Die konkreten Veränderungen im Laufe der Transformation von Naturfarbstoffen zu synthetischen Farbstoffen nahmen mich speziell wunder. Was wurde aus den Bauern, die ihre ganzen Ressourcen auf den Krappanbau ausgerichtet hatten? Was wurde aus den ganzen Gebieten, die so berühmt für ihren qualitativ hochstehenden Krapp waren? Was wurde aus den Gebäuden, die spezifisch auf Türkischrotfärberei spezialisiert waren? Gingen die kleinen Unternehmen, die mit Krapp handelten unter? Was passierte mit dem ganzen Krappmarkt?
Im Folgenden sind Ansätze zu diesen Fragen stichwortartig aufgelistet. Leider habe ich ganz konkrete Veränderungen, also was mit dem Material oder den Individuen des Krappmarktes passiert, bisher nur sehr wenig herausgefunden. Mehr Informationen hingegen kann ich zum Markt bzw. zu Marktstrukturen bieten. Zudem stellte ich fest, dass die ganze Färbeindustrie zwar revolutioniert wurde mit der Entdeckung von synthetischen Farbstoffen, es sich jedoch nicht um zwei abgrenzbare Phasen oder zwei abgrenzbare Märkte handelt. Statt einer Ablösung war es viel mehr ein fliessender Übergang, wo alte und neue Strukturen und Produkte ineinandergriffen bzw. koexistierten. Beispielsweise handelten vielen Firmen und Fabriken zunächst mit natürlichen und synthetischen Farbstoffen.
Was wurde aus dem alten Krappmarkt?
Vorindustrieller Farbstoffmarkt (bis zum Beginn des 19. Jh.)
Produktion | Vermittlung | Verbrauch |
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Krappbauern Meist auf nur eine Handelsware spezialisiert, abhängig von Kaufleuten, wenig Kapital | Kaufleute/Zwischenhändler, kleine, wandelbare Unternehmen Politische Macht, Markt- und Netzwerkbeziehungen, nicht autonom funktionierend, springen bei kleinen Gewinnausblick schnell ab, da auch andere Erwerbsquellen | Färbereien, Textildruckereien |
Moderner, industrieller Farbstoffmarkt (ab zweiter Hälfte 19. Jh.)
Produktion & Vermittlung | Verbrauch |
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Kaufleute bzw. Grossunternehmer (Farbfabriken) Produzieren industriell und vermitteln gleichzeitig, Grundstoffe und chemische Produkte (wie Farbstoffe), Produktdiversifizierung (verschiedene Produkte, nicht nur auf eines spezialisiert), funktionieren autonom, viel Kapital d.h. auch viel stabiler, können auch ein gewisse Zeit lang in zunächst unrentablen Weiterentwicklungen und Innovationen einer Handelsware investieren (z.B. synthetische Farbstoffherstellung) | Färbereien, Textildruckereien |
Was auffällt: Produktion und Vermittlung lagen im alten Markt an zwei unterschiedlichen Stellen während im neuen Markt unter einem Dach produziert und auch gleich vermittelt/weiterverkauft wurde.
Generell kann man aus den unterschiedlichen Strukturen schliessen, dass vorindustrielle Kleinunternehmen weniger anpassungsfähig und flexibel waren als grössere Unternehmen. Für sie war es schwieriger dem wirtschaftlichen Wandel zu folgen und daher waren sie entweder dem Untergang geweiht oder mussten sich neu organisieren (was auch viele taten).
Neues Phänomen: Grossunternehmen in der aufsteigenden Chemieindustrie
In den 1860er, 70er entstanden viele Grossunternehmen, die die aufsteigende Chemieindustrie ausmachten und teilweise bis heute weiterbestehen. Sie fielen aber nicht einfach so vom Himmel, sondern viele entstanden aus kleineren Vorläuferunternehmen oder aus fusionierten produzierenden und vermittelnden Strukturen.
Wichtige Unternehmen der Schweizerischen und Deutschen Teerfarbenbranche:
- J. R. Geigy AG (heute Novartis)
- BASF (Badische Anilin- und Soda-Fabrik)
- Friedrich Bayer & Co.
- Hoechst
- AGFA (Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation)
- Leopold Cassella & Co.
