Es ist der Sommer 2021. Druk– Der Rausch vom dänischen Regisseur Thomas Vinterberg ist der erste Film seit langer Zeit, den ich im Kino schaue. Als der Abspann beginnt, erscheint die Widmung „Für Ida“.1 Hinter mir im Kinosaal sitzen zwei etwas ältere Damen – bei der einen sorgt die Dedikation sogleich für Verwirrung: „Hä, aber das ist doch ein Männerfilm!“, platzt es aus ihr heraus.
Ihre Aussage ist insofern gerechtfertigt, als der Film tatsächlich einen auffälligen und ziemlich ausschliesslichen Fokus auf vier männliche Hauptcharaktere legt sowie auch in einen allgemein sehr männerpräsenten Referenzkontext eingebettet ist. Und natürlich ist da auch der in Strömen fliessende Alkohol. Ein Film über Männer und (zu) viel Alkohol also; eine Kombination und Storyline, welche sicherlich vielen aus unterschiedlichsten Bereichen von Kunst und Kultur bekannt vorkommen. Anders als bei Filmen wie etwa den The Hangover-Trilogien2 geht es in Druk aber nicht um das Zurschaustellen irgendwelcher trivialer männlicher Gemeinschaftsberauschungen. Tatsächlich geht es hier vielmehr um eine differenzierte Auseinandersetzung damit, wie stark verankert diese zu den Genussmitteln gehörende Rauschdroge in unserer Kulturgeschichte, und insbesondere der dänischen3, ist. Und auch darum, wie Alkohol selbst als Kulturvermittler wirken kann – und das alles auf sehr ambivalente Weise. Es wäre also sicherlich zu voreilig, diesen Film als eine Art schlichten ‚Männerstreifen‘ abzutun.
Männer und Alkohol
Um aber doch noch kurz auf ebendiesen männlich Fokus einzugehen: Kulturgeschichtlich betrachtet galten und gelten Männer nämlich nach wie vor als die primären Hauptkonsumenten von Alkohol – bei Frauen ändert sich das Bild je nach Kultur und Zeitpunkt in der Geschichte.4 In jüngeren Jahrzehnten hat sich der, lange Zeit beachtliche Unterschied im Trinkverhalten von Frauen und Männern zwar einander angenähert, zumindest in den westlichen Ländern.5 Das im Film dargestellte binge drinking, also das bewusste Rauschtrinken, welches vor allem in den skandinavischen Ländern auch unter Frauen immer verbreiteter und allgemein akzeptiert ist,6 gilt jedoch noch immer als etwas eher Männliches.7 Allerdings gehört diese Art von Trinkverhalten nicht nur tendenziell eher in die Männerdomäne, sondern vor allem auch zu einer geschlechtsunabhängigen Altersgruppe: den Jugendlichen.8
Die dänische Jugend und der Alkohol
Insbesondere die dänische Jugend macht dem zum Trend gewordenen Komasaufen alle Ehre. Sie weist zusätzlich auch eine allgemein hohe Trinkquote auf.9 Mit dieser Prämisse öffnet der Film. Beim traditionellen søløb, dem Seelauf, können für’s viele und schnelle Trinken sowie für den Synchronisationsgrad beim daraus resultierenden Erbrechen Punkte gesammelt werden.10 Gewinn sind das Flaschenpfand sowie auch Ruhm und Ehre. Vom Seelauf geht es nahtlos über in eine nächtliche Feierszene.11 Es wird weiterhin gebechert, dieses Mal jedoch ohne jegliche Regeln – oder Hemmungen. Die jugendliche Freiheit lässt sich von nichts und niemandem bändigen –stattdessen kettet sie lieber selbst den Strassenbahnkontrolleur und seine milden Versuche, Ordnung zu schaffen, mit Handschellen fest.12
Danach kehrt tatsächlich etwas Ruhe auf der Leinwand ein: die Erwachsenen diskutieren den Handschellenvorfall im Lehrerzimmer.13 Obwohl den Schüler:innen dieser jugendliche Leichtsinn von den Lehrpersonen sowohl vergeben als auch gegönnt wird, verhängt man für die kommenden Schulveranstaltungen dennoch ein Trinkverbot. Dass ein solches tatsächlich durchgesetzt werden soll oder kann, wird allerdings bezweifelt, und gar belächelt. Die alkoholpolitische Vergangenheit Dänemarks hat bereits mehrfach gezeigt, dass sich die dänische Bevölkerung ihr Anrecht auf ein oder zwei Gläschen weder einschränken und schon gar nicht verbieten lässt.14 Dies vor allem auch ganz im Unterschied zu Schweden und Norwegen, wo der Staat noch immer das Monopol auf Alkohol hat.
