Unter „linguistic landscapes“ (wörtl. sprachliche Landschaften) wird in der Forschung verschriftlichte Sprache im öffentlichem Raum verstanden: „The language of public road sings, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomerate“ (Landry/Bourhis 1997: 25). Damit ist diese Form der Sprache mit am nächsten an unserer Lebenswelt, da wir sie tagtäglich nutzen und ggf. sogar selbst mit-produzieren. Die Beschäftigung mit sog. linguistic landscapes kann helfen, folgende Kompetenzen (weiter) auszubilden:

  • die „Bedingungen gelingender Kommunikation analysieren, auch auf der Basis theoretischer Modelle“ (Feilke/Jost 2015: 239),
  • „verbale, paraverbale und nonverbale Gestaltungsmittel in unterschiedlichen kommunikativen Zusammenhängen analysieren, ihre Funktion beschreiben und ihre Angemessenheit bewerten“ (Feilke/Jost 2015: 239),
  • „persuasive und manipulative Strategien in öffentlichen Bereichen analysieren und sie kritisch bewerten“ (Feilke/Jost 2015: 240),
  • „über Mündlichkeit bzw. gesprochene Sprache und Schriftlichkeit bzw. geschriebene Sprache [nachdenken]“ (Feilke/Jost 2015: 240).

Unter „Swiss linguistic landscapes“ befindet sich das wissenschaftliche Instrumentarium, mithilfe dessen man schriftliche Sprache im öffentlichen Raum beschreiben bzw. kategorisieren kann. Zusätzlich finden sich zu den Begriffen Fotos aus verschiedenen studentischen Projekten, die die Theorie am deutschschweizer Sprachraum illustrieren. Das Nachschlagewerk kann für Projekte im Unterricht genutzt werden, wenn bspw. Schülerinnen und Schüler schriftliche Sprache im öffentlichen Raum beschreiben sollen. Eine weitere Möglichkeit ist, Mehrsprachigkeit im Raum mit demografischen Daten zu vergleichen: Spiegelt sich die Bevölkerungsstruktur (in Bezug auf die Nationalitäten/Sprachen) im öffentlichen Raum wider?

Mehrere Aufkleber/Zettel/Schilder/Inschriften, die in direkter Nähe zueinander angebracht sind, kann man als „Ensemble“ bezeichnen: Als Rezipientin oder Rezipient nimmt man sie mit einem Blick wahr und bezieht die verschiedenen Zeichen aufeinander. Nach Auer (2010: 285-288).

Das Foto zeigt einen Teil des Eingangsbereichs (Tür) der Migros-Filiale in Luzern/Altstadt: Verschiedene Zeichen sind dort angebracht, die man als Besucherin oder Besucher der Filiale als ein Ganzes wahrnimmt und sie aufeinander bezieht: Verbotshinweise, Öffnungszeiten, Empfehlungen. Foto: L. Pesavento.

Ortsfeste Zeichen können fünf verschiedene Funktionen erfüllen (vgl. Auer 2010: 290-294):

  1. Benennen dient v.a. der Orientierung.
  2. Bei der Markierung von Zugehörigkeit werden Relationen zwischen Orten und Personen/Institutionen vermittelt.
  3. Angaben zum Gebrauch können Verbote aussprechen oder bestimmte Handlungen einschränken/bestimmen.
  4. Eine der ältesten und wichtigsten Funktionen ist das Benennen von Zielen und das Wege weisen.
  5. Zeichen können auch dem Ermahnen dienen (korrektes Handeln) oder vergangener Ereignisse/verstorbener Menschen gedenken.

Die folgende Bildergalerie zeigt die fünf verschiedenen Funktionen in der obigen Reihenfolge auf: Foto 1 benennt und charakterisiert in der Migros-Filiale in Zürich (Löwenplatz) die Produkte („Fertiggerichte“); Foto 2 markiert mit dem Aufdruck „Migros“ die Zugehörigkeit der Tüte zum Einkaufskonzern (dabei ist unwichtig, dass dieses Foto in einer bestimmten Filiale geschossen wurde, denn das Logo und die Tüte sehen überall gleich aus); Foto 3 verbietet das Rauchen am Züricher Hauptbahnhof; Foto 4 dient als Wegweiser und zur Orientierung auf dem Campus Irchel in Zürich; Foto 5 möchte zur korrekten Entsorgung von Zigarettenstummeln und auch Müll anhalten. Fotos 1 und 2 von L. Pesavento, Fotos 3 bis 5 von A. Groyer.

