I

ist ein grosses Wort in den Predigten Meister Eckharts: Es gibt das gegenwertige nû, das êwige nû, das nû, dâ got den êrsten menschen inne machete,das nû, dâ der leste mensche inne sol vergân,und das nû, dâ ich inne spriche – und die sind alle gleich in Gott: und enist niht dan éin nû.[1]

, als Substantiv gebraucht, bedeutet so viel wie „Augenblick“.[2] Bei Eckhart meint es unter anderem einen „Punkt des Umschlags“,[3] es markiert einen „schlagartige[n] Einbruch der Ewigkeit in die Zeit“.[4]

Aber ist auch ein kleines Wort; ein einfaches Tempus-Adverb, dessen Aufgabe es ist, „einen Sachverhalt von der Zeit her zu determinieren“.[5] Es zeigt „ein Verhältnis von Text- und Handlungszeit an“.[6]

Wenn Meister Eckhart beginnt, einen Text auszulegen, dann schreibt er beispielsweise: Eyâ, nû merket mit vlîze diz wort[7] oder Nû nime ich daz leste wort.[8]

Dieses bedeutet „nun, jetzt, eben jetzt“.[9]

Sehet, nû merket!

Abb. 1: Hieronymus Bosch: Der Garten der Lüste, 1480–1490, Madrid, Museo Nacional del Prado. Detail Mitteltafel I. Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Garden_of_Earthly_Delights_by_Bosch_High_Resolution.jpg

II

Hieronymus Boschs Triptychon Der Garten der Lüste – ausgestellt im Museo del Prado in Madrid – ist über zwei Meter hoch und mit geöffneten Seitenflügeln fast vier Meter breit. Zwei Museumswärter treten auf das Gemälde zu und öffnen die Flügel.

Auch sie entfalten in zweifacher Weise ein : Da ist das kleine , eine einfache Geste des Öffnens, das Hier und Jetzt der Betrachtung. Und da ist das grosse : Die Abbildungen der Innenseiten werden entfaltet. Die Schöpfung bricht hervor aus der grauen, unbeschaffenen Welt, wie sie auf der Rückseite der Flügel abgebildet ist.

Abb 2: Bosch, Garten der Lüste. Triptychon im geschlossenen Zustand. Bildnachweis: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hieronymus_Bosch_-_Triptych_of_Garden_of_Earthly_Delights_(outer_wings)_-_WGA2506.jpg
Abb. 3: Bosch, Garten der Lüste. Triptychon geöffnet. Bildnachweis: wie Abb. 1.

So gesehen gibt es bei Bosch keinen schrittweisen Schöpfungsakt. Im Augenblick der Schöpfung, in demjenigen Augenblick, in dem die Flügel geöffnet werden, bricht sie in ihrer Gesamtheit hervor. Zu ihr gehören der paradiesische Flügel links und der Höllenflügel rechts, genauso wie die grosse Mitteltafel, die als ‚imaginäres Paradies‘[10] umschrieben werden kann.

(Wobei es auch anregend ist, sich eine verspieltere Variante einer spaltenweisen Öffnung vorzustellen: Hat die bärtige Gestalt auf der Rückseite des linken Flügels, der Schöpfergott, die Welt tatsächlich im vollen Bewusstsein darum geschaffen, wie sie sein wird?)[11]

Abb. 4: Bosch, Garten der Lüste. Gott Vater. Bildnachweis: Linfert 1975 (wie Anm. 12), S. 22.
Abb. 5: Bosch, Garten der Lüste. Collage. Bildnachweis: B.F.

