Analyse eines Ego-Dokuments in luftiger Höhe
Nach zweieinhalb Stunden Marschzeit hat die Wandergruppe ihr Ziel auf 1505 M.ü.M. erreicht. Ein schmaler Pfad führte sie über die Bäche des Kaltbrunntobels, vorbei an der Steinbockfamilie, im Zickzack dem Sattel entgegen und schliesslich über den schwindelerregenden Grat zum Gipfel der Roten Platte. Hier stehen die Gipfelstürmer:innen nun, schwer atmend und überglücklich. Sogleich räumen sie einige Steine beiseite und nehmen das Gipfelbuch aus seinem Versteck. «Nur wo du zu Fuss warst, warst du wirklich», steht auf der ersten Seite des abgegriffenen A5-Büchleins geschrieben. Die Berggänger:innen beginnen zu blättern. Jeder noch so kleine Eintrag ist ein Hinweis auf diejenigen Menschen, die vor ihnen hier waren – zu Fuss, versteht sich.
Der Blick ins Gipfelbuch zeigt eine facettenreiche Sammlung unterschiedlicher Erfahrungen, Erzählungen und Ausdrucksweisen. Einige Berggänger:innen beschreiben ihre Umgebung: «unter mir das wunderschöne Rheintal, mein Chur, das langsam erwacht und in helles Sonnenlicht getaucht wird, hinter mir das Fürhörnli und der Montalin.» Andere schweifen gedanklich in weite Fernen: «Nach dem Kilimanjaro (Afrika) nun die Rot Platte! Naja, auch steil». Die aufgezeichneten Gefühle reichen von «Genial! Ich mach mir in die Hose!» bis zu «Mit gebrochenem Herzen und wirrem, unklaren Verstand».
Neben Notizen zu Namen und Datum finden sich im Gipfelbuch auch Gedichte, Zeichnungen, Widmungen und ausführliche Tourenbeschriebe. Während gewisse Gipfelstürmer:innen die Anzahl Besteigungen im drei- bis vierstelligen Bereich festhalten, feiern andere ihre Premiere: «6 Jahre in Chur, das 1. Mal auf der Roten Platte. Wurde höchste Zeit.» Die einen äussern sich belustigt über die Abgelegenheit des Ortes: «Wie, hier gibt es kein Restaurant?». Die andern finden andächtige Lobesworte: «Gott sei Dank für die wunderbare Schöpfung + diesen kraftvollen Ort + schöne Aussicht». Beim Durchstöbern des Gipfelbuchs fällt also auf, wie unterschiedlich dessen Nutzer:innen ihre Erlebnisse verarbeiten, – obwohl sie sich alle im selben Raum bewegen.
Wolfgang Kunz hat Gipfelbücher in seiner Dissertation «Das Gipfelbuch. Selbstzeugnis am besonderen Ort» kulturwissenschaftlich untersucht: «Damals wie heute hinterlassen AlpinistInnen Spuren in Form dokumentierter Anwesenheit, sowohl in den Tälern (…) als auch auf den Gipfeln, in Form von Namens- und Spruchdeponaten, Beobachtungen und medialen Berichten.» (Kunz, 2018).
Werden Gipfelbücher in diesem Zusammenhang als Ego-Dokumente betrachtet, stellt jeder Eintrag ein Textfragment dar, aus dem ein Ich spricht. Verbunden sind die vielen Ichs durch ihren geteilten Entstehungsraum. So habe ich in meiner Analyse untersucht, wie der Raum, in dem das dokumentierte Ich entsteht, im Quellentext sichtbar wird. Dazu habe ich bei der Lektüre von sechs Gipfelbüchern nach Hinweisen auf diesen Entstehungsraum gesucht, entscheidende Stellen markiert und zueinander in Verbindung gebracht.
Der Weg vom Tal ins Gipfelbuch
Eine entscheidende Erkenntnis der Analyse ist die Bedeutung des Weges. Zentral ist dabei Martina Löws Unterscheidung zwischen Raum und Ort: Alle Menschen, die sich ins Gipfelbuch eintragen, befinden sich an einem Ort, der mit «Rot Platte» beschildert ist. Der Raum, der in den Beiträgen verhandelt wird, beschränkt sich aber nicht auf den Gipfel. Das dokumentierte Ich entsteht bereits, wenn die Alpinist:innen ihre Türschwelle überschreiten.
