Maestro di Carlo III Durazzo, Ende des 14. Jahrhunderts
Temperamalerei auf Holz, 29,5 x 120 cm
Schweizerisches Nationalmuseum: Inv. LM 7254.
Auf der Cassone-Tafel, die ursprünglich die Frontseite einer florentinischen Hochzeitstruhe zierte, wird die Geschichte der Schändung und des Selbstmords der Lucretia sowie der Vertreibung des letzten Königs aus Rom dargestellt (Abb. 1). Die in fünf Szenen aufgeteilte Erzählung ist von links nach rechts angeordnet. Inhaltlich folgt sie der Darstellung, die der antike Historiker Titus Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.) in seinem Werk Ab urbe condita (I, 57, 6-59, 6) von den Vorgängen gibt, erweitert um Einzelheiten aus der spätmittelalterlichen Exempelsammlung der Gesta Romanorum (Gest. Rom. 135).
Die erste Szene zeigt die Schändung Lucretias durch Sextus Tarquinius, den Sohn des römischen Königs Tarquinius Superbus (Abb. 2). Lucretia liegt nackt in ihrem Schlafgemach im Bett, Oberkörper, Bauch und der Ansatz ihres rechten Beines sind für den Betrachter gut erkennbar. Ihr Körper erscheint in Abwehrhaltung, den rechten Arm hält sie schützend vor den Körper. Ihre Vergewaltigung wird dabei durch die Bettstatt, insbesondere durch die rote Decke auf dem weissem Laken, symbolisiert.
Im zweiten Bild diktiert Lucretia, wie in den Gesta Romanorum beschrieben, einem Schreiber Briefe an ihren Vater Spurius Lucretius Tricipitinus sowie an ihren Gatten L. Tarquinius Collatinus, um sie zur Heimkehr zu veranlassen (Abb. 3). Hinter Lucretia wartet eine rot gewandete Dienerin. Das dritte Bildfeld illustriert die Ankunft von Vater und Gatten mitsamt ihren berittenen Soldaten an der römischen Stadtgrenze.
Das folgende Ereignis wird durch eine schräggestellte Loggia auffällig inszeniert. Hinten links ist die etwas gedrängt auftretende Gruppe der heimgekehrten Männer zu sehen und rechts Lucretia, die sich den Dolch in die Brust stösst, inmitten von vier erschrockenen Frauen (Abb 4). Im letzten Bild erobern die herbeieilenden Rächer unter L. Brutus die Stadt Rom und vertreiben Tarquinius Superbus. Auf der linken Seite präsentieren die Rächer ein rotes Banner mit der Aufschrift SPQR und etablieren damit die römische Republik; in der Mitte ist das Stadttor zu erkennen, von welchem aus Tarquinius Superbus davonreitet, einen letzten Blick auf die für ihn verlorene Ewige Stadt werfend.
Die einzelnen Sequenzen werden durch Architekturelemente, Türen und Mauern voneinander abgetrennt; dies könnte darauf hindeuten, dass sich die Protagonisten der Geschichte in unterschiedlichen Gemütsverfassungen befinden. Gleichzeitig lassen sich in jedem Bild Schwellen ausmachen, die von den Hauptfiguren überschritten werden: Szene 1 (Schwelle zum Verbrechen), Szene 2 (Schwelle der Privatheit bei der Erzählung des Verbrechens), Szene 3 (physischer Einzug des Vaters und des Ehegatten in die Stadt), Szene 4 (Schwelle zum Tod) und Szene 5 (Neukonstituierung Roms).
