Die Kunstgeschichte hat sich in den letzten Jahren vermehrt für Fragen der Topologie von Kunstwerken interessiert. In diesem Zusammenhang wurden die Interferenzen zwischen der räumlichen Struktur der Objekte und den von ihnen repräsentierten Bildorten untersucht. Der Essay wendet diese Fragestellung auf ein Paar beidseitig bemalter Retabelflügel des Freiburger Malers Hans Fries (ca. 1460-1523) an. Gezeigt wird, dass sich in der Erzählung der Tafeln eine Reflexion über die performativen Potenziale des Triptychons manifestiert. Die räumliche Disposition der Bildelemente in der klappbaren Objektform rückt das Moment der Offenbarung in den Erfahrungsbereich des Rezipienten, was in diesem Fall mit einer hohen Metaphorizität in Bezug auf das Medium Buch einhergeht.
„Das Objekt ist Aufenthaltsort des Repräsentierten und Medium seiner Repräsentation in einem“, schreibt Rimmele in seinem Aufsatz zum Triptychon als Ort fingierter Orte.[1. Rimmele 2008, 309.] Kunstobjekte und ihr Verhältnis zu den „dynamischen Konstitutionsbedingungen von Orten und Räumen“[2. Hinterwaldner et al. 2008, 17.] sind in den letzten Jahren unter dem Begriff der Topologie näher in den Fokus der Forschung gerückt.[3. Siehe dazu die Sammelbände Topologie. Falten, Knoten, Netze, Stülpungen in Kunst und Theorie, hg. von Wolfram Pichler, Wien 2009, Topologien der Bilder, hg. von Hinterwaldner et al., München 2008 und Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, hg. von Stephan Günzel, Bielefeld 2007 (Kultur- und Medientheorie)] Die Kunstgeschichte beschäftigt sich im Hinblick auf die Topologie von Objekten einerseits mit der Frage, wie die „Orte, an denen Bilder installiert, gezeigt und gesehen werden, beeinflussen, wie diese Bilder verstanden werden, welchen Zwecken sie dienen und welche Handlungen sie evozieren“.[4. Hinterwaldner et al. 2008, 16.] Sie beleuchtet andererseits, wie die Ikonographie und die imaginären Orte des Dargestellten Rekurs auf eben jene mediale Inszenierungen und Handlungen nehmen. Das Triptychon des Spätmittelalters stellt in dieser Hinsicht einen Spezialfall dar; es bestand aus einer bemalten Mitteltafel oder einem mit Skulpturen gefüllten Schrein und aus Flügelpaaren, die geöffnet oder geschlossen werden konnten.[5. Flühler-Kreis 2007, 9] Manchmal, aber nicht immer[6. Gasser et al. 2011, 41], wurde das Retabel durch eine Predella und Gesprenge ergänzt. Anders als einzelne Tafelbilder, die als Fenster zu einer imaginären Welt verstanden werden können, wird die Illusion einer fenestra aperta beim Triptychon schon durch die physischen Zäsuren des mehrteiligen Aufbaus verunmöglicht.[7. Rimmele 2008, 303f.] Aufgrund seiner Mehrteiligkeit und der Beweglichkeit der Bildträger ist dem Triptychon, wie nachfolgend gezeigt wird, jedoch ein hohes performatives Potenzial immanent. Im Gegensatz zu jenen Triptychen, die in der privaten Andacht zu Anwendung kamen, hatte das Flügelretabel seinen Platz auf dem Altar einer Kirche und im Mittelpunkt einer komplexen liturgischen Handlung. Hinsichtlich seiner Örtlichkeit war es polyvalent: Erstens stand es an seinem physisch zugedachten Ort in der Kirche und wird für eine Handlung modifiziert, zweitens wurden im Bildprogramm Räume mit Figuren konstituiert, drittens wurde mit der Öffnung des Retabels die Opazität des imaginären, heilsgeschichtlich zeitlosen Ortes, der vom Rezipienten hinter den Flügeln gedacht werden muss, aufgehoben.
