla Florins Beitrag zum Wald als Narrativ des Konsums.)
Die Ansichten, wie dieses Umdenken am besten erreicht werden kann, sind jedoch vielfältig und divers, weshalb sich die Narrative und Positionen, die in ökokritischen Werken präsentiert und vertreten werden, stark voneinander unterscheiden.5 Zudem sind die Darstellungsmöglichkeiten von Medium zu Medium und von Genre zu Genre verschieden. Ragnarök verbindet das Genre Mythos mit dem Medium Film, was es ermöglicht, Aspekte der Klimakrise zu beleuchten, die in einem anderen Format vielleicht verborgen bleiben würden.
Die Völuspá als Mythos mit zeitlich enormen Dimensionen, die weit über das Leben eines Individuums hinausgehen, vermag gleichzeitig eine makroskopische und eine mikroskopische Perspektive einzunehmen und kann so das Jetzt und das Immer im Blick behalten.6 Damit hat sie das Potential, ein Bewusstsein für die massiven, irreversiblen und globalen Folgen von Umweltkatastrophen zu schaffen. Ragnarök bedient sich dieses Potentials leider nur ansatzweise. Weshalb? Nun, dies liegt vor allem daran, dass die Serie in den ersten zwei Staffeln in der mikroskopischen Perspektive verhangen bleibt: Im Fokus steht der Umgang einer kleinstädtischen Gesellschaft mit den Folgen von lokaler Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung. Eine allumfassende Apokalypse im Sinne eines Weltunterganges scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Leider – denn gerade die schonungslose Darstellung einer solchen Katastrophe hätte das Potential, die Menschheit aufzurütteln und ein Umdenken anzustossen.7 Aber was noch nicht ist, kann noch werden, denn noch fehlt die dritte und letzte Staffel der Serie.
Auf der anderen Seite gelingt es Ragnarök auch gerade durch die konsequente Einnahme einer Mikroperspektive, also der Verortung der Völuspá in einer Kleinstadt, genauer zu beleuchten, wie die Menschen im Allgemeinen und eine kleinere Gesellschaft im Spezifischen auf die Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung reagieren und wie sie damit umgehen. Dabei zeigt Ragnarök, dass die Schuld an der aktuellen Klimakrise nicht einfach auf einen kleinen Kreis von „Umweltsündern“ (hier die Jutul-Familie als Fabrikbesitzer) geschoben werden kann, sondern alle ihren Teil zur drohenden Katastrophe beitragen. Denn selbst die „Götter“ und ihre umweltbewussten Freunde, die aktiv gegen „Jutul-Industries“ vorgehen, begehen ab und zu Umweltsünden – sei es durch übermässigen Fleisch- oder Snuskonsum oder Spritzfahrten auf dem Motorrad.
Zudem hinterfragt Ragnarök das grüne Selbstbild der nordischen Staaten, indem die Serie auf deren Abhängigkeit von industrieller Aktivität und Ausbeutung von Ressourcen aufmerksam macht. Die Einwohner Eddas sind nicht nur finanziell abhängig von „Jutul-Industries“, sondern auch angewiesen auf die Arbeitsplätze in den Fabriken, weshalb weder sie noch die norwegische Regierung es wagen, Massnahmen gegen „Jutul-Industries“ zu ergreifen. Die Schülerin Gry bringt dies in einer Prüfung folgendermassen auf den Punkt (und fällt deswegen prompt durch):
Det er forurensning, isen smelter, folk er syke, men ingen snakker om det. […] Vi er avhengig av en dust fabrikk. Hvem betalte for det nye kulturhuset, skanneren på sykehuset, idrettshalle vi driver og bygger nedi her? […] Vi lever i Nord-Korea, vi.
Ragnarok. Price, Adam. SAM Productions 2020-, S1, E6 [10:57-11:22].
Die Umwelt wird verschmutzt, das Eis schmilzt, Menschen werden krank, aber keiner spricht darüber. […] Wir sind abhängig von einer bescheuerten Fabrik. Wer hat das neue Kulturzentrum bezahlt? Den Scanner im Krankenhaus? Die Sporthalle, die hier gerade gebaut wird? […] Das sind ja Zustände wie in Nordkorea hier.
Ragnarok. Price, Adam. SAM Productions 2020-, S1, E6 [10:57-11:22], (Übersetzung: Dominique Mühlebach).
Bloss ein Mythos?
Die Adaption der Völuspá in Ragnarök ist ein gutes Beispiel dafür, wie Mythen in einem aktuellen, kontroversen Diskurs instrumentalisiert werden und dadurch selbst neue Relevanz gewinnen können. Denn auch wenn der Weltuntergang am Ende der zweiten Staffel noch nicht in Sichtweite ist, ruft die Verbindung zur Völuspá bei all jenen, die schon einmal mit der nordischen Mythologie in Kontakt gekommen sind, den apokalyptischen Ausgang der Völuspá ins Gedächtnis und kann so potenziell ein neues Bewusstsein für die verheerenden Folgen der Klimakrise schaffen. Gleichzeitig gelingt es der Serie durch die Präsentation verschiedener menschlicher Verhaltensweisen im Angesicht von Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung die Zuschauenden direkt anzusprechen und das eigene Verhalten in Bezug zur Umwelt zu reflektieren. Ragnarök bietet also einigen Stoff zum Nachdenken, ob es allerdings reicht, um ein tiefgreifendes Umdenken auszulösen, ist fraglich. Aber warten wir ab, was Staffel drei bereithält!
Titelbild: „Sköll„, von Louis Moe. Public Domain.
- («Ragnarök – Staffel 1- Bild 25 von 27». Moviepilot. https://www.moviepilot.de/serie/ragnarok/bilder/830676 [Stand: 12.02.2022]. [↩]
- (Vgl. Die Weissagung der Seherin, z.B. Str. 41, 47, 52; vgl. Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause. Reclam 2017, S. 73. [↩]
- (Vgl., um nur zwei Beispiele zu nennen, Okkupert (TV 2 2015-2017, Viaplay 2020) oder Jordskott (SVT 2015-2017). [↩]
- (Vgl. Kerridge, Richard. Ecocritical Approaches to Literary Form and Genre: Urgency, Depth, Provisionality, Temporality. In: Garrard, Greg [Hrsg.]: The Oxford Handbook of Ecocriticism. Oxford University Press 2014, S. 3. [↩]
- (Vgl. Kerridge, S. 3-11. [↩]
- (Vgl. Abram, Christopher. Evergreen ash: ecology and catastrophe in old Norse myth and literature. University of Virginia Press 2019, S. 159. [↩]
- (Vgl. Kerridge, S. 12. [↩]
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