„Ich nenne die Erfahrung eine Reise ans Ende des dem Menschen Möglichen. Jeder kann diese Reise auch nicht machen, aber wenn er sie macht, so setzt das voraus, dass die bestehenden Autoritäten und Werte negiert sind, die das Mögliche begrenzen. Aufgrund dessen, dass sie die Negation anderer Werte, anderer Autoritäten ist, wird die Erfahrung in ihrer positiven Existenz rechtsgültig selbst zum Wert und zur Autorität.“[1]
George Bataille bringt in dieser Charakterisierung der von ihm angestrebten „inneren Erfahrung“ auf den Punkt, was uns in einem Blockseminar, das im Sommer 2024 an der UZH stattfand,[2] maßgeblich beschäftigt hat: Grenzgänge des Menschen, (gedankliche) Bewegungen zwischen Selbstentblößung und intensiver (experientieller) Selbsterkundung, die Entgrenzungen der Sprache fordern und nicht nur dadurch zu Grenzverletzungen im Sozialen führen können, die Sprengpotential haben (sollen) und darin zugleich bedrohlich, aber wohl auch attraktiv wirken. Während Bataille bestrebt ist, diese grenzmarkierende, -verschiebende oder gar -überschreitende Erfahrung von jeglichem religiös motivierten Glauben zu entkoppeln, macht er die Traditionslinie des von ihm Angezielten doch deutlich. Denn er „verstehe unter innerer Erfahrung das, was man gewöhnlich mystische Erfahrung nennt: die Zustände der Ekstase, der Verzückung oder wenigstens einer meditativen Gemütsbewegung“[3] – innerhalb derer im abendländischen Denken die Grenzüberschreitung in den meisten Fällen ausgelöst ist durch eine explizit gemachte Liebe zu Gott, der so nicht nur Movens, sondern immer auch Ziel und darin letztlich, wie Bataille es kritisiert, begrenzendes Moment jeder ausbrechenden – mitunter selbst- und gesellschaftstransformierenden – Regung darstellt.
Über die Lektüre exemplarischer Texte von der Spätantike bis zur Neuzeit näherte sich die Seminardiskussion sowohl dem Begriff der (abendländischen) ‚Mystik‘ an, vor allem aber dem in dieser Erlebnis- und Ausdrucksform scheinbar starken Zusammenhang von christlich verankertem Glauben und radikalen Positionen, die sich verschiedentlich – etwa in intensiver Erfahrung, destruktiver Askesepraxis, Selbstkasteiung, sozialer Gemeinschaftsbildung, Freiheitspostulaten oder eschatologischer Erwartung – äußern können. In der Moderne wird die mystische Haltung oft mit Schwärmerei, extravaganter Erotik und Irrationalität identifiziert oder als Artikulation sozialrevolutionärer Visionen und Antizipation eschatologischer Erfüllung gelesen. Durch die Zeiten hindurch aber verbindet sich mit ihr eine Absonderung, eine Bewegung an die Ränder der Gesellschaft, die sowohl als Befreiung (von Autoritäten und Normen) gedeutet werden kann, sich als deren Verachtung durch eine Elite ausnimmt, in selbstgewählter Isolation eine Besinnung auf anderes ermöglicht, aber auch durch Ausschluss Marginalisierung bewirkt.
Ausgehend von Dionysius Areopagitas Mystischer Theologie, einem spätantiken Grundtext des mystischen Denkens, bewegten wir uns zu Formen spätmittelalterlicher Mystik, wie sie etwa bei Hadewijch von Antwerpen oder den beiden Dominikanern Meister Eckhart und Heinrich Seuse begegnen. Unsere Aufmerksamkeit galt Fragen nach der religiösen Erfahrung, ihrer Artikulation und Produktion und insbesondere ihrer medialen Vermittlung, da gerade Texte der zuletzt genannten Autoren verhandeln, wie über oder ohne Medien Zugang zu und Verständnis von Gott gewonnen werden soll. Da diese textuell verhandelte und bestenfalls auch angeregte Nähe zu Gott zu einer Neuformung auch der Welterfahrung führen kann, machen sich Rezipierende gewissermaßen schon während ihrer Lektüre auf einen Weg der Transformation.