In der Forschung besteht der Konsens, dass Flügelretabel im liturgischen Kontext meist geschlossen waren und nur vor bestimmten Feiertagen geöffnet wurden.[8. Flühler-Kreis 2007, 8.] Tatsächlich ist über den genauen Usus des Schliessens und Öffnens der Retabel in der Liturgie wenig bekannt, da die Quellenlage spärlich ist und nur lokale Einzelfälle dokumentiert.[9. Rimmele 2010, 52.] Auch wenn Rimmele vor einer „liturgisch-eucharistisch ausgerichteten Überinterpretation“ der Altarretabel warnt, ist diesem Apparat jedoch nicht abzusprechen, dass er mit dem Akt des Verhüllens und Enthüllens spielt.[10. Schlie 2010, 247.] Die geschlossenen Flügel deuten etwas „Innere[s], Tiefere[s], Wertvollere[s]“ an.[11. Rimmele 2010, 61.] Auch die auf den Tafeln dargestellten Elemente korrelieren stark mit dem medialen Potenzial dieser mehrteiligen Konstruktion – sei es durch die Anordnung der Elemente im Raum oder durch einzelne symbolische Motive. Wie Rimmele schreibt, wurde die Aussenseite als Darstellung von etwas Verhüllendem bis in die Spätzeit des Triptychons thematisiert und variiert.[12. Ebd., 32.] So interpretiert er zum Beispiel auf den Aussenseiten dargestellte Türen oder Vorhänge als imaginäre Pforten zum Innern des Retabels und sieht darin ein Indiz für eine „zeitgenössische Reflexion über Potentiale der Flügelkonstruktion.“[13. Ebd., 56.]
Es liegt nahe, dass sich Visionsdarstellungen, welche ja gerade die göttliche Transgression ins Diesseits vermitteln, für die mediale Inszenierung mittels Öffnung einer Flügelkonstruktion eignen. David Ganz, der in einer 2008 erschienenen Monographie ebensolche Visionsdarstellungen des Mittelalters untersucht hat, verweist auf die „elementare Spaltung, welche die Welt durchzieht: Menschenwelt vs. Gotteswelt, Immanenz vs. Transzendenz, terra vs. coelum.“[14. Ganz 2008, 11.] Er schreibt weiter, dass der Erfahrungsbereich des Menschen an das Sehen gebunden sei, während Gott in eine Zone des Unsichtbaren gehöre; die Vision fungiere dabei als ein „Mittleres, welches den Bereich des sonst Opaken und Hermetischen für einzelne Menschen transparent macht.“[15. Ebd., 11f.]
Ich möchte die mediale Selbstreflexion über das Öffnen- und Schliessen von Retabeln anhand eines ausgewählten Flügelpaars, das die Apokalypse des Johannes darstellt, näher untersuchen. Einer der wohl bedeutendsten Schweizer Künstler um 1500, der Freiburger Maler Hans Fries, hat Anfang des 16. Jahrhunderts die Tafelgemälde zu einem Altarretabel gefertigt, welche auf der sogenannten „Werktagsseite“ das Giftwunder des Evangelisten Johannes und auf den Innenseiten Johannes auf Patmos mit der Erscheinung des Apokalyptischen Weibes sowie die Leuchtervision zeigen.
Die Altarflügel des Landesmuseums fanden in der Forschung bisher eher wenig Beachtung, obwohl das Œuvre des Malers Fries seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein hohes Ansehen geniesst.[16. Villiger 2001a, 17.] Einen Meilenstein der Forschung zu Fries stellt sicher der von Verena Villiger herausgegebene Katalog aus dem Jahr 2001 dar.[17. Hans Fries. Ein Maler an der Zeitenwende, hg. von V. Villiger, Zürich 2001.] An weitergehende Fragen der Interpretation hat sich bislang aber nur Caroline Schuster Cordone gewagt, die in einem Aufsatz Strukturen der Bilderzählung und die Symbolik einzelner Elemente anhand von vier ausgewählten Gemälden diskutiert.[18. Schuster Cordone, Caroline, Hans Fries, conteur d’images. Narration picturale et détails dans l’art fribourgeois autour de 1500, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 64 (2007), 67-82.]
