Ob als Behausung von Ungeheuern und Fabelwesen, als Zufluchtsort für Liebende, als Zugang zum Jenseits oder als künstlich angelegter Staunensraum: Höhlen sind in zahlreichen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit von besonderem Stellenwert, da sie sich in ihrer Andersartigkeit von der alltäglichen Lebenswelt unterscheiden und gängige Wissens- und Erfahrungsmöglichkeiten hinterfragen. Der Begriff der Höhle bezeichnet ganz allgemein gefasst eine oberflächliche Aushöhlung, einen Hohlraum im Innern der Erde. Die literarischen Darstellungen dieser unterirdischen Gänge sind verwinkelt und führen unmittelbar in die Tiefe von wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Fragestellungen.

Im Rahmen eines anregenden Bachelor-Seminars der Älteren Deutschen Literaturwissenschaft sind wir in die Abgründe der vormodernen Literatur eingetaucht, um der mannigfaltigen Semantisierung der Höhle nachzuspüren. Unsere Reise führte uns von Platons Höhlengleichnis bis zum barocken Schelmenroman: Gemeinsam haben wir Texte aus unterschiedlichen Gattungen und Jahrhunderten durchleuchtet, um die literarisch inszenierten Höhlen nicht nur als blosse Aufenthaltsräume, sondern als Orte der Erkenntnis, der Imagination sowie der künstlerischen Produktion und Rezeption zu analysieren.

Diese Blogreihe präsentiert eine Sammlung von Beiträgen, die von Studierenden verfasst wurden und einen breit gefächerten Einblick in die Diskussionen, Reflexionen und Interpretationen des Seminars geben. Die Beiträge erkunden, wie die jeweiligen Höhlen literarisch modelliert werden und worin ihre narrativen Funktionen gründen. Sie werfen ein aufschlussreiches Schlaglicht auf wiederkehrende Motive und zeigen, dass die jeweiligen Höhlen das Spannungsverhältnis zwischen Fiktion und Realität auf vielfältige Weise reflektieren und verhandeln. Zudem untersuchen sie, welche Einsichten sich ergeben, wenn mediale Aspekte in die Analyse literarischer Höhlen einfliessen, indem sie den Blick auf die visuelle Kunst – insbesondere filmische Darstellungen – ausweiten.

Ohne allzu viel verraten zu wollen: Die Bandbreite der literarischen Höhlen, die in den hier versammelten Beiträgen behandelt werden, reicht weit. Mal sind sie Stätten künstlerischer Kreativität und Quellen der Inspiration, mal markieren sie die Schwelle zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Ein anderes Mal erweisen sie sich als heterotopischer Raum der Erinnerung und der Offenbarung, während sie an anderer Stelle das dunkle Nichts verkörpern, das womöglich noch furchterregender ist als die von Zwergen und Riesen bewohnte Höhlenwelt. So unterschiedlich die literarisch inszenierten Höhlen auch sein mögen, so lassen sie sich allesamt als Anderswelten begreifen, welche die Grenzen des Gewohnten sprengen. Zwar mögen sie auf den ersten Blick als isolierte Enklaven erscheinen, doch offerieren sie gerade in dieser Abgegrenztheit gestalterische Spielräume, um die äussere Welt nicht nur zu umreissen, sondern auch wesentlich mitzugestalten. Ziel dieser Blogreihe ist es, die Vielfalt dieser Höhlenwelten einem breiteren Lesepublikum näherzubringen und zu einer Reflexion über gängige Wissensordnungen und Wahrnehmungsprozesse einzuladen.

Sarah Möller ist Assistentin am Lehrstuhl Schnyder für ÄDL der UZH. Ihr Promotionsprojekt fokussiert die ästhetische Dimension von Krisendispositiven in Grimmelshausen Simplicissimus-Roman.

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