Trinken, wie einst die Germanen und Griechen
Der Film zeigt Unterschiede im Trinkverhalten; auf der einen Seite gibt es die jugendlichen Besäufnisse, die vor allem zügellos und unkultiviert daherkommen. Auf der anderen Seite werden Erwachsene gezeigt, die einen kontrollierten Umgang mit Alkohol pflegen (zumindest anfangs).
Die vier Hauptcharaktere treffen sich zu einem Geburtstagsessen in einem noblen Restaurant.15 Nicht nur das Setting der Szene steht in einem deutlichen Kontrast zu jenem des Filmopeners; auch die weniger hektische Kameraführung und die Lichtinszenierung unterstreichen das vermeintlich niveauvollere und intellektuellere Trinkverhalten der vier Lehrer. Spirituosen werden durch einen Kellner mit Hintergrundinformationen versehen und Alkohol wird hier dadurch als Genussmittel inszeniert und konsumiert, nicht als Rauschmittel.
Die Szene gibt einen Topos von sich unterscheidenden Trinkkulturen wieder, der bereits in der Antike etabliert wurde. Die Römer bewerteten die Völker im Norden, dazu gehörten die Germanen, als exzessive Trinker.16 Bei den Griechen und Römern wurde Alkohol an Symposien und Konvivien konsumiert; das gemeinsame Trinken steckte bereits im Namen. Allerdings standen bei diesen Saufgelagen die philosophischen Diskussionen im Vordergrund. Für die Germanen hatten solche Zusammenkünfte eine andere Funktion:
Bei den nördlichen Barbaren hingegen war die gemeinsame Berauschung eine heilige Ehrenpflicht. […] Die kollektive Berauschung am Festtag war eine magisch-sakrale Handlung und zielte auf Transzendenz und Integration. Das Trinken und Zutrinken ist dabei stark ritualisiert; einen dargebotenen Becher abzulehnen, wäre ein unerhörter Frevel. Der Trinkzwang gewährleistete die kontrollierte Aufhebung der Kontrollen.17
Während die Schüler:innen in Druk dem Topos des barbarischen und unkultivierten Exzesstrinkens folgen, sind ihre Lehrer Teil des intellektuellen südländischen Trinktypus. Der Aspekt der philosophischen Diskussion, welcher von zentraler Bedeutung für diesen Typus ist, wird dabei sehr explizit integriert. Nikolaj, der Psychologielehrer, kommt beim Thema Vernunft auf die These des norwegischen Psychiaters und Philosophen Finn Skårderud zu sprechen.18 Gemäss diesem werden Menschen „mit einer halben Promille zu wenig geboren.“19 Mit einer solchen konstanten Menge an Alkohol im Blut würde ein entspannterer Gemütszustand erreicht werden und man nicht nur anwesender sondern auch musikalischer, selbstsicherer und allgemein mutiger sein. Während Nikolaj den anderen diese These unterbreitet, tritt zunächst Belustigung und Ungläubigkeit unter den anderen Lehrerfreunden auf – die Kamera bleibt dabei aber primär auf Martin gerichtet. Er ist Geschichtslehrer und steckt gerade in einer tiefen Midlife-Crisis. Er ist zudem der Einzige, der an diesen Abend nichts trinken wollte. Aufmerksam und mit einem wehmütigen Blick folgt er der Diskussion.