Allmähliche Transformation
Exemplarisch zeigt die Geschichte vom Unternehmen Geigy die allmähliche Transformation vom Markt ausschliesslich mit Naturfarbstoffen hin zum Markt ausschliesslich mit synthetischen Farbstoffen. Dazwischen lag aber noch eine längere Übergangsphase, wo natürliche und künstliche Farbstoffe sowie auch Farbextrakte und Präparate (oft auch unter einem Dach) parallel gehandelt wurden. Geigy besass z.B. eine Farbholzmühle (zur Naturfarbstoff-Aufbereitung), trieb Zwischenhandel mit natürlichen Farbstoffen, war gleichzeitig eine Extraktionsfabrik für Naturfarben und produzierte synthetische Farben.
Viele Grossunternehmen entstanden aus kleineren Vorläuferunternehmen, die zuvor mit Naturfarbstoffen und Extrakten handelten und allmählich ihr Produktangebot erweiterten mit neuen, künstlichen Produkten. Andere Grossunternehmen entstanden aus mehreren fusionierten Unternehmen, von denen die einen z.B. Farbstoff-Produzenten waren und andere eine vermittelnde Rolle innehatten. So vereinten die Grossunternehmen Produktion und Vermittlung.
Viele alte Strukturen wurden also transformiert und bestanden in neuen Zusammensetzungen weiter.
Künstliche Farbstoffe wurden ins bestehende System integriert, wie es auch schon bei importierten Farbstoffen geschah.
Die neuen Farben — Downgrade oder Nostalgie?
Der schnelle Aufschwung der synthetischen Farbstoffe direkt nach der Entdeckung des ersten synthetischen Farbstoffs bedeutete nicht die direkte Ablösung der natürlichen Farbstoffe. Allerdings fürchteten gewisse Leute genau dies: die Ablösung des Naturfarbstoff-Metiers durch simple synthetische Färberei. Es waren keineswegs alle enthusiastisch über die neuen technologischen Weiterentwicklungen. Einige vermuteten Qualitätsverluste. Sie befürchteten, dass nun jeder Dahergelaufene färben könnte und es nicht mehr ein hochangesehenes Metier sein werde. Andere hatten wiederum schlichtweg Existenzängste. Wissenschaftler aber auch Leute aus der Farbindustrie (z.B. Drucker, Färber) und natürlich Leute aus der Landwirtschaft waren skeptisch gegenüber den neuen, künstlichen Farbstoffen.
Was die Befürchtungen zur Qualität angeht, stellt sich nun die Frage, ob etwas dran war oder es sich schlicht um Nostalgie handelte. Beispielsweise schien 1879 die Qualität von natürlich gefärbtem Türkischrot tatsächlich besser zu sein als künstlich gefärbtes. Viele holländische Kaliko-Druckereien wollten zu dieser Zeit daher keine synthetischen Farbstoffe einführen. Allerdings würden sich sicherlich auch unzählige Beispiele finden lassen, wo Druckereien oder Färbereien neue synthetische Farbstoffe gerne aufnehmen und dafür die natürliche Pendants fallen liessen — zumindest nach der ersten Phase der Abwehr, wie man sie oft beobachtet bei neuen technologischen Phänomenen.
Ausgedient
Wie bereits weiter oben geschildert, entwickelten sich gewisse Marktstrukturen (z.B. kleine Unternehmen) weiter und fanden ihren Platz in der neuen Industrie. Manche Teile der ganzen natürlichen Alizarin-Marktkette konnten jedoch nicht weiterverwendet oder ‑entwickelt werden, sobald die Industrie primär auf synthetische Farbstoffe ausgerichtet war. Sie waren in der neuen, chemischen Industrie schlicht überflüssig. So zum Beispiel der Krapp-Anbau. Leute, die in der Krapp-Landwirtschaft arbeiteten, hatten berechtigte Existenzängste. Krapp-Anbauer versuchten den Prozess vom Anbau bis hin zum Färben mit Färberkrapp zu verbessern, um mit dem künstlichen Alizarin mitzuhalten. Nichtsdestotrotz wurde in Frankreich z.B. 1878 nur noch halb so viel Land für den Krappanbau bewirtschaftet als um 1862.
Auch einzelne bauliche Einrichtungen für die Türkischrotfärberei wurden überflüssig: Die Trockentürme wurden abgebrochen. Das Material wurde dann wenigstens für andere Bauten wiederverwendet.
Relevante Literatur:
Engel, Alexander: Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt/Main 2009 (Band 5).
Nieto-Galan, Agustí: Colouring Textiles. A History of Natural Dyestuffs in Industrial Europe, Dordrecht 2001.
Bildquellen:
Beitragsbild, Abb. 1, Abb. 2, Abb. 3, Abb. 4