‚Mystisch‘ – das Wort bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch schon fast so viel wie ‚rätselhaft‘, ‚magisch‘, ‚irrational‘. Auch eine tiefere Auseinandersetzung mit mystischen Werken widerlegt diese Konnotationen nur zum Teil. Innerhalb von Religionen, die sonst eher Gemeinschaft und Gesetz betonen, präsentiert sich Mystik nämlich tatsächlich als dynamische, individuelle Bewegung. Sie löst Unterschiede auf und betont das Fliessende, Unfassbare; sie sträubt sich gegen Reglementierung und Klassifizierung. Von Zeit zu Zeit erblickt man die Mystik aber auch mit einem anderen Gesicht: klar geordnet, systematisch, vielleicht sogar: wissenschaftlich? Dann nämlich, wenn Gotteserfahrung als Ordnungserfahrung verstanden wird; als Suche nach der höchsten, besten, vollkommen(st)en Ordnung.
Diese Suche beginnt für uns mit dem spätantiken Mystiker Pseudo-Dionysius. Dieser war wohl ein syrischer Mönch, der aber unter dem Namen eines Atheners aus dem Neuen Testament, der von Paulus bekehrt worden sei, schrieb – daher die Bezeichnung ‚Pseudo‘-Dionysius. In seiner Schrift Über die himmlische Hierarchie leitet er sein Ordnungskonzept mit dem namensgebenden Begriff ‚Hierarchie‘ (ἱεραρχία) ein. Damit ist mehr als eine blosse Rangliste gemeint! Wörtlich könnte man das griechische Wort als ‚heilige Herrschaft‘ oder ‚Hohepriesterherrschaft‘ übersetzen, aber zum Glück definiert Dionysius seine Verwendung selbst: ‚Hierarchie‘ sei „heilige Ordnung, Erkenntnis und Tätigkeit“ (τάξις ἱερά και ἐπιστήμη καὶ ἐνέργεια), welche sich so weit wie möglich der göttlichen Form ähnlich mache. Im Verlauf der Schrift werden diese drei Aspekte ausgeführt, hier eine Zusammenfassung:
Die Ordnung an sich besteht aus klar definierten Rängen von Menschen und Engeln – sie bilden also doch eine Hierarchie im heutigen Sinne. Dabei sind Engel – gemäss ihrer Etymologie als ‚Boten‘ – ausnahmslos über der Menschheit platziert. Jeder Rang empfängt den von Gott herkommenden Lichtstrahl und „[leitet] das [sein] ganzes Wesen überströmende Licht auf die des Lichtes Würdigen [über]“. Ranghöhe wird also im dionysischen System nicht durch Macht, sondern durch Nähe zu Gott definiert. Je höher die Position, desto mehr Licht wird weitergegeben. Hierarchiemitglieder dienen Gott und ihren Mitkreaturen, statt sie zu beherrschen – so sieht es Dionysius jedenfalls vor. Die Ordnung ist dynamisch in dem Sinne, dass Gottes Licht ständig auf und ab fliesst; es ist aber nicht vorgesehen, dass individuelle Kreaturen ihren Platz wechseln.
Ein Erkenntnisprozess ist die Hierarchie deshalb, weil sie die allmähliche Aufwärtsbewegung des menschlichen Geistes zu Gott ermöglicht. Dabei werden die höheren Stufen zunächst notwendigerweise verschleiert, damit das Denken nicht überfordert oder in die Irre geleitet wird: Das einfache Licht muss gebrochen werden in „die bunte Fülle der heiligen Umhüllungen“. Gleichzeitig macht die Ordnung Unsichtbares sichtbar: Wer nämlich die menschliche Hierarchie betrachtet, kann ihr himmlisches Gegenstück zumindest ansatzweise erkennen. Auch die bestmögliche Ordnung kommt hier aber an ihre Grenzen. Sie leitet den Sinn zwar stetig aufwärts, versagt jedoch gerade am letzten Schritt: Um Gott ganz zu erlangen, muss alle Erkenntnis zurückgelassen werden, ermahnt Dionysius in der Mystischen Theologie.
