In den späten 1970er und 1980er Jahren ging es der Zürcher Jugend vor allem um das eine: Räume. Unter dem Motto „Wir wollen die ganze Stadt!“ forderte sie eine allgemein zugängliche städtische Öffentlichkeit und Kultur. Sie forderte Räume für eigene, selbstbestimmte und, das war zentral, bezahlbare kulturelle Events. Der Kampf für diese Freiräume ging Hand in Hand mit dem Kampf gegen die spiessige bürgerliche Daseinsordnung. Und mitten in diesen Kämpfen war die Musik. Sie war zeitgleich Symptom und Spiegel dieser Bewegung. Und genau sie verlangte am allermeisten nach Raum.
Zentrum der musikalischen Kulturbewegung war die moderne POP-Musikszene. Ihre Anfänge waren wenig glamourös. Während gerade Punk oder Rockbands in anderen Ländern bereits Erfolge feiern konnten, befand sich die Zürcher Punk- und Rockszene noch zum grössten Teil im Untergrund. Die mit dem Wort einer Subkultur assozierte romantische Vorstellung von rauchigen Sepluken, Abbruchhäusern und Kellerräumen, wo nur Eingeweihte bescheid wussten, traf in diesem Fall – zumindest bedingt – zu.[1]
Das war einerseits dem Raummangel verschuldet, so gab es kaum Tanz-(Lokale) oder Konzerträumlichkeiten. Anderseits sorgten die zahlreichen Regulierungen der Stadt Zürich für eine Verschiebung der «neuen» Musik auf die Strasse oder in Räume ausserhalb der bekannten Öffentlichkeit. Auch die Tatsache, dass keine Subventionierung für die Popmusik existierte und die Privatwirtschaft ihr Sponsoring auf Konzerte von bewährten Mainstreamkünstlern verwendete[3], erschwerte die Etablierung der lokalen Künstler. Damit einher kam allerdings auch finanzielle und folglich ideelle Unabhängigkeit. So meinte die Sängerin von Liliput, Astrid Spirig: «Unser wichtigster Auftrittsort war die Rote Fabrik. Da hatten wir auch unseren Übungsraum, da jamten wir mit anderen Bands wie den Yello, trafen uns mit den Bandmitgliedern von Blue China.»[4]
Generell waren die Zürcher Bands untereinander sehr verbunden. So meinte Boni Koller in einem Artikel in der WoZ «Vor dem Sommer 1980 war die Punkszene ein lustiger, pfadiähnlicher Haufen»[5] – Dieser «Haufen» traf sich regelmässig am Samstagmorgen in bestimmten Plattenläden. So zum Beispiel bei Balz Buschor, dem späteren Gründer und Besitzer von Get Records in Adliswil, wo man die neusten Platten und Singles direkt aus London finden konnte.[6] Die damalige Mentalität war trotz dieser Internationalität wenig ökonomisch ausgerichtet, so galt, dass man das an den Mann brachte, was man wollte und nicht das was wirtschaftlich rentabel war. Diese Einstellung war es auch, was die Schaffung vieler kleiner Plattenlabels, Recordstores und Konzertveranstaltungen erst ermöglichte.[7]
Die Labels waren darauf erpicht ihre eigenen Akteure zu präsentieren, was eine musikalische Vielfalt und Entfaltung wie sie in den 1980er Jahren stattfand erst ermöglichte. Oftmals versuchten kleine Plattenlabels als Konsumenten in den Tonträgermarkt einzugreifen und das Angebot so zu beinflussen. So begründet Urs Steiger, der Mitherausgeber vom NO FUN-Fanzines und später auch Gründer und Besitzer von Off Course Records war, seine Motivation folgendermassen: „Die Musik gefiel uns und niemand wollte mit diesen jungen Bands eine Platte machen. Wir haben uns gesagt, dass etwas geschehen muss und haben angefangen. […] Ich möchte gar nie davon leben können, denn dann brauchst du eine ganz andere Einstellung zur Sache. So sind wir frei auch eine Single zu machen, die mit grösster Wahrschewinlichkeit ein Flopp wird“.[8] Ein weiteres Kleinlabel war Alec von Tavels Disctrade an der Langstrasse oder BAHP Records Distribution.
Diese Labels boten den Bands die Möglichkeit ihre Musik auf einer grösseren Plattform anzubieten, allerdings fehlten ihnen die Möglichkeiten, die internationale Majorlabels boten.[9] Als Plattenladen wie auch als Konzertveranstalter hat der Jamarico, eine Wortschöpufng aus Jamaica und Porto Rico die gesamte musikalische Entwicklung in Zürich seit den 1970er-Jahren erst an der Bäckerstrasse und dann am Helvetiaplatz begleitet, siehe dazu auch Jamarico und Musik. Ebenfalls mit dabei war ab Mitte der 80er-Jahre das Label und der Plattenladen RecRec. Auch sie hatten ihren Vertrieb im Kreis 4.