Nicht-indexikalische öffentliche Schrift kann auch geschichtliche Zeichen bezeichnen: Dies sind Zeichen, die permanent außer Betrieb genommen worden sind. Ihre einstige Funktionalität ist aber noch lesbar. Nach Auer (2010: 276-280).

Das Foto zeigt eine Tafel zu einer Kunstinstallation im Züricher Hauptbahnhof, die aber nicht mehr vorhanden ist und durch eine andere Kunstinstallation (siehe zweites Foto: „L`ange protecteur“ von Niki de Saint Phalle) ersetzt wurde. Fotos von A. Groyer.

Die Struktur bzw. Grammatik sprachlicher Zeichen weist Merkmale auf, die einen Satz üblicherweise als „ungrammatisch“ charakterisieren würden: Das Subjekt fehlt bspw. oder das Verb ist nicht konjugiert. Ding- und ortsfeste Schrift verfügt häufig über keine Morphologie und setzt stattdessen den Infinitiv ein (sog. modale oder deontische Infinitive). Darüber hinaus kann das Verb auch komplett fehlen oder es wird eine nominalisierte Form anstatt eines Verbs verwendet. Häufig finden sich ebenfalls Form-Funktions-Koppelungen, d.h. bestimmte Formen sind mit einer bestimmten Funktion gekoppelt: Zeichen mit Pfeilen erfüllen bspw. üblicherweise eine wegweisende Funktion. Trotz dieser Merkmale (Fehlen Subjekt, keine Morphologie, ggf. kein Verb) versteht die Rezipientin oder der Rezipient ebenso wie die Adressatin oder der Adressat aber die Bedeutung eines Zeichens, und zwar aufgrund seiner Kontextgegebenheit. Bühler (1934 [1982]) hat in diesem Zusammenhang den Begriff der „Empraxis“ geprägt: Hier ist der Kontext so stark vorgegeben, dass bestimmte Situationsparameter (etwa das Subjekt oder Verb) nicht mehr sprachlich extra genannt werden müssen. Nach Auer (2010: 288-290).

Auf Foto 1 fehlen Subjekt und Morphologie am Verb: „Bitte erst wählen, dann öffnen“ steht am Kühlregal in der Migros-Filiale am Bahnhof Zürich. Foto 2 zeigt eine verblose Struktur („Kein Eingang“) in der Migros-Filiale in der Altstadt in Luzern. Auf Foto 3 sind zwei nominalisierte Strukturen zu erkennen: „Bauarbeiten: Südtrakt Zürich HB. Dauer: März 2020 bis August 2023). Foto 4 zeigt ein Beispiel für Form-Funktions-Koppelungen, das in dieser Form nicht nur – wie auf dem Bild – am Hauptbahnhof Zürich anzutreffen ist: NP + Zahl + Pointer. Fotos 1 uns 2 von L. Pesavento, Foto 3 und 4 von A. Groyer.

Bei öffentlicher Schrift kann man zwischen Zeichen mit hoher Granularität und niedriger Granularität unterscheiden: Unter „hoher Granularität“ versteht man eine geringe Auflösung; das Zeichen dient der allgemeinen und oberflächlichen Orientierung im Raum, es ist also gut lesbar und vermittelt allgemeine Informationen. Das Zielpublikum umfasst in diesem Fall alle Personen, die im öffentlichen Raum unterwegs sind; genutzt werden die Zeichen v.a. von den nicht-ortskundigen Menschen. Zeichen mit niedriger Granularität sind dagegen nur für Personen relevant, die eine bestimmte Information benötigen. Häufig umfasst das Zielpublikum damit eine bestimmte Zielgruppe, z.B. Handwerkerinnen und Handwerker oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von einem Unternehmen. Nach Auer (2010: 280-282).