Mit Hilfe von Skårderuds These wird Alkohol hier explizit zu einem Mittel der Kreativitätsförderung und entsprechend zu einem Erschaffer von Kunst und Kultur. Dieser Gedanke ist nicht neu, sondern erfreut sich einer langen Tradition.
Alkohol als Konsum- und Kulturgut
Mit genau dieser Tradition befasst sich Druk und spielt damit auf äusserst gelungene Art. Als Martin nämlich auf Drängen der anderen schliesslich doch einen Schluck Wodka nimmt, stimmt das Vokalensemble des Restaurants ein düsteres, schwedisches Trinklied an:
Drick ur ditt glas, se döden på dig väntar. […] Töm ur din flaska, sjung och drick, var glad!
Leere dein Glas, der Tod schon deiner harret. […] Leer deine Flasche, sing und trink, sei froh!20
Das Lied entstammt aus der Feder von Carl Michael Bellman. Der schwedische Nationaldichter aus dem 18. Jahrhundert hatte einen Hang zum Alkohol und komponierte auch demensprechend viele Trinklieder. Das vom Vokalensemble gesungene Stück ist Teil der Liedersammlung Fredmans epistlar, welche 1790 publiziert wurde. In den Episteln geht es um den Schnapsbruder Jean Fredman und unter anderem um die Auswirkungen, die sein Trinken so mit sich bringen.21 Von Lobpreisungen an das „Lebenswasser“ bis hin zu Blackout-Szenarien in den Gassen ist bei Bellman alles vertreten. Druk übernimmt dieses Spiel zwischen Profanität und Sakralität und baut es insbesondere über die Musik in den Film ein. Jede wichtige oder grössere Trinkszene (und von denen gibt es einige) wird mit dem passenden Musikstück unterstrichen.
Als der Männertrupp – mittlerweile natürlich ordentlich betrunken – aus dem Lokal tritt, werden sie nochmals vom Vokalensemble begleitet.22 Auch dieses Mal wird eine von Bellmans Episteln zum Besten gegeben: die No. 82: Hvila vid denna källa (dt. Weile an dieser Quelle23), welche die letzte in der Liedersammlung ist. Geschildert wird ein blumiges Frühstück; der Rotwein fliesst und alle werden gebeten ihr Glas zu erheben. Dieser Aufforderung folgen auch die Männer im Film und markieren so den Beginn ihres Wechsels im Trinkverhalten. Während der klassische Ton des Restaurantkontexts und somit des geschliffenen südländischen Trinktypus noch als musikalischer Hintergrund weiterklingt, übernehmen die Charaktere im bildlichen Vordergrund jedoch allmählich den regelloser wirkenden nördlichen Alkoholkonsumtypus. Wie die Jugendlichen sind die trunkenen vier Lehrer nun draussen auf der Strasse, blödeln rum, raufen spasseshalber miteinander und liegen schlussendlich in ähnlicher Konstellation, wie zuvor ihre Schüler:innen, ineinander verschlungen am Boden rum.
Und somit beginnt also das Experiment des konstanten 0.5-Promille-Haltens. Allerdings wird bis zum Schluss versucht, den immer zügelloser und exzessiver werdenden Rausch stets in einem kulturell-intellektuellen Rahmen zu halten, um das Saufen somit irgendwie zu legitimieren. Grosse Männernamen der Kulturwelt werden dazu zu Hilfe gezogen: Churchill, Hemingway und natürlich Kierkegaard sind vertreten. Jedoch liefert keiner davon eine eindeutige Antwort darauf, wie man zum Überkonsum genau stehen soll. Martin jedenfalls konnte durch den Alkohol zu seiner eigenen Kunstform, dem Tanz, zurückfinden. Dies jedoch wohlbemerkt nachdem er, Nikolaj und Peter gerade den letzten in ihrer Runde, Tommy, beerdigt haben. Tommy scheinte einsamkeitsbedingt bereits vor dem Promille-Experiment der Vier der Alkoholabhängigkeit nahe und verunfallte dann schliesslich tödlich, weil er auch nach Beendigung der Rausch-Untersuchung den massvollen Umgang mit dem vermeintlichen Sorgenbrecher nicht mehr fand. Allerdings zeigt der Film hier lediglich eine mögliche Realität auf, keinesfalls eine Wertung oder Tendenz, wie Exzesse im Umgang mit Alkohol bewertet werden sollten.