Der dritte Aspekt der Hierarchie, die Tätigkeit, ist im dionysischen System zentral: Sie bildet das Ziel der ganzen Ordnung. Dieses Ziel ist hoch und nicht leicht zu verstehen: „Zweck der Hierarchie ist also die möglichste Verähnlichung und Einswerdung mit Gott“. Irdische und himmlische Hierarchie wirken zusammen, um nicht nur ihre Mitglieder, sondern die gesamte Welt zu vergöttlichen. Dies tun sie, indem sie Gottes Licht weitergeben und damit an seinem Wirken in der Welt teilhaben. Die Menschen und Engel, die sich derartig beschäftigen, verhelfen damit nicht nur ihren Mitkreaturen zur Gottähnlichkeit, sondern werden selbst „zu einem Mitwirkenden mit Gott“, „was noch göttlicher als alles andere ist“. Dieses Ziel ist freilich so hoch wie abstrakt; es wird weder eine irdische Utopie noch eine himmlische Zukunft in Aussicht gestellt. Vielmehr scheint die Tätigkeit der Vergöttlichung zeitlos zu sein – eine Dynamik im ewigen Jetzt.
Mit dem dionysischen Entwurf endet die Suche nach vollkommener Ordnung jedoch nicht. Spätere Mystiker:innen haben auf eigene Weise versucht, auf den Grund der Ordnung zu gelangen. Nehmen wir etwa hochmittelalterliche Visionsmystik, wie sie im 12. und 13. Jahrhundert u. a. von Joachim von Fiore, Hadewijch und Mechthild von Magdeburg gepflegt wurde. Diese drei – ein italienischer Mönch, eine (vermutliche) Begine aus Brabant und eine deutsche Schwester – unterscheiden sich natürlich in vielen wichtigen Aspekten. Ihre Werke zeigen aber einen auffallend ähnlichen Umgang mit mystischer Ordnung.
Im Gegensatz zu Pseudo-Dionysius entwickeln sie nämlich kein Gesamtsystem – das ist zu ihrer Zeit Aufgabe von Theologen an den neu aufkommenden Universitäten. Stattdessen nehmen sie die Welt unter die Lupe und lassen die Weltordnung fraktal ins Detail gehen. In anschaulichen Visionen stellen sie jeweils einzelne Systeme dar: Chöre des Himmels, Stufen der Hölle, persönliche Tugenden. Während Dionysius ein zeitloses System aufgestellt hatte, integrieren Joachim, Hadewijch und Mechthild die Zeit dezidiert in ihre Ordnung: Insbesondere die Heilsgeschichte und das Jenseits gelangen in den Fokus. Das Jahr wird vom Rhythmus des Kirchenkalenders bestimmt, wie ein Blick in Hadewijchs Visionen zeigt: „It was a Sunday, in the Octave of Pentecost, […] one Easter Sunday, […] on the day of the Assumption, […] on the feast In nativitate beatae Mariae“. Joachim hingegen entwickelt ein geschichtsphilosophisches Prinzip, das er concordia nennt: „The persons of the one Testament and those of the other gaze into each others’ faces. City and city, people and people, order and order, war and war, act in the same way“. Die Ereignisse der alt-, neu- und nach-testamentlichen Zeit spiegeln sich also bis ins Detail in einem ausgeklügelten System aus überlappenden Zeiteinheiten. Durch die Fokussierung der irdischen Zeit wird das ewige Jetzt aber segmentiert; gerade durch ihre Erweiterung wird die Ordnung begrenzter. Diese grundsätzliche Spannung bleibt nicht unbemerkt: „Das himmelrich hat ende an siner satzunge, aber an sinem wesende wirt niemer ende funden“, versichert Mechthild. Befriedigend aufgelöst wird die Paradoxie aber nicht.