Auf dem folgenden Foto ist ein Schild aus der Migros-Filiale in der Altstadt von Luzern zu sehen: In grosser Schrift ist „Kasse“ abgebildet, neben Deutsch noch auf Englisch und (vereinfachtem) Chinesisch. Das zweite Foto dagegen umfasst ein Blatt Papier (DIN A4); der Inhalt ist für die Kundschaft derselben Migros-Filiale, aus der auch das erste Bild stimmt, nicht verständlich. Geringere Granularität und spezifische Informationen verweisen auf eine bestimmte Zielgruppe (Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Filiale). Fotos von L. Pesavento.

Indexikalische öffentliche Schrift bezeichnet Zeichen, die nur an und durch den Ort interpretierbar sind, an dem sie sich befinden. Der Index kann durch ein sprachliches Element realisiert sein (z.B. Demonstrativpronomen dieser) oder durch einen nonverbalen Pointer (z.B. Pfeil). Nach Auer (2010: 276-280).

Das erste Foto stammt aus der Migros-Filiale in Zürich am Löwenplatz und zeigt zwei Schilder mit indexikalischem Zeichen (Pointer) unter der Angabe „Kasse“. Auf dem zweiten Foto ist dasselbe zu sehen, allerdings in mehrsprachiger Darstellung (Deutsch, Englisch, vereinfachtes Chinesisch) und das Foto stammt aus der Migros-Filiale (Altstadt) in Luzern.  Auf dem dritten Foto wird ein indexikalisches Sprachelement (dieser) verwendet: Es besagt, dass diese bestimmte Seite des Verkaufsregals in der Migros-Filiale nicht mit Ware bestückt werden darf. Schliesslich kann ein Zeichen auch allein durch seine Platzierung eine indexikalische Funktion übernehmen: Auf dem letzten Foto wird die Information „Aus der Region. Für die Region“ auf den Boden der Migros-Filiale in Zürich (Löwenplatz) geleuchtet und allein daraus ergibt sich für die Besucherinnen und Besucher, dass hier (Regal im Hintergrund und nähere Umgebung) regionale Lebensmittel verkauft werden. Fotos von L. Pesavento.

Wenn mehrere Zeichen (z.B. Aufkleber und Zettel) übereinander angebracht sind, spricht man von engl. Layering (vgl. Scollon/Scollon 2003) oder dt. Überschichtung. Nach Auer (2010: 285-288).

Auf dem Foto vom Uni-Campus Irchel in Zürich erkennt man ein „Layering“ von zwei Aufklebern: Unter dem Aufkleber mit dem QR-Code schimmert noch das überklebte Zeichen – es ging um die Covid-Impfung – durch. Auch der aktuelle Aufkleber wurde zum Teil schon entfernt. Weiter unten auf dem Foto sind die Reste von Kleber – wohl von einem noch älteren Aufkleber – zu erkennen. Foto von A. Groyer.

Auf Schildern ist Schrift angebracht und das Schild ist direkt oder indirekt mit dem Objekt verbunden, auf das sich die Schrift bezieht. Inschriften sind direkt mit dem Objekt verbunden und können nur schwer von der Oberfläche des Objekts entfernt werden, auf das sie sich beziehen. Zettel sind temporäre Schilder. Sie können häufig wieder leicht entfernt werden und sind deswegen besonders flüchtig. Ähnlich wie Zettel stellen Aufkleber durch ihre Materialität gut abgegrenzte Zeichen dar; im Gegensatz zu Zetteln sind sie aber häufig nur schwer oder schwerer vom Objekt, auf das sie geklebt wurden, zu entfernen. Nach Auer (2010: 282-285).

Das folgende Foto zeigt die Inschrift „Staatsarchiv“ auf einem Gebäude des Uni-Campus Irchel (Zürich): Schrift ist direkt mit dem Objekt verbunden und kann nur mit grossem Aufwand von der Glasfläche entfernt werden. Das zweite Foto zeigt ein Schild, das vor dem Objekt angebracht ist, auf das es sich bezieht (Science Pavilion der UZH, Museum der Anthropologie). Auf dem dritten Foto ist ein Zettel temporär befestigt, der auf ein Angebot in der Migros-Filiale in Bad Ragaz hinweist. Das letzte Foto zeigt einen Aufkleber auf einem Mülleimer auf dem Uni-Campus Irchel (Zürich). Fotos 1,2 und 4 von A. Groyer, Foto 3 von L. Pesavento.