Als Zuschauer:in bleibt man nach der Schlussszene selbst völlig ekstatisch und berauscht zurück, auch ganz ohne Alkohol. What a Film!
- Der Rausch, Weltkino, 01:48:44 – 01:48:47. [↩]
- Regie: Todd Phillips, Warner Bros. Pictures, Erscheinungsjahre: Part 1: 2009, Part 2: 2011, Part 3: 2013. [↩]
- Spode, Hasso. “Trinkkulturen in Europa. Strukturen, Transfers, Verflechtungen.” Die kulturelle Integration Europas. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 361–391. Web, S. 368. [↩]
- Vgl. Eriksen, Sidsel. „Alcohol as a Gender Symbol”. Scandinavian Journal of History. 24.1 (1999): 45-73. Web, S. 46. Und: Spode: S. 367 & 369. [↩]
- Vgl. Chick, Jonathan. “Men and Alcohol: Benefits and Hazards.” Trends in urology & men’s health 5.6 (2014): 9–13. Web, S. 9. [↩]
- Vgl. Bloomfield, Kim et al. “Drinking Patterns at the Sub-National Level: What Do They Tell Us About Drinking Cultures in European Countries?” Nordisk alkohol- & narkotikatidskrift : NAT 34.4 (2017): 342–352. Web. [↩]
- Vgl. Sudhinaraset, May, Christina Wigglesworth, and David T Takeuchi. “Social and Cultural Contexts of Alcohol Use: Influences in a Social–ecological Framework.” Alcohol research 38.1 (2016): 35–45. Print, S. 41. [↩]
- Spode, S. 383. [↩]
- Moeller, Kim. “The Freedom to Drink and the Freedom to Sell Drink: A Hundred Years of Danish Alcohol-Control Policy.” Journal of policy history 24.3 (2012): 499–517. Web, S. 500. [↩]
- Der Rausch, 00:01:01- 00:01:54. [↩]
- Ebd., 00:01:55 – 00:02:45. [↩]
- Ebd., 00:02:18 – 00:02:29. [↩]
- Ebd., 00:03:34 – 00:03:54. [↩]
- Vgl. Moeller. Und: Eriksen, Sidsel. “Skabelsen Af Den Danske Liberale Drikkestil.” Nordisk alkohol- & narkotikatidskrift: NAT 10.1 (1993): 3–13. Web. [↩]
- Der Rausch, 00:12:17 – 00:22:12. [↩]
- Spode, S. 364. [↩]
- Ebd. [↩]
- Der Rausch, 00:13:34 – 00:14:35. [↩]
- Ebd., 00:13:47. [↩]
- Ebd., 00:17:04. [↩]
- The Editors of Encyclopaedia Britannica. “Carl Michael Bellman – Swedish poet and musician.” Britannica. Last Updated: 07.02.2022. Web. Zugriff: 09.02.2.< https://www.britannica.com/biography/Carl-Michael-Bellman>. [↩]
- Ebd., 00:22:15 – 00:22:59. [↩]
- Die Klingende Brücke: Lieder in den Sprachen Europas. 16.03.2015. Web. Zugriff: 09.02.2022. < https://www.klingendebruecke.de/wp-content/uploads/2015/12/0364_Vilaviddenna_2_sch.pdf>. [↩]