An Fries‘ Werk zur Offenbarung des Johannes soll hier beispielhaft aufgezeigt werden, wie sich die räumliche Disposition der einzelnen Bildtafeln mit der Öffnung der Flügel sukzessive verändert und die Altarflügel schliesslich zu einer Metapher für die im Bild dargestellte Offenbarung und das Medium des Buches werden. Auch wenn die Mitteltafel bzw. der Schrein fehlt, gemäss Thürlemann das „dominante“ Element des Altarretabels[19. Schuster Cordone, Caroline, Hans Fries, conteur d’images. Narration picturale et détails dans l’art fribourgeois autour de 1500, in: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 64 (2007), 67-82.], bin ich überzeugt, dass sich eine Untersuchung durchaus lohnt, wie sich die einzelnen Bildprogramme aufeinander beziehen. Aussen vor bleiben muss aufgrund des Umfangs jedoch der eingehende Vergleich mit anderen zeitgenössischen Darstellungen der Offenbarung.[20. Allen voran der Apokalypse von Albrecht Dürer, die Fries umfassend zitiert. Zu den von Dürer übernommenen Elementen siehe Villiger, Verena, Kleiner Johannes-Altar, in: dies./Alfred A. Schmid (Hg.), Hans Fries. Ein Maler an der Zeitenwende, Zürich 2001, 158-168.]
Zu Beginn möchte ich kurz die Chronologie der Bildtafeln erläutern. Gemäss der Bibel hatte Johannes in Kleinasien gepredigt, bevor er von Kaiser Domitian zum Tod im Ölkessel verurteilt und dann auf die griechische Insel Patmos verbannt wurde. Die Johannes-Vita der Legenda Aurea ergänzt die Erzählung um verschiedene Episoden, die sich an die Rückkehr des Heiligen aus dem Exil anschliessen. Die bekannteste dieser Szenen ist das auf den Aussenflügeln dargestellte Giftwunder. Dieses steht somit chronologisch nach den beiden Szenen im Inneren, woraus sich eine spannungsvolle Inversion von Bildanordnung und erzählter Geschichte ergibt, die man als Rückblende interpretieren könnte. Diese Spannung wird von Fries noch dadurch verschärft, dass er die Komposition des Giftwunders eng an Dürers Holzschnitt der Ölmarter anlehnt, eines Ereignisses vor der Verbannung nach Patmos also, das bei Dürer den Bildern zur Apokalypse als „Prooemium“[21. Krüger 1996, 49.] vorausgeht. Die Orientierung an Dürers Holzschnittapokalypse von 1498 setzt sich auch im Inneren fort, denn die Darstellung der Leuchtervision ist nach der ersten „Figur“ Dürers gestaltet, während das linke Bildfeld Elemente der achten und der neunten Figur (die Erscheinung des starken Engels vor dem schreibenden Johannes und die Vision des Apokalyptischen Weibes) aufgreift. Die Auswahl des Bildprogramms – eine hagiographische Szene und zwei biblische Visionsdarstellungen – bietet somit einen Auszug und zugleich eine Umdeutung der Dürer-Apokalypse.[22. Wieso Fries auf diesem Retabel nicht die Öl-, sondern Giftmarter dargestellt hat, ist nicht klar. Einige Jahre zuvor, im Jahr 1502, hat Hans Burgkmair das Giftwunder des Johannes gemalt. Weiter sind aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts zwei anonyme Darstellungen der Giftmarter überliefert. Wahrscheinlich wurde diese Szene vom Auftraggeber so gewünscht bzw. mit Fries abgesprochen.]