Boschs Bild kann zwar schrittweise von links nach rechts gelesen werden: Adam und Eva werden irgendwann aus dem Paradies vertrieben worden sein, und über ein Leben im Diesseits führt die christliche Ordnung zwangsläufig in die Endzeit. Eine lineare Deutung ist in der Konfrontation mit der Gesamtheit des Triptychons letztlich jedoch einer ständigen Verunsicherung ausgesetzt. Das Gemälde prägt eine Ungewissheit, die für die Struktur im Grossen genauso gilt wie für das Detail im Kleinen: „Die eine Voraussetzung indessen muß man machen: daß der veränderliche und ungewisse Zustand der Welt überall in dem Bild enthalten, wenigstens angedeutet ist.“[12]

Abb. 6: Bosch, Garten der Lüste. Detail linke Tafel. Bildnachweis: wie Abb. 1.

Der Reiz von Boschs Triptychon liegt in der einfachen Geste, seinem kleinen des Öffnens. Und er liegt, wenn die Flügel geöffnet sind, im grossen der Betrachtung, der gleichzeitigen und unentwirrbar verschränkten Gegenwart von Himmel, Hölle und Erde.

Heaven and Hell is on Earth.

III

[Michael Oliver]
Children growing, women producing
Men go working, some go stealing
Everyone’s got to make a living

[Chorus]
Heaven and Hell is on Earth

Diese Liedzeilen sind zunächst ein Sample. Paul Kalkbrenner verwendet Teile davon auf seinem Track Gebrünn Gebrünn.[13]

Und auf der anderen Seite des Atlantiks stellt sie Jennifer Lopez ihrem Stück Jenny From the Block voran.[14]

Ganze 118 mal, so listet es die Website WhoSampled auf, wurde der Song Heaven and Hell is on Earth der 20th Century Steel Band gesampelt.[15]

Sampling ist eine einfache Geste des . Anstatt ein Stück interpretativ zu vergegenwärtigen, wird es schlichtweg eingespielt. Sampling ist das Drücken eines Drumcomputer-Pads zum richtigen Zeitpunkt.

Und zugleich ist es ein grosses : „In hip-hop, sampling is like alchemy. It’s an art form that rearranges space and time.“[16] Oder, mit den Worten von DJ Premier etwas zugespitzter formuliert: „Right there I was like, ‚yo‘. I didn’t have to go any further.“[17]

Das des Sampelns, das seinen Ausdruck im yo von DJ Premier findet, ist der Einbruch des Hörens in den Akt des Sagens und umgekehrt. Es ist ein Gehört-Haben und Sagen-Werden zugleich.

Im Song der 20th Century Steel Band ist dieses in irritierender Weise bereits vorgegriffen.[18]

Das, was der Song verhandelt, gilt auch für ihn selbst.

Die Gegenwart, wie sie im Song angedeutet wird (growing children, producing women, working men etc.), kann nicht entschlüsselt werden, ohne auf die gleichzeitige Präsenz von Himmel und Hölle zu verweisen. Sie ist nur im Kontext von Himmel und Hölle zu verstehen. Eine solche Gleichzeitigkeit von Himmel, Hölle und Erde aber stellt selbst wiederum ein unlösbares Problem dar. Wie lässt sich eine Gegenwart verstehen, zu der die singenden Engel der zweiten Strophe genauso gehören wie die singenden Vögel der dritten Strophe; in der der Teufel immer schon im Begriff ist zu kommen. Eine derartige Gegenwart ist nicht mehr fassbar.

Gleichzeitig kehrt der Song mit seinem eigentümlichen Steel-Drum-Sound auch das des Sampelns um. Der Sound lässt sich, gerade zu Beginn etwa, als weird bezeichnen, „as something which cannot be made to add up“.[19] Woher kommt diese mit Hall versetzte, leicht blecherne Stimme? Was ist das für ein Chor, der ihr antwortet? In seiner undurchdringlichen Weise antizipiert der Song bereits sein Gesampelt-Werden, manifestiert sich als ein Gesagt-Haben, ist schon ein Gehört-Werden.

Der Song verdeutlicht die paradoxe Ausgangslage beim Sampeln. Der Rückgriff auf ein Sample ist immer Präsenz und Absenz zugleich: Ich höre etwas, das zugleich gesagt und nicht gesagt wurde. Ich sage etwas, das zugleich gehört und nicht gehört wird.