Auf- und Abstieg gehört zusammen mit Natur und Aussicht zu Erfahrungen, die von allen Wandernden geteilt werden. Der Weg wird aber je nach Witterung und eigener Leistungsfähigkeit auf verschiedene Weise wahrgenommen. Die unterschiedlichen Erfahrungen zeigen sich etwa dadurch, dass manche Bergsteiger:innen nüchtern ihre neuen Bestzeiten notieren, andere melodramatisch von Nahtoderfahrungen schreiben – «Zwischenzeitlich gedacht, wir würden sterben» oder «Komme ich zurück???».
Viele Ichs erzählen die Wanderung als Konfliktbewältigung:
«Trotz Höhenangst und null Kondition! I bin do!»
«Mit as paas Flüach und bösa Motivationsproblem glich doba akoh.»
«Nach Holzschlag und grossem Umherirren hend mirs au no gschafft!»
«Jupiduuu Trotzt Sturmwarnig miar sind do!»
Die Momente auf dem Gipfel werden dabei oft als Belohnung empfunden: «Der Aufstieg war heikel, der Abstieg wird’s auch, aber hier oben zu sein ist einfach wunderschön». Immer wieder kommt zum Ausdruck, dass ein Ich eine Krise bewältigt hat und trotzt allem auf dem Gipfel steht. Dieses Muster zeigt, wie stark Erzählungen gesellschaftliches Leben prägen: Gemäss der Kulturanthropologin Silke Meyer können wir durch das Erzählen unsere Erlebnisse ordnen und ihnen Sinn verleihen. Dabei spielt Konfliktbewältigung eine entscheidende Rolle. Das Berichten von der abenteuerlichen Wanderung ist also ein Hinweis auf soziokulturelles Erleben und Handeln.
Das Buch auf dem Gipfel – der Gipfel im Buch
Aus dem Gipfelbuch lassen sich auch weitere Raumdimensionen lesen: Durch das Dokumentieren des Gipfelbesuchs werden Konzepte wie Heimat- und Naturverbundenheit greifbar, aber auch persönliche Gefühlswelten. Dazu kommen Hinweise auf den sozialen Raum, in dem Beziehungen zu Weggefährt:innen oder zukünftigen Leser:innen verhandelt werden.
Wenn die Gipfelstürmer:innen auf der Roten Platte Gipfelbucheinträge lesen und verfassen, bekommen sie vielleicht ein Gefühl dafür, dass der darin verhandelte Raum nicht nur den Gipfel umfasst, sondern auch die umliegende Wald- und Felsenlandschaft, die Steinböcke, die Stadt am Fusse des Berges, die Heimat in weiter Ferne. Mit dem Gipfelbucheintrag ist die Reise der Berggänger:innen aber noch nicht zu Ende. Ein Eintrag macht sie geradezu darauf aufmerksam: «Wenn nur der Abawäg nid wär». Während die Gruppe nun ins Tal zurückkehrt, bleiben ihre dokumentierte Ichs auf der Roten Platte – bereit dazu, einen Bruchteil ihrer Erfahrungen mit den nächsten Gipfelstürmer:innen zu teilen.
Quellen
Herzlichen Dank an Armin «Wurm» Rogentin, der die Gipfelbücher archiviert und mir diese anvertraut hat. Seine Einträge sind jeweils kurz: Datum und Name. Die Anzahl Besteigungen notiert er nur in Hunderterschritten. Zum Zeitpunkt dieses Blogeintrags sind es über 1800.
Titelbild: Aussicht vom Gipfel der Roten Platte (Aufnahme A.Rogentin)
Literatur
Kunz, Wolfgang: Das Gipfelbuch. Selbstzeugnis am besonderen Ort. Eine kulturwissenschaftlich-volkskundliche Untersuchung über alpine Gipfelbücher und ihre Eintragungen. Innsbruck: Studia Verlag, 2018.
Löw, Martina: Space Oddity. Raumtheorie nach dem Spatial Turn. In: sozialraum.de 7/1 (2015). URL: https://www.sozialraum.de/space-oddity-raumtheorie-nach-dem-spatialturn.php.
Meyer, Silke: Was heißt erzählen? Die Narrationsanalyse als hermeneutische Methode der Europäischen Ethnologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 110/2 (2014), 243–267.
Daria Joos studiert Populäre Kulturen und Philosophie an der Universität Zürich. Sie selbst hat sie sich auch schon in zahlreichen Gipfelbüchern verewigt.
über die Autorin
1 Pingback