Ein verbindendes Charakteristikum einer Reihe als‚mystisch‘ wahrgenommener Texte ist ihr Bezug auf den Kosmos und die Natur. Nicht nur ist der Mensch als Teil der Schöpfung mit der Natur fest verbunden, sondern sie erscheint auch in manchen Texten geradezu sinnlich wahrnehmbar von der Gottespräsenz gezeichnet. Ihre Betrachtung kann dem Mystiker/der Mystikerin als Instrument dienen, die eigene Gotteserfahrung anzuregen und in verborgenes Wissen vorzudringen. Im Folgenden möchte ich zwei unterschiedliche Herangehensweisen nebeneinanderstellen, wie im Rahmen vormoderner Dichtung Naturschilderungen Teil einer mystischen Schreib- und Lektürepraxis werden, in welcher die Begrenzung des menschlichen Erkenntnishorizonts und Schaffensvermögens punktuell aufgehoben wird. Zum einen möchte ich hierzu auf die Sammlung der ‚Strophischen Lieder‘ der flämischen Mystikerin Hadewijch aus dem mittleren 13. Jahrhundert blicken, zum anderen auf das Gedicht Auf GOttes Herrliche Wunder Regirung der Barocklyrikerin Catharina Regina von Greiffenberg.
Die Dichterin Hadewijch, welche mutmasslich als Vorsteherin einer Beginengemeinschaft in der Gegend um Antwerpen wirkte, hinterliess ein umfangreiches Œuvre, das neben einem Buch der Visionen, einem Corpus von Briefen und Reimbriefen auch eine Sammlung von 45 ‚Strophischen Liedern‘ umfasst.[1] Diese sind grösstenteils als Kontrafakturen französischer Trouvèreslieder zu erkennen, was ihnen einst die Bezeichnung „Minnelieder einer Nonne“ durch den Philologen Franz Joseph Mone einbrachte. Dieser ordnete sie in seiner ‚Übersicht der niederländischen Volks-Literatur älterer Zeit‘ (1883) beim weltlichen Minnesang ein.[2] In der Tat handelt es sich bei diesem Liedœuvre um eine virtuose Verflechtung von weltlichen und geistlichen Diskurszitaten und Gattungstraditionen. Ein auffallendes und in der Forschungsdiskussion der Lieder häufig besprochenes Element der Sammlung bilden die ‚Natureingänge‘: Eine Mehrzahl der Lieder beginnt mit einer Referenz auf die Jahreszeit, welche mit weiteren Vegetationstopoi ergänzt wird.[3]
Ihre Spannung beziehen diese Liederöffnungen aus dem thematisierten Umbruch von Winter- und Sommerzeit, wobei gemäss der bekannten Polarität der Affekte Winter mit Leid und Kargheit, Sommer mit Freude und Fülle assoziiert wird. Während aber in der (insbesondere französischsprachigen) Tradition des Minnesangs die Ankunft des Sommers häufig den Sänger zum Singen erst recht animiert, wird in Hadewijchs Liedern der Einfluss der Jahreszeit auf den Liebenden gerade zurückgewiesen. So heisst es etwa in Lied 8 (Altoes mach men van minnen singhen): Altoes mach men van minnen singhen, / eest herfst, eest winter, eest lenten, eest somer (Immer kann man von Minne singen, / sei es Herbst, sei es Winter, sei es Frühling, sei es Sommer, V. 1f.).[4] Der Einsatz und die Strebsamkeit des Mystikers/der Mystikerin sollen gerade nicht vom weltlichen Mass der Jahreszeiten und ihrer affektiven Wirkung abhängig sein. Stattdessen wird, wie sich an Lied 1 (Ay, al es nu die winter cout) der Sammlung beobachten lässt, die Natur zum lesbaren, offenbarenden Zeichen (V. 7):
Ay, al es nu die winter cout,
cort de daghe ende de nachte langhe,
ons naket saen een somer stout,
die ons ute dien bedwanghe
sciere sal bringhen. Dat es in scine
bi desen nuwen jare:
die hasel bringhet ons bloemen fine.
Dat es een teken openbare.
– Ay, vale, vale millies –
ghi alle die nuwen tide
– si dixero, non satis est –
omme minne wilt wesen blide. 12 (1, 1–12; Herv. UF)[5]
(Ach, auch wenn der Winter jetzt kalt ist, / die Tage kurz und die Nächte lang, / naht uns bald ein mutiger Sommer, / der uns schnell aus dieser Tyrannei / führen wird. Das wird sich / in diesem neuen Jahr zeigen: / Der Haselbusch bringt uns feine Blüten. / Das ist ein deutliches Zeichen. / – Ach, vale, vale, millies – / euch allen, die ihr in der neuen Jahreszeit – si dixero, non satis est – / wegen Minne froh sein wollt.)