Die Visionen Hadewijchs, Joachims und Mechthilds sind Schlaglichter, nicht die allmählich aufgehende Sonne dionysischer Erkenntnis. Obwohl sie Wissensinhalte vermitteln, wird Wissenserwerb in ihnen kaum thematisiert; die Visionen werden als plötzlich und unbeabsichtigt dargestellt. Auch der Tätigkeitsaspekt, der für Dionysius so wichtig war, geht ins Kleine über. Das klare, wenn auch abstrakte Ziel der Vergöttlichung wird fragmentiert und ins Detail verschoben. Joachim etwa beschreibt ausführlich die menschliche Zusammenarbeit, welche in einem vollkommenen Klosterorden am Ende der Zeit herrschen werde. Diese streng organisierte Utopie des Gottesvolks kommt aber ganz ohne Mitwirken der himmlischen Hierarchie aus; sie hat auch nicht die endgültige Vergöttlichung der Menschheit zum Ziel.
Im Gegensatz dazu ist die mystische Ordnung Jakob Böhmes nicht fragmentiert, sondern radikal ganzheitlich. Statt Einzelvisionen nimmt dieser Schuster aus der Lausitz um 1600 wieder Universalsysteme ins Blickfeld, die sogar noch umfassender sind als Dionysius’ Hierarchien. Nicht nur Menschen und Engel, sondern die ganze Schöpfung – jede Materie und Kraft – wird in die Weltordnung integriert. Gleich zu Beginn seines Werkes Morgenröte im Aufgang macht Böhme dieses Vorhaben deutlich: „Günstiger Leser / Jch vergleiche die gantze Philosophiam, Astrologiam und Theologiam sampt jhrer Mutter einem köstlichen Baum der in einem schönen Lustgarten wechst“. Gleichzeitig wird die Welt in immer kleinere Elemente aufgedröselt. So wird am Ende des zweiten Kapitels die Schöpfung als grosse Kette zusammengefasst: „Aus den Kräften Gottes ist worden der himmel / auss dem himmel seind worden die sternen / auss den Sternen seind worden die elementa; aus den elementen ist worden die erde und die Creaturen“.
Die mittelalterliche Liebe zum Detail bleibt also, dient aber gerade der Verbindung augenscheinlich getrennter Weltteile.Für Böhme ergibt sich nämlich die Analogie und Vernetzung von allem mit allem. Pflanzen, Sterne, der menschliche Körper, Engel und Gott sind alle von gegenseitigen Ähnlichkeiten durchzogen und beruhen auf denselben ‚Qualitäten‘ in unterschiedlichen Kombinationen. Diese Qualitäten sind einerseits Eigenschaften, andererseits aktive, dynamische – oder, in Böhmes Worten, quillende und quallende – Kräfte. Das unterste Ende dieser Ordnungskette findet Böhme in der grundlegenden Dualität von Gut und Böse: „Die Natur aber hat 2. qualitäten in sich bis in das Gerichte Gottes / eine liebliche / himlische und heilige / und eine grimmige / höllische und durstige“. Der Anteil der höllischen Qualität definiert die Nähe zu Gott; im Himmel ist allein die himmlische Qualität vorhanden.
Während die untere Grenze der Böhmeschen Ordnung aus dieser Zweiheit besteht, umfasst das System nach oben hin nicht nur die gesamte Schöpfung, sondern auch Gott selbst. Dieser vereint nämlich alle Qualitäten in sich (selbstverständlich ausser der Höllischen). Jede komplexe Qualität – „liecht / hitze / kalt / weich / süsse / bitter“ usw. – ist in ihrer reinen, guten Form in Gott vorhanden. Da also alles in der Welt aus denselben Qualitäten besteht, kann jedes Objekt mithilfe eines anderen verstanden werden. Die auf Qualitäten basierende Ordnung führt die menschliche Erkenntnis also durch den Kosmos hindurch bis zu Gott: „So man aber will von Gott reden / was Gott sey / so muss man fleissig erwegen die cräfte in der Natur / darzu die gantze Schöpffung“. Das ist das Ziel von Böhmes Entwurf: durch allumfassende Ordnung an das höchste Wissen zu gelangen.
