Ichdokumente

Projektpräsentationen des Seminars 'Das dokumentierte Ich' der UZH im FS 21

YOUTUBE – PRODUKTIVE SENSATION

Das Ich von ©Nathaniel Drew

Sucht man auf YouTube nach Schlagwörtern wie Productivity, Minimalism oder schlicht Self-Improvement, so begegnen einem bekannte Namen wie MATT D’AVELLA, THOMAS FRANK, BETTER IDEAS (Joe Schweizer), ALI ABDAAL oder NATHANIEL DREW. Diese Männer versuchen ihren Followern zu erklären, wie sie ihr Leben verbessern können. Dies mit ruhiger Stimme und einer Ästhetik wie im Kino.

Ich folge ihnen seit Jahren, weil ich zu der Sorte Mensch gehöre, die sofort auf Videos klickt, die mit «How [insert activity] changed my life» betitelt sind. Ich bin vielleicht nicht so intensiv wie sie von der Idee der Selbstverbesserung geleitet, doch ihre Beobachtungen sind überaus nützlich, regen zum Denken an und sind einfach unterhaltsam.

Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen haben seit Jahren einen Trend in unserer Gesellschaft beobachtet, der mit der milliardenschweren Self-Help Industrie zusammenhängt. So beschreibt Heide von Felden, Professorin der Erwachsenenbildung, wie Self-Improvement zum Leitfaden vieler Menschen geworden ist. Junge wie Alte arbeiten an sich selbst, versuchen sich zu verbessern, neue Menschen zu werden. Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz zeigt, wie sich eine moderne Ästhetik, die uns etwa in sozialen Medien begegnet, genau an diesem ständig Neuen ausrichtet.

Viele YouTuber folgen diesem Trend, denn egal welches Thema sie besprechen, es scheint immer darum zu gehen, BESSER zu werden: als Mensch, Freund:in, Arbeitnehmer:in, Künstler:in und schliesslich Denker:in (mithilfe eines cinema 4k drone shot durch die Stadt oder im grauen T-shirt, welches sie seit drei Jahren jeden Tag tragen).

Im Rahmen unseres Seminars habe ich mich einem der erwähnten YouTuber gewidmet: NATHANIEL DREW und seiner Identität online.

For sensation’s sake!

Das Ich, mit dem der YouTuber Nathaniel Drew seinem Publikum begegnet, basiert nicht allein auf Ich-Erzählungen. Vielmehr baut sein Ich auf einer ganzen audiovisuellen wie narrativen Ästhetik auf. Beobachtet man seine Videos, wird offensichtlich, dass das Ich von Nathaniel Drew auf einer «sinnlichen Reflexion» beruht: Alles was er tut, wird in einer modernen Ästhetik, wie es Andreas Reckwitz nennt, «sinnlich erfahrbar» (Reckwitz 2016, 136).

Nathaniel In: e «A Video for Introverts», (2019)

Die alltäglichsten Ereignisse, etwa das Laufen durch die Stadt und vor allem das Schreiben in ein simples Notizbuch, stellt Nathaniel wie in einem Kinofilm dar. Damit wird jeder Augenblick bedeutsam: Wir nehmen Dinge war, einfach, um sie wahrzunehmen (Reckwitz 2016, 138). Diese «philosophische», realitätsferne Atmosphäre zieht sich durch alle Videos hindurch. Das, was er sagt, egal wie banal oder alltäglich, wirkt dadurch total ernst.

Durch die imposante Ästhetik drängt das Gesagte in den Hintergrund. Das in seinen Videos präsentierte Ich des Autos scheint dadurch voll von Gegensätzen: Nathaniel Drew wird zu einem «pragmatischen Träumer», der online ein «alternatives» aber dennoch «undurchschaubares» Leben führt.

The dilemma of lifelong learning (An alternative?)

Videos wie «NOT going to college was the BEST decision of my life» oder «How to Make $ on the Internet: A Guide to Becoming a Digital Nomad» scheinen am meisten über die Entwicklung und Motivation dieses besonderen YouTube-Ichs auszusagen (neben seinem allerersten Video aus 2015).

Nathaniel in: «NOT going to College was the BEST decision of my lif (2019)

Self-Improvement wird laut Heide von Felden (2020, 4 und 7) genau durch den Drang nach Selbstdisziplin definiert. Nathaniel Drew orientiert sich intensiv an der Zeit und Energie, die ihm jeden Tag zur Verfügung stehen, in der Hoffnung, trotz fehlender Standardabschlüsse und Diplome etwas aus sich zu machen. Die Konsequenzen einer solchen Einstellung führen jedoch zu Symptomen wie Angst, Unsicherheit oder gar Unzufriedenheit. Er legt seinem Publikum aber trotzdem nahe, einen ähnlichen Weg zu gehen. An diesen Wachstumsvorgängen lässt der YouTuber seine Follower stetig teilhaben. Er steht meist in der Mitte des Bildes in Nahaufnahme und lächelt dem Publikum zu; spricht dieses direkt mit einer vertrauten Stimme an, als würde er alle schon lange kennen. Hierbei betont er seinen eigenen Prozess des Lernens und Wachsens ständig: «Understanding who I am, more crucially, how I operate has been a very confusing but important process for me.» (Drew 2019: «A Video for Introverts»)

So entsteht auch durch YouTube eine Kultur, die «lebenslanges Lernen, permanente Ängste vor der gesellschaftlichen Exklusion» und eine ständige Unzufriedenheit mit der eigenen Produktivität geradezu feiert. (Von Felden 2020, 3) Dabei wechseln sich positive Themen zu Self Improvement mit Videos zu «How to get unstuck in life» oder «For people who feel behind in life» ab.