Nach dem Öffnen der Flügel bleibt diese Spannung im Verhältnis von linkem und rechtem Flügel aufrechterhalten (Abb. 1-2): Die dargestellten Szenen basieren auf Apokalypse 12 (der Vision des Apokalyptischen Weibes) und Apokalypse 1, 12-16 (der Leuchtervision). Die Chronologie des Textes verläuft also von rechts nach links, während bildlich eher eine Lektüre gemäss der konventionellen Leserichtung von links nach rechts nahegelegt wird.[23. Lacher 2005, 89.] So bezieht sich die Erscheinung Mariens mit dem Christuskind auf eine frühere Phase des Christuslebens als die Erscheinung des erwachsenen Menschensohnes rechts. An der Figur des Johannes wiederum wird von links nach rechts eine Aufstiegsbewegung ablesbar, die von einem Sitzplatz auf der Insel Patmos zu einer schwebenden Position im Himmel führt. Wie in der nachfolgenden Untersuchung gezeigt werden soll, erfolgt die spannungsvolle zeitliche Verklammerung der Bilder vor allem über die Darstellung des Raumes, der Figuren und das Motiv des Buches.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Aussenseiten der Flügel öfter gesehen wurden als die Innentafeln, die vermutlich nur vor besonderen Feierlichkeiten sichtbar wurden[24. Bachmann et al. 2003, Sp. 1459.], und den „Erlebnis- bzw. Identifikationsraum an den Betrachter“[25. Krüger 1996, 52.] darstellten. Sie sind somit tendenziell der Immanenz und dem Irdischen verhaftet, während die inneren Darstellungen dem Kirchengänger das Transzendente eröffnen. Die Aussenseiten der Flügel des kleinen Johannes-Altarretabels von Hans Fries ergeben zusammen ein einziges Bild und zeigen, wie der Diana-Priester Aristodemos dem Evangelisten befiehlt, Gift zu trinken (Abb. 1).[26. De Voragine 1982, 49f.] Sollte der Jünger Jesu unversehrt bleiben, wolle der „Heide“ an den christlichen Gott glauben. Zur Demonstration lässt Aristodemos jedoch vorher zwei zum Tode verurteilte Häftlinge Gift trinken, die daraufhin tot zusammenbrechen. Johannes leert den Kelch und bleibt unversehrt; aber erst nachdem er die beiden Toten wieder zum Leben erweckt hat, kann er den Priester von seinem Glauben überzeugen.
Die Tafel behandelt nur einen Ausschnitt dieser Episode, nämlich den prägnantesten, in welchem der Lieblingsjünger von Jesus das Gift mit verzücktem, fast entrücktem Gesichtsausdruck trinkt. Die beiden Toten liegen zu seinen Füssen. Das Vergangene, nämlich der Tod der Häftlinge, die Gegenwart und das Kommende, die Seligkeit des Johannes – die durch den goldenen Nimbus vorausgedeutet wird -, sind in diesem Bildfeld vereint. Die Bewegungen der Figuren und der Architektur verlaufen weitgehend horizontal: Der Priester richtet mit seinem Stock die Aufmerksamkeit auf den Gift trinkenden Johannes, und auch sein Begleiter mit Turban und exotischem Schnäuzer[27. Villiger 2001b, 164.], vermutlich der in der Legenda Aurea erwähnte Landarbeiter, weist mit der Hand auf den Jünger. Die beiden im Vordergrund liegenden Leichen – ein Kopf weist nach rechts, der andere nach links – überlagern sich mit den Gliedmassen und sind miteinander verschränkt. Der ornamentale Thronhimmel erstreckt sich, wie die sich geometrisch in die Form des Baldachins einfügende Turmwand über beide Bildfelder und deutet ebenfalls eine Verschränkung an. Im Hintergrund drängt sich das Volk, gewappnet mit Speeren und Schwertern, zum Ort des Geschehens vor. Nur ein winziger Blick wird auf die fernen Hügel und die See frei.