Grundsätzlich muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass sowohl was Plattenläden oder -labels anging, als auch was die Aufnahmestudios betraf, die Schweiz nicht besonders gut abgedeckt war. So gab es im Total drei auf Popmusik spezialisierte Aufnahmestudios schweizweit, welche allesamt kommerziell ausgerichtet waren, sprich die Band musste für Aufnahmezeit bezahlen. Eine Alternative dazu bot das Sunrise Studio im toggenburgischen Kirchberg. Dort nahm der grösste Teil der Züri-Szene ihre Songs auf.[10]
Bis im Sommer 1978 war der Schwulenclub HEY an der Freieckgasse beim Bellevue der Ort, wo lokale Punkbands, wie die Nasal Boys, auftraten. So erinnert sich Hans-Ueli «Rams» Ramseier «Die kleine Familie von Punks, die waren ja doch eine ziemlich schräge Angelegenheit. Die bekamen am Mittwochabend im HEY Asyl […] Man ging am Mittwochabend ins HEY und die Bands, die es gab haben gespielt.»[11]
Das HEY verschwand als Schmelztiegel der lokalen Punkszene ab dem 13. Juni 1979. Von diesem Moment an wurde ausschliesslich Reggae und Black Music gespielt, bis zur Schliessung des HEY 2011.[16] Allerdings spielte auch die Reggae Musik eine nicht zu unterschätzende Rolle bei dem Kampf um Freiräume, das wurde deutlich beim Bob Marley Konzert am 30.05.1980, wo sich zahlreiche Konzertbesucher später in die Schlacht beim Opernhaus stürzten.
Die Punkexplosion der 1970er ermöglichte schliesslich die musikalische Entwicklung der 1980er.[17] Was sich änderte war einerseits die Aggregation verschiedener Strömungen aus den Jugendbewegungen, anderseits die Einstellung der Musiker zu ihrer Musik.[18] Während es in den 1970ern noch um die Kultur an sich und um die Freude an der Musik ging[19], wurde die Musik zunehmend politisch. Das hatte nicht nur mit den Musikern zu tun, sondern auch mit den Jugendunruhen. So verlangte man neu nach bestehenden Räumen, während die herkömmlichen Punks ihre Freiräume ungefragt besetzt aber auch bei erstbester Gelegenheit wieder verlassen hatten.[20] Neu waren symbolträchtige Orte wie das AJZ, der Platzspitz, das Schindlergut oder die Rote Fabrik Zentrum der lokalen Musikszene.[21]
Die Musik wurde unter anderem, wenn nicht zur treibenden, dann zumindest zur begleitenden Kraft in den Züricher Jugendunruhen. Für eine Nullgage wurden diejenigen engagiert, die entsprechende Musik spielten. Wobei politische Musiker klar bevorzugt wurden, andere wurden eher zu dem Zweck engagiert, das Publikum bei Stange zu halten.[22] Bezahlt wurden sie meist nicht, was raussprang waren höchstens Freigetränke. Trotzdem schafften es einige junge Musiker sich einen Ruf zu erspielen. Angekündigt wurden Auftrittsorte oft spontan und über Mund-zu-Mund-Propaganda. Das reichte meist um Hunderte anzulocken. Die musikalische Infrastruktur, wie Verstärkungsanalagen wurden auf ein Minimum reduziert, damit bei Polizeieinsätzen die Bühne schnell abgebaut werden konnte. Diese To-Go-Mentalität führte zu vielen Spontanauftritten und Anlässen in Häuserbesetzungen, Kiesgruben aber auch mitten im Stadtzentrum, in Kellern oder Treppenhäusern von Privathäusern oder in WGs.[23] Auch die unzähligen illegalen Bars, die in Folge der Regulierungen der Stadt Zürich, welche es beinahe unmöglich machten, eine Bar mit Live-Musik und Ausschank-Angebot zu eröffnen, entstanden sind, wurden zum Zentrum vieler spontaner Konzerte.[24] Um die Wogen um Wohnräume zu glätten, wurden in den 80ern verschiedene Stiftungen gegründet, welche Wohnräume für Jugendliche zur Verfügung stellten.[25]