Nicht-indexikalische öffentliche Schrift umfasst Zeichen, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind bzw. die durch ein Verrücken oder Verstellen nicht ihre Funktion verlieren. Darunter fällt z.B. Werbung: Dieselbe Werbung kann an verschiedenen Orten angebracht sein, ohne dass sie ihre Bedeutung verliert. Auch Aufkleber oder Graffitis können ortsungebunden verstanden werden. Nicht-indexikalische öffentliche Schrift bezeichnet auch Zeichen, die nur vorübergehend ausser Kraft gesetzt sind: Das Zeichen an sich hat Verweispotential. Man kann in diesem Fall auch von „stillgelegter Indexikalität“ sprechen. Nach Auer (2010: 276-280).

Das Foto zeigt eine Migros-Filiale in Luzern, bei der das Schild „Achtung“ mit dem Piktogramm einer Person, die gerade ausrutscht, zusammengeklappt an der Seite steht. Der Aufsteller ist kurzzeitig ausser Betrieb genommen, denn gleichzeitig sieht man im Hintergrund ein nicht stillgelegtes Hinweisschild „Vorsicht Rutschgefahr“. Auf dem zweiten Foto ist ein Graffiti aus der Bahnhofshalle im Hauptbahnhof Zürich: Das Graffiti könnte auch an anderen Orten aufzufinden sein, die Bedeutung ist nicht ortsgebunden. Foto 1 von L. Pesavento, Foto 2 von A. Groyer.

Unter offiziell-öffentliche Zeichen fallen sowohl sog. top-down als auch bottom-up Zeichen. Top-down Zeichen sind Zeichen, die von öffentlichen Personen und Institutionen, mit offiziellem Auftrag oder öffentlicher Genehmigung, angebracht werden. Bottom-up Zeichen werden von Privatpersonen und privaten Unternehmen geschrieben; auch sie werden mit offizieller Genehmigung angebracht. Transgressive Zeichen werden ohne (offizielle) Autorisierung angebracht und sind also nicht genehmigt. Nach Ben-Rafael et al. (2006: 14-15) und Auer (2010: 295-296).

Auf dem folgenden Foto ist ein Strassennamen – der von der Stadtverwaltung offiziell zugeteilte Name für eine Strasse – zu sehen. Es handelt sich um die „Passage Strassenquai“ am Hauptbahnhof Zürich. Auch am Hauptbahnhof Zürich findet sich ein Werbeplakat einer Migrolino-Filiale: Das Plakat stammt nicht von einer öffentlich-rechtlichen Institution, sondern von einem privaten Unternehmen. Das Zeichen wurde auf privatem Raum (jenem von Migrolino) angebracht. Das dritte Foto zeigt ein Graffiti am Hauptbahnhof Zürich: Es ist transgressiv, da das Zeichen nicht autorisiert wurde. Fotos von A. Groyer.

Literaturnachweis:

  • Auer, Peter (2010): Sprachliche Landschaften: Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache. In: Arnulf Deppermann/Angelika Linke (Hrsg.): Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton. Berlin/New York: De Gruyter, 271-298.
  • Ben-Rafael, Eliezer/Shohamy, Elana/Hasan Amara, Muhammad/Trumper-Hecht, Nira (2006): Linguist landscape as symbolic construction of the public space: The case of Israel. In: International Journal of Multilingualism 3/1, 7–30.
  • Bühler, Karl (1934 [1982]): Sprachtheorie. Jena. [Ungek. Neudr. d. Ausg. Jena 1934. Stuttgart 1982].
  • Landry, Rodrigue/Bourhis, Richard (1997): Linguistic landscape and ethnolinguistic vitality: an empirical study. In: Journal of Language and Social Psychology 16/1, 23–49.
  • Scollon, Ron/Scollon, Suzie Wong (2003): Discourse in public places – language in the material world. Routledge: London.

Fotos von Anna Groyer und Leandra Pesavento, 2023.