Die Flügelaussenseiten vermitteln demnach einerseits eine gedrängte Zeitstruktur, andererseits ein Überlagern der Körper im Raum. Für Schmid führt die Anordnung in Fries‘ Werken „zu einem stossenden Gedränge, das sich auf die in die Tiefe gestaffelten Bildräume nachteilig auswirkt.“[28. Schmid 2001, 36.] Ich glaube, dass sich dieses Überlagern mehrerer Figuren und Elemente auf das Moment des Verhüllens bezieht. Dieses „Geschlossen-Sein“ spiegelt sich noch in anderen Elementen wider: Das Attribut des Evangelisten Johannes, das Buch, trägt er in Form eines Beutelbuchs[29. Beutelbücher waren seit dem Spätmittelalter in Gebrauch; die meisten Originale sind aus dem 15. und 16. Jahrhundert überliefert. In der künstlerischen Darstellung werden ausschliesslich Geistliche, darunter Evangelisten, mit Beutelbuch versehen. Vgl. dazu Bruckner, Ursula, Das Beutelbuch und seine Verwandten – der Hülleneinband, das Faltbuch und der Buchbeutel, in: Gutenberg-Jahrbuch 72 (1997), 307-324.] in seiner linken Hand. Es ist nicht nur geschlossen, sondern auch noch verhüllt. Es handelt sich um ein wichtiges Verbindungselement zwischen den drei Johannes-Bildern. Das Öffnen des Schriftträgers dient dabei als Metapher für das Öffnen der Altarflügel. Ganz hat die enge Verbindung zwischen klappbaren Bildträgern und dem Buch unterstrichen, habe sich doch die Objektform des Diptychons aus Schreibtafeln mit Scharnier herausgebildet. [30. Ganz 2010, 46.] Auch Flühler-Kreis betont, dass das bemalte Retabel den Gläubigen vermutlich wie ein grosses Bilderbuch erschienen sei.[31. Flühler-Kreis 2007, 8.] Wenn das Lesen, das wie das lateinische Wort legere noch im Althochdeutschen die Bedeutung des Sammeln in sich trug[32. Kluge 2011, 573.], durch Kontinuität und der Interpretation unterschiedlichster, gleichzeitig voneinander getrennter, aber trotzdem miteinander verbundenen Sequenzen zu charakterisieren ist, eignet sich das Triptychon durch seine Form ideal dafür. Wie für Johannes ist der Altarflügel für die Kirchenbesucher im geschlossenen Zustand ein Buch mit sieben Siegeln, welches im Inneren des Retabels eine prachtvolle Offenbarung bereithält. Des Weiteren wird mit dem Öffnen des Triptychons die äussere Bildkomposition auseinandergebrochen. Einerseits wird die Verbindung zwischen Johannes und dem „heidnische“ Priester getrennt, andererseits wird der Begleiter fragmentiert.
Im Gegensatz zu der Flügelaussenseite wird die Bildfläche des linken Innenflügels durch eine klare, horizontale Zäsur in eine himmlische und irdische Sphäre unterteilt. Dem Betrachter der Festtagsseite muss die Mutter Gottes mit dem Kind im Arm gleichsam wie dem knienden Johannes „erschienen“ sein. Die Erfahrung der Offenbarung wird durch die Materialität des Goldes auf den Betrachter des Bildes übertragen. Das grossflächige und prächtige Gold, ohne Frage das kostbarste Gestaltungselement, dient hier einerseits der Akzentuierung des Sakralen[33. Wenderholm 2005, 111.], andererseits um das Staunen zu verstärken. Zudem verläuft anders als auf der Flügelaussenseite die Bewegung der Figuren nach unten und oben. Der Evangelist steht fast senkrecht unter der Madonna und neigt seinen Kopf leicht, um nach oben zu blicken. Die Heilige Jungfrau wiederum blickt auf ihren Sohn herab, der bäuchlings auf den Armen seiner Mutter liegt und seine Ärmchen dem Jünger Christi weiter unten entgegenstreckt. Die Erscheinung der Muttergottes war im Spätmittelalter ein beliebtes Thema, das signethaft für das Gesamte der apokalyptischen Visionen stehen konnte und daher oft für Einzeldarstellungen ausgewählt wurde. Gerade wenn wir Hans Fries‘ Interpretation mit anderen zeitgenössischen Darstellungen von Hieronymus Bosch, Sigmund Gleismüller, Hans Baldung oder Hans Burgkmair vergleichen, fällt die klare Dichotomie der Bildfelder bei Fries auf. In allen anderen Gemälden ist der Evangelist nicht kniend, sondern sitzend dargestellt. Weiter schwebt die Heilige Jungfrau nicht senkrecht so prominent über Johannes, sondern stets leicht seitlich, manchmal überschneiden sich die Position von Johannes und der Madonna auf vertikaler Achse. Die kniende Haltung in Fries‘ Darstellung hingegen akzentuiert erneut die Bewegungsrichtung von unten nach oben. Weiter liegt das Buch nun geöffnet vor dem Lieblingsjünger Christi; mit der tintengeschwärzten Feder schreibt dieser den Beginn seines Evangeliums in deutscher Sprache nieder, der vom Betrachter des Bildes gelesen werden kann.[34. Siehe dazu Villiger 2001, 162.]