In der sich abzeichnenden Übereinstimmung von Vegetation und spirituellem Wachstum des/der Liebenden, welche auch durch das in den Natureingang hineingezogene mystische Vokabular (stout,V. 3; bedwanghe,V. 4) erkennbar ist, wird die angekündigte neue Jahreszeit – zunächst ein Topos des französischen Minnesangs (temps novel) – auch zur sichtbaren Verheissung der Heilszeit und einem Zitat der Heiligen Schrift.
Eine ebenso sprachgewaltige Lyrikerin ist die protestantische Mystikerin Catharina Regina von Greiffenberg, welche mehrfach in ihrer Dichtung mit Bildern der Natur und des Kosmos arbeitet, so auch bei Auf GOttes Herrlich Wunder Regirung. Hier wird ein Kosmos entworfen, der ganz und gar von Gott durchwirkt ist. Schon die ersten Zeilen des Gedichts deuten eine erotische Verschmelzung Gottes mit der Natur an, gleichzeitig wird Gott auch als Weltenlenker gezeigt (V. 5), der den Kosmos in der neuplatonischen Tradition vom höchsten bis zum tiefsten Element souverän beherrscht:
Auf GOttes Herrliche Wunder Regirung.[6]
DEr du mit Weißheits Safft die Sternen kanst befeuchten /
daraus das Schicksel wird; zu zeiten ohn ihr Werk
ein Kunst begebnuß spielst / zu zeigen deine Stärk /
die aller Himmel Kräfft in höchster Demut scheuchten!
Es pflegt dein herrschungs-Stab von Recht und güt 5
zuleuchten.
Mit wunder einvermängt die vorsicht ich vermerck /
vom höchsten Welt-geschöpf biß auf die ringe spörk.
der Engel feur-verständ die lieb-sorg nicht erreichten.
Du spinnst ein Glükks-Geweb mit tausend Fäden an: 10
durch alle Sternen Kreiß / durch alle Ort der Erden
muß Werkzeug zu dem thun / daß du beginnst / bracht
werden.
Dein’ Allverschaffungs Krafft macht überall die Bahn.
ziehst du nur diese Schnur / dran alle Herzen hangen / 15
so ist der Sinn-Entwurf schon in das That-seyn gangen.
Auffallend ist, wie Gottes Lenkmacht durch die Motivik von ‚Faden‘ (V. 10) und ‚Schnur‘ (V. 15) entfaltet wird und so – wie im feinen Werk eines Puppenspielers – Impuls und Bewegung ineinander übergehen. Gotteswerk wird auf diese Weise zum Kunstwerk.
Denkt man an die gängige poetologische Metaphorik des Texts als ‚Gewebe‘ (V. 10), so liegt der Gedanke nahe, dass Gottes Schaffenskunst sich im Werk des mystischen Dichters/der mystischen Dichterin spiegelt. Bei Hadewijch wird über die Naturbetrachtung Einsicht in den Gang der Welt gewonnen: Natur, Jahreszeitenlauf und mystischer Weg werden als Teil der Schöpfung miteinander in Verbindung gesetzt und als Gottesnähe erlebt. Catharina von Greiffenberg geht mit ihrer Beschreibung von Natur und Kosmos einen Schritt weiter, indem Schöpfungsvorgang und Schreibprozess im Begriff der Kunst vereint werden und der Dichter/die Dichterin so im Schaffensprozess die similitudo Dei erreicht. In Hadewijchs ‚Strophischen Liedern‘ wird die Natur für den Mystiker/die Mystikerin in der kontemplativen Betrachtung als Enthüllung von Verborgenem ‚lesbar‘, in Catharina von Greifensberg Gedicht Auf GOttes Herrliche Wunder Regirung aber im Schreiben zum offenbarenden Nachvollzug der Schöpfung.
[1] Die Lebensumstände von Hadewijch sowie Datierung und Entstehungskontexte ihrer Werke liegen weitgehend im Dunkeln, und die Forschung muss sich auf die aus ihren Werken abgeleiteten Vermutungen beschränken. Auch die handschriftliche Überlieferung setzt erst spät im mittleren 14. Jahrhundert ein. Eine informative Einführung zu Hadewijch und ihrem Werk bietet die neuere Edition der ‚Strophischen Lieder‘(vgl. Veerle Fraeters / Frank Willaert / Louis Peter Grijp (Hrsg.): Hadewijch: Lieder. Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien. Aus dem Niederländischen übersetzt von Rita Schlusemann. Berlin/Boston 2016).
[2] Vgl. Fraeters/Willaert/Grijp, Hadewijch (wie Anm. 1), S. 15.
[3] Die im Folgenden angestellten Überlegungen zum Status des Natureingangs in Hadewijchs ‚Strophischen Liedern‘ werden im Rahmen meiner Dissertation ausführlicher dargelegt.
[4] Zitat und Übersetzung hier und im Folgenden nach Fraeters/Willaert/Grijp, Hadewijch (wie Anm. 1), hier S. 148f.
[5] Ebd., S. 98f.
[6] Zitiert nach: Ulrich Maché / Volker Meid (Hrsg.): Gedichte des Barock. Stuttgart (1980), S. 247.