Folgend gab es viele Häuser, die von der Decke bis zum Keller mit Wohngemeinschaften gefüllt waren. Da die jungen Menschen ohne viel Hab und Gut in die Wohnungen zogen, und diese Häuser oftmals Altbauten waren, war es naheliegend, dass die entsprechenden vorherigen Vorrats- und Kohlekeller leergeräumt und zu eben solchen illegalen Bars oder Disco- respektive Konzertflächen ausgebaut wurden, welche sich durch hohe Kreativität und günstige Preise auszeichneten.[26] Im folgenden entstand so in Zürich eine jugendliche, alternative Subkultur.[27] Besonders grosse Kreativität wurde bei der Benennung dieser alternativen Bars allerdings nicht an den Tag gelegt. So hiessen sie so, wie die Strasse an der sie lagen: Klingenbar, Hohlbar, Ankerbar, Gartenhofbar, Milchbar, Tellbar, und Zweierbar, wobei es an der Zweierstrasse zeitweise drei verschiedene Zweierbars gab.[28] Flugblätter oder Plakate gab es nachvollziehbarerweise kaum und wenn, dann war darauf kein Ort erwähnt.[29] Diese Mentalität wird auch vom städtisch geförderten Definitiv Zürich gut beschrieben, welche sich seit den 1970er Jahren mit der jugendlichen Musikkultur auseinandersetzen. Diese Vorgehensweise änderte sich nicht mit der Einrichtung von offiziellen Kulturzentren wie der Roten Fabrik. Denn diese engagierten oft Bands aus dem Ausland, vornehmlich den USA, Lokalität fand man häufig nur bei den Vorbands.[30] Trotzdem näherte sich mit dem Aufkommen dieser Zentren und den damit verbunden offiziellen Auftrittsmöglichkeiten die Musikszene, dem regulären Kulturbetrieb an. Mit der kulturellen Akzeptanz hielt auch eine Kommerzialisierung der neuen Musik Einzug. Als mit der Entstehung von Schweizer Pop-Radios ab 1983 auch lokale Bands gespielt werden konnten, nahm der Konkurrenzdruck sowie der logistische Aufwand rund um die Bands und die Musiker zu. [31] Popmusik ist massentauglich geworden.
Bekannte und wichtige Zürcher Bands, sichtbar sind sie alle auch auf der Definitiv-Platte (1976-1986):
Beitragsbild: WOZ: Der Kampf um Freiräume seit 1980, in: WOZ. Die Wochenzeitung 21, 27. Mai 2010.
[1] Hebdige, Dick: The meaning of style, London 1991, S. 4.
[2] Grand, Lurker: Heute und danach. The Swiss Underground Music Scene of the 80’s, Zürich 2012, S. 226-227.
[3] Daum, Matthias: Stimmen der Vernunft. Urbane Volksmusik und die Zürcher 80er Bewegung. Lizentiatsarbeit der Universität Zürich, Zürich 2004, S. 53.
[4] Spirig, Astrid, zit. nach Nigg, Heinz (Hg.): Wir wollen alles und zwar subito!, Zürich 2001, S. 49.
[5] Koller, Boni. Wundertüte voller behertzter Coolness. Zürichs Stimme der Venunft zwanzig jahre später: In WoZ, 28.11.2002.
[6] Amsler, Ronnie, Gitarrist bei den Assholes und bei Hertz, zit. nach Daum, Urbane Volksmusik, S. 54.
[7] Daum, Urbane Volksmusik, S. 55.
[8] Steiger Urs zit. O.A. Plattenvertrieb, in: Daniel Hitzig, Markus Kenner (Hg.): TonModern, Zürich 1982.
[9] Daum, Urbane Volksmusik, S. 56-58.
[10] Ebd. S. 60.
[11] Rams, zit. Staub Peter. The bucks, In: 2li, Nr 17/18, 20.12.83.
[12] Grand, Lurker: Die Not hat ein Ende. The Swiss Art of Rock, Zürich 2015, S. 209.
[13] Daum, Urbane Volksmusik, S. 22.
[14] Ebd., S. 22, 33.
[15] Ebd. S. 52.
[16] Lurker, The Swiss Art of Rock, S. 210.
[17] Ebd., S 48.
[18] Ebd., S. 40.
[19] Daum, Urbane Volksmusik, S. 18-19.
[20] Lurker, The Swiss Art of Rock, S. 40.
[21] Daum, Urbane Volksmusik, S. 21
[22] Lurker, The Swiss Art of Rock, S. 40.
[23] Lurker, The Swiss Underground Music Scene, S. 232-233.
[24] Ebd., S. 233.
[25] Hitz, Hansruedi/Keil, Roger/Lehrer, Ute: Capitales Fatales. Urbanisierung und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt am Main und Zürich, Zürich 1995, S. 246.
[26] Stahel, Thomas: Wo-Wo-Wonige! Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968, Dissertation der Universität Zürich, Zürich 2006, S. 74-75, S. 74.
[27] Ebd., S. 36.
[28] Ebd., S. 239; Lurker, The Swiss Underground Music Scene, S. 240.
[29] Lurker, The Swiss Art of Rock, S. 43.
[30] Ebd., S. 44.
[31] Ebd., S. 48.