Die rechte Innenseite, welche Johannes auf Patmos und die Erscheinung des Menschensohns zeigt, führt die Narration schliesslich zu seiner Klimax. Noch immer ist das Bildfeld in einen göttlichen und irdischen Bereich eingeteilt, der Evangelist jedoch hat diese Zäsur durchbrochen und dringt mit seinem Oberkörper in die goldene Sphäre ein. Das Buch, welches er auf dem linken Flügel noch im Begriffe ist zu schreiben, ist vollendet und liegt geöffnet in der linken Hand des thronenden Christus, frontal zum Betrachter des Gemäldes. Das geöffnete Buch in Christus‘ Hand gründet nicht auf der Bibelstelle; auch in anderen Darstellungen – ausser in der Leuchtervision Dürers – ist die linke Hand von Christus jeweils frei.[35. Vergleiche dazu die Beispiele in Ganz 2008, 61 (Burgkmair), 78 (Virgil Solis), 104 (Hohlbein).] Dies ist ein weiterer Hinweis auf Fries Selbstreflektion über das Medium des Buches. Während die Bewegungsrichtungen wie auf dem linken Pendant weitgehend vertikal verlaufen – der Evangelist richtet seinen Blick nach oben, während er gen Himmel schwebt -, blickt Christus nicht auf seinen Jünger herab, sondern leicht nach links; die Blickrichtung verläuft horizontal. Sowohl die Regungen der fiktiven Figur als auch der Blick des Betrachters kommen hier zum Halt, der Zyklus ist vollendet.
Anhand der beiden bemalten Altarflügel des kleinen Johannes-Altars scheint sich Rimmeles Annahme, dass es eine zeitgenössische Reflexion über die medialen Möglichkeiten der Flügelretabel gegeben habe, zu bestätigen. Auch wenn uns ein wichtiges Element, nämlich die Mitteltafel bzw. der Schrein, und genaue Angaben zur Aufstellung und Verwendung des Retabels fehlen, zeigt bereits eine Untersuchung der Flügel die polyfokale Interferenz zwischen den einzelnen Bildfeldern, dem physischen Apparat und dem Akt des Öffnens und Verschliessens. Mittels der Transgression der Figuren über die einzelnen Bildfelder hinaus wird eine zeitlich spannungsvolle Narration aus gegenläufigen Bewegungen inszeniert: Während die „alltägliche“ Werktagsseite eine irdische Szene zeigt und sowohl den Akt des Verhüllens als auch der horizontalen Bewegung in seinem Bildprogramm zum Ausdruck bringt, öffnet sich gleichsam mit dem Öffnen der Flügel auch der Blick des Betrachters auf das Transzendente. Zudem bricht mit dem Öffnen die äussere Szene auseinander; der Evangelist wird von der der irdischen und heidnischen Gesellschaft getrennt.
Bei der medialen Inszenierung der Bildfelder spielt auch die Materialität eine grosse Rolle: Während der goldene Nimbus auf der Aussenseite das wertvolle Innere bloss andeutet, bricht mit der Öffnung der Flügel die göttliche Offenbarung in prachtvollem Gold in das Diesseits ein und erlaubt einen Blick auf das kommende Heil. Der irdische Raum wird im letzten Flügel letztendlich verlassen, der Evangelist steigt in den Himmel auf. Die Offenbarung wird dem Rezipienten gleichsam durch das Medium des Triptychons und den Goldgrund offenbart. Eng damit verbunden ist schliesslich das Motiv des Buches, das auf dem geschlossenen Bildfeld verhüllt dargestellt wird. Auf dem linken Flügel ist das Buch, wie das Retabel, bereits geöffnet und als Schrift lesbar, um sich schliesslich im letzten Bild offen und frontal mit dem irdischen Betrachter zu verbinden. Hans Fries kann, wie Schuster Cordone dies tat, zu Recht als „peintre maîtrisant à la perfection technique picturale et art de la narration“ [36. Schuster Cordone 2007, 77.] bezeichnet werden. So schafft er es nicht nur, das physische Öffnen und Schliessen des Retabels geschickt als Motiv oder mittels der Bewegungen seiner Figuren in seine Gemälde zu bannen, sondern auch, die göttliche Offenbarung des Johannes für die christliche Gemeinde im Diesseits erfahrbar zu machen.
Literatur
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