In Zeiten der Reformationsfeierlichkeiten, in denen es Luther als Playmobil-Figur zu kaufen gibt, wird nun auch Zwingli populär. Der neue Film erzählt das Leben des Zürcher Reformators flüssig, mit differenziert agierenden Schauspielern und viel Lokalkolorit. Die Schauplätze dafür wurden offenbar kenntnisreich und mit grosser Akribie rekonstruiert. Ausgangspunkt für das filmische Gesamtbild Zürichs etwa ist ganz offensichtlich Jos Murers Darstellung der Stadt von 1576; Chronikbilder des 16. Jahrhunderts haben als Vorlage für die Gestaltung der Innenräume gedient. Auch das Personal des Films kommt bekannt vor und orientiert sich im Aussehen an der Bildtradition der Reformationszeit: Wenn Zwingli mit seiner besonderen schwarzen Kopfbedeckung im Profil gezeigt wird, so wird klar, dass das Bild von Hans Asper (um 1531) Referenz ist.
So präzis Personen und Räume in lebende Bilder übertragen werden, diffuse Vorstellungen vom Mittelalter haben das atmosphärische Setting geformt: Dunkelheit, Nebel und Schnee sind vorherrschende Wetterlagen; und es wird nur dann heller, wenn die Szene schon mittelalterlich genug erscheint: etwa bei der Vollstreckung des Todesurteils an Felix Manz, eines Weggefährten von Zwingli, der zum Täufer wurde. Dreck und Schmutz prägen die Umwelt bis in die Fingernägel, nicht aber die Zähne. Erwartungsgemäss kreuzt eine Ratte bereits früh im Film eine Strasse von rechts nach links: ein Vorbote der Pest. Das deutliche Bemühen um Authentizität schlägt sich ebenso im Umgang mit der Sprache nieder: Durchwegs wird heutiges Schweizerdeutsch gesprochen; in Momenten allerdings, in denen Texte des Reformators zitiert werden, schaltet der Film gewissermassen auf den O-Ton der historischen Persönlichkeit um und zielt in Formulierung und Aussprache mehr Mittelalter an. Deshalb wohl irritieren modernsprachliche Begriffe wie etwa ‚funktionieren’ – gleich zweimal in einem Dialog verwendet.
Die Hauptfigur, der Reformator Zwingli, ist als kleiner ‚Grosser Mann’ konzipiert: als einer der humanistisch denkt, schreibt und übersetzt, der die Politiker wie auch das Volk überzeugen kann, der provoziert, aber besonnen handelt. Der Film denkt Zwingli indes vor allem in der Enge des spätmittelalterlichen Zürich und allenfalls noch im eidgenössischen Kontext. Frustriert bekennt der Kino-Zwingli vor dem Stadtrat, dass er mit Luther nicht zu Schlag gekommen sei; und es klingt so, als käme er von Vertragsverhandlungen aus Brüssel zurück.
Die auf ein menschliches Mass gestutzte Grösse Zwinglis inszeniert der Film auch dann, wenn es um die Moral geht. Der Reformator erscheint als dezidierter Verfechter individueller Freiheit und als Streiter für mitmenschliches Verhalten gegenüber einem dekadenten altgläubigen Klerus und entgleisten eigenen Glaubensgenossen. Zugleich jedoch wird seine Vaterschaft als Priester hervorgehoben und dann seine – schlussendlich eheliche – Beziehung zur Zürcherin Anna Reinhart entwickelt. Ihr weist der Film übrigens einen erstaunlich grossen Part als einer Frau zu, die mit der Reformation erwacht und nicht nur zu Bildung kommt, sondern auch das Denken lernt. Die zahlreichen Nahaufnahmen von Anna und Zwingli (der Film bevorzugt den Nachnamen) sollen der Reformation ganz offensichtlich ein menschliches, ja zärtliches Gesicht geben.
Im Abspann allerdings fällt diese freundliche Interpretation von Zwingli und der Zürcher Reformation wieder in das Pathos älterer Geschichtsschreibung zurück: Das wie im Geschichtsbuch formulierte Fazit schreibt Zwinglis Zeit dann doch nochmals als Anbruch einer neuen Ära fest; wie bereits in manchen Momenten des Films wird der Reformator als Heilsbringer in der Folge Christi inszeniert. Hingegen rücken die letzten Bilder von Anna die Geschichte in die Gegenwart. Nach dem Schlachttod ihres Mannes wird sie gezeigt, wie sie die Scherben eines im Streit mit diesem zu Bruch gegangenen Gefässes in der Erde vergräbt. Dabei sinniert sie nicht über die neuen Glaubenswahrheiten, sondern – ganz modern – über die ewige Suche nach der Wahrheit.
Historizität und Aktualität, Rezeption und Übertragung, Authentizität und Atmosphäre, Reenactment und Rekonstruktion: Der Film bietet viel, wenn man sich für Modi und Strategien der filmischen Herstellung von Geschichtsbildern interessiert.
Martina Stercken lehrt Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Vergleichende Landesgeschichte an der Universität Zürich.