Einblicke in die apokalyptische Mystik hingegen ließen die politische Dimension derartiger Denk-, Diskurs- und eben auch Lebensformen aufscheinen, wie sie etwa bei Joachim von Fiore in einer skizzierten Neuordnung der (endzeitlichen) Gesellschaft oder bei Thomas Müntzer gar im Aufruf zur umstürzlerischen und durchaus gewalttätigen Sozialrevolution sichtbar werden. Die Transformation soll hier nicht mehr allein im Einzelmenschen, sondern innerhalb einer größeren Gemeinschaft provoziert werden.
Neben derart sozialpolitisch anmutenden Formen einer innerweltlichen Umsetzung heilsgeschichtlicher Vorstellungen kann sich die Überschreitung der Innerlichkeit einer Einzelseele hin zum Fruchtbarwerden in der Welt auch als kosmopoetische Neuformung der Erfahrung des Göttlichen ausnehmen, wie sie etwa in Jacob Böhmes Aurora vorliegt. Die quillende, quellende, wallende, quallende, qualifizierende Natur wird zur Immanenz des Göttlichen, das nicht allein in der Seele kontinuierlich wiedergeboren wird, sondern auch in allem, was den Menschen umgibt. Dem Anschein nach weitaus geordneter in der äußeren Form, dabei aber keineswegs weniger explorativ in der Sprachnutzung wie -schöpfung oder weniger überzeugt in der Annahme eines Einklangs mit der Natur zeigen sich poetisch-literarische Stilisierungen göttlicher Erfahrung etwa durch Angelus Silesius oder Katharina Regina von Greiffenberg, bei denen seelische und sprachliche Grenzgänge sich vereinen.
Dafür, dass – und ein kleines bisschen ebenfalls in welcher Form – die uns interessierende mystische Tradition in teils säkularisierter, meist ästhetisierter Weise, da nicht zuletzt im Produktivwerden von rhetorischen Elementen, auch das Denken seit dem 19. Jahrhundert geprägt hat, mag das Eingangszitat Batailles repräsentativ stehen; für die Literatur wären hier u. a. Goethes Bekenntnisse einer schönen Seele oder Musils Die Vollendung der Liebe zu nennen.
Die folgende Serie von Beiträgen, die von Seminarteilnehmenden verfasst wurden, reflektiert in ihren gebotenen Schlaglichtern sowohl die Diskussionen des Sommers, führt darüber hinaus aber Gedanken eigenständig weiter, die allesamt in der einen oder anderen Weise an einer ‚Bewegung ans Ende des dem Menschen Möglichen‘ orientiert sind: sei es durch eine scheinbar kontraintuitive Verbindung von Ordnungswillen und Grenzüberschreitung; sei es durch Konzeptionalisierungen gemeinschaftlichen Lebens an der Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits; sei es durch eine Dichtkunst, in der nicht mehr allein der dichtende Mensch wirkt, sondern in welche Gottes Schaffenskunst selbst Einzug hält; sei es durch das Aufzeigen eines lyrischen Prozesses, der mystische Erfahrung als sprachlich spannungsvollen Aufschwung in Liebe zu Gott und in Gott hinein fasst; sei es durch Überlegungen zum Feuer des Heiligen Geistes, das entzünden, aber auch verbrennen kann; sei es durch Spekulationen über das gegenwertige nú oder durch solche über das Nichts.
[1] George Bataille: Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I). Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth. Mit einem Essay von Maurice Blanchot. Berlin 2017, S. 19.
[2] Unter der Leitung von Niklaus Largier (UC Berkeley) und Daniela Fuhrmann (UZH) im Rahmen der Lehre des Deutschen Seminars der UZH.
[3] Bataille: Die innere Erfahrung (wie Anm. 1), S. 14.