Mit diesem Ziel und der Annahme, dass die verschiedenen Teile der Welt aus gemeinsamen Grundlagen aufgebaut sind und analog zueinander operieren, ist Böhme nun gar nicht weit entfernt von der Naturwissenschaft. Die Vorstellung einer organisch vernetzten, von Ähnlichkeit durchzogenen Welt bildet nämlich auch die Grundlage der klassischen Naturphilosophie, wie sie bis in die Zeit Böhmes praktiziert wurde. Gerade die Erfahrungsbetonung und Experimentierfreude der Wissenschaftlichen Revolution fussten auf einem Glauben an die praktischen Effekte kosmischer, mit dem Menschen sympathisch verbundener Kräfte. Böhmes Bemühen, die gesamte Welt durch Sternenkräfte und alchemische Elemente zu erklären, mag heute abergläubig anmuten. Tatsächlich verbindet ihn diese Beschäftigung eng mit grossen Wissenschaftlern wie Kopernikus und Newton.
Interessanterweise distanziert sich Böhme jedoch von der Wissenschaft. Er kontrastiert menschliche forschende Beobachtung nämlich mit der erleuchtenden Kraft des Heiligen Geistes. Erstere wird zwar als Errungenschaft „von den hochweisen und klugen / geistreichen Menschen durch fleissiges anschawen“ gelobt, aber Böhme wählt für sich einen anderen Weg: „mein fürnehmen ist nach dem Geist und sinne zu schreiben / und nicht nach dem anschawen“. Wer die Welt richtig erkennen möchte, meint Böhme, muss mit dem Kleinen beginnen, aber immer das Ganze – den Sinn – im geistigen Auge behalten. Würde ihm unsere theoretische Physik vielleicht besser gefallen, die vom Boson bis zum Multiversum Materie, Energie, Raum und Zeit zu vereinen versucht? Von Dionysius’ ursprünglicher Rangfolge ist darin natürlich wenig übrig; das war aber schon bei Mechthild und Co. der Fall. Geblieben ist die Suche nach einer möglichst umfassenden Ordnung, die Erkenntnis ermöglicht und Tätigkeit einschliesst.
Literatur
Bernard McGinn: Joachim of Fiore. In: Apocalyptic Spirituality. Treatises and Letters of Lactantius, Adso of Montier-en-Der, Joachim of Fiore, The Franciscan Spirituals, Savonarola. Translation and Introduction by Bernard McGinn. Preface by Merjorie Reeves. New York 1979 (The Classics of Western Spirituality), S. 97–148.
Hadewijch: Visions. In: Hadewijch. The Complete Works. Translation and Introduction by Columba Hart. Preface by Paul Mommaers. New York 1980 (The Classics of Western Spirituality), S. 261–305.
Jacob Böhme: Morgen-Roͤte im Aufgangk. In: Jacob Böhme. Werke. Hrsg. von Ferdinand van Ingen. Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 143), S. 9–506.
Mechthild von Magdeburg: Das fliessende Licht der Gottheit. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Mittelhochdeutschen übers. und hrsg. von Gisela Vollmann-Profe. Frankfurt a. M. 2010 (Bibliothek deutscher Klassiker 19).
Pseudo-Dionysius Areopagita: De Coelesti Hierarchia. In: Corpus Dionysiacum II. Hrsg. von Günter Heil und Adolf Martin Ritter. Berlin/New York 1991 (Patristische Texte und Studien 36), S. 5–59.
Pseudo-Dionysius Areopagita: Himmlische Hierarchie. In: Des heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien. Aus dem Griechischen übers. von Josef Stiglmayer. München 1911 (Bibliothek der Kirchenväter 1/2), S. 1–87.
Pseudo-Dionysius Areopagita: The Mystical Theology. In: Pseudo-Dionysius. The Complete Works. Translation by Colm Luibheid. Foreword, Notes, and Translation collaboration by Paul Rorem. Preface by Rene Roques. Introductions by Jaroslav Pelikan, Jean Leclercq, and Karlfried Froehlich. New York 1987 (The Classics of Western Spirituality), S. 133–141.