Die Alchemie, die Kunstform, yo!

Abb. 7: Bosch, Garten der Lüste. Detail rechte Tafel. Bildnachweis: wie Abb. 1.

IV

Das Meister Eckharts ist eine kleine Geste und ein grosse. Sie lädt ein und führt dorthin, wo alles zugleich abgesteckt und offen ist. Wir befinden uns in einem gegenwertigen nû. Hier wird gelesen, betrachtet und gehört. Wir sind in der Glückseligkeit versunken. Auch dem Distelfink, auf dem wir sitzen, geht es gut. Und wer seid ihr, die ihr euch nach der Brombeere im Schnabel sehnt?

Who can solve the problem? (Who can solve it?)

Abb. 8: Bosch, Garten der Lüste. Detail Mitteltafel II. Bildnachweis: wie Abb. 1.


[1] Vgl. Meister Eckhart: Predigt 2. In: Meister Eckhart. Werke 1. Texte und Übersetzungen. Hrsg. von Niklaus Largier. Berlin 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20).

[2] Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer, Datum des Zugriffs am 11.08.2024, s. v. ‚nû‘.

[3] Niklaus Largier: Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart. Bern u. a. 1989 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 8), S. 179.

[4] Alois M. Haas: Geistliches Mittelalter. Freiburg 1984 (Dokimion 8), S. 348.

[5] Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. Hildesheim 32005, S. 572.

[6] Ebd.

[7] Meister Eckhart: Predigt 2 (wie Anm. 1), S. 24.

[8] Meister Eckhart, Predigt 9 (wie Anm. 1), S. 105.

[9] Lexer (wie Anm. 2), s. v. ‚nû, nu‘.

[10] Hans Belting: Hieronymus Bosch. Garten der Lüste. München u. a. 2002, S. 12.

[11] Eine ähnliche Beobachtung ebd., S. 22: „Hier hat Gott Vater Platz genommen. Bekrönt von einer Tiara, wie sie die Päpste trugen, hockt er ganz fern in der oberen Bildecke mit einem ungewöhnlich schüchternen Schöpfungsbefehl, als entglitte ihm bereits die geschaffene Welt.“

[12] Carl Linfert: Hieronymus Bosch. Zürich 1975, S. 104.

[13] Paul Kalkbrenner: Gebrünn Gebrünn. Berlin Calling Soundtrack (Official PK Version). Abrufbar auf YouTube unter: https://youtu.be/tlkhvHa9zz8?si=wF43nRzVChU_q60s, Datum des Zugriffs am 11.08.2024.

[14] Jennifer Lopez: Jenny from the Block (Official HD Video) ft. Jadakiss, Styles P. Abrufbar auf YouTube unter: https://www.youtube.com/watch?v=RciKM866Rhk, Datum des Zugriffs am 11.08.2024.

[15] Vgl. WhoSampled: Heaven and Hell is on Earth. Abrufbar unter: https://www.whosampled.com/20th-Century-Steel-Band/Heaven-and-Hell-Is-on-Earth/, Datum des Zugriffs am 11.08.2024.

[16] NPR Music: DJ Premier’s Sonic Inspiration in 3 Samples. The Formula, S1E4. Abrufbar auf YouTube, Datum des Zugriffs am 11.08.2024, min. 0’24’’–0’31’’.

[17] Ebd., min. 1’15’’–1’22’’.

[18] 20th Century Steel Band: Heaven and Hell is on Earth. Abrufbar auf YouTube unter: https://youtu.be/n6EIxvjkdMM?si=mAc3u0yvazoSHGkH, Datum des Zugriffs am 11.08.2024.

[19] Zum Modus des ‚Weirden‘ vgl. Mark Fisher: The Weird and the Eerie. London 2016, hier S. 56.

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