Where there is a notebook, there is also a will

Sehr interessant ist auch der Zusammenhang von Objekten und seiner Philosophie «ständig an sich zu wachsen». Er zeigt ausschliesslich Objekte, die diesen Willen verdeutlichen, wie etwa das Notizbuch. Szenen, die zeigen wie er ins Notizbuch schreibt, vermitteln dem Publikum immer wieder seine Ideale, Ziele und Wertvorstellungen. Seine Marke scheint sich rund um solche Gegenstände zu gestalten: die Kamera, das Notizbuch, der Laptop oder schlicht das weisse, graue oder schwarze T-Shirt des Minimalisten. Diese Elemente sind Teil einer ganzen Community und gestalten eine Art «Ästhetik der Produktivität».

«Everything that you hope to do in this world begins internally, and it’s a tragedy every time you allow the mess that’s going on in your mind to limit your potential dreams, ideas and self-expression in the world. The way you organize your thoughts will impact everything that you do. Do not make the mistake of forgetting this. Mental clarity touches your opinions, your willpower, the decisions that you make to move forward. You are the one responsible for propping yourself up in life, for expecting the best from yourself and absolutely nothing less. So, I’m gonna share with you how I organize my thoughts.»

Nathaniel Drew in: «How I Organize My Thoughts: A Simple Guide» (2019)

How to be… enough (Another alternative?)

Nathaniel Drews Videos zeugen von einer Doppeldeutigkeit, die Von Felden als Teil des ständigen Versuchs «sich verbessern zu wollen» erkennt. Dieser Versuch wird «durch gleichzeitig geltende, sich aber widersprechende Wünsche, Gefühle und Gedanken, die entweder gleichermassen ertragen werden oder zu innerer Spannung führen» sabotiert (Von Felden 2020, 8).

Nathaniel kommt seinen eigenen Forderungen zum Teil nicht nach. Borgen erkennt darin das Dilemma des Menschseins. So scheitert sein Versuch, seinen Tagesablauf so effektiv zu gestalten wie berühmte Vorbilder – wie Leonardo Da Vinci, Picasso oder Benjamin Franklin. Doch auch dieses Scheitern passt in das von Borgen benannte Muster. Der Mensch kann der ständigen Forderung nach Optimierung schlichtweg nicht standhalten, was Nathaniel Drew nach und nach bewusst zu werden scheint, und was er erneut reflektiert.

Drew in: «I Tried Da Vinci’s (Insane) Daily Routine: Here’s What Happened» (2019)

Zufällig teilte er während meiner Beobachtungen ein Video mit dem Titel: «Why Self-Improvement Is Ruining Your Life». Er setzt sich darin skeptisch mit der Self-Help Industrie auseinander. Er gibt zu, dass er dieser Industrie selbst verfallen ist und dass sein YouTube-Kanal als Teil davon betrachtet werden kann. Er wollte dies aber eigentlich nicht bezwecken.
Somit erkennt er, wie schwer es ist, diese Doppeldeutigkeit zwischen Selbstverbesserung und dem, was das Leben für ihn eigentlich bedeutet, zu beenden. Er befindet sich folglich in der ständigen Bedrohung Self-Improvement als Lebenssinn und als Teil seiner Identität zu gestalten. Er versucht sich nun zu verändern. Wird es ihm gelingen oder ist es vielleicht schon zu spät?

Quellen

  • Reckwitz, Andreas (2016): «Das Kreativitätsdispositiv und die sozialen Regime des Neuen.» In: Rammert, Wernet et. al. (Hg.): Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle. Wiesbaden: Springer, S. 133–157.
  • Von Felden, Heide (2020): «Selbstoptimierung als gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang.» In: Dies. (Hg.): Selbstoptimierung und Ambivalenz. Gesellschaftliche Appelle und Rezeption. Wiesbaden: Springer.
  • Borgen, Stephanie (2020): «Selbstoptimierung als gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang.» In: Heide von Felden (Hg.): Selbstoptimierung und Ambivalenz. Gesellschaftliche Appelle und Rezeption. Wiesbaden: Springer.
  • Titelbild: illustriert von E.F., Hintergrund von Micah Boswell

YouTube on Topic

E.F. ist Studentin der Film- und Empirischen Kulturwissenschaft. Sie verbringt leidenschaftlich viel Zeit auf YouTube. Spezifisch schaut sie Videos zu YouTube Analysis, Book Tube, Productivity, Comedy News oder duzende Folgen der Graham Norton Show. In Zukunft möchte sie sich endlich dem Study with Me Trend anschliessen und eine Lösung für das YouTube Rabbit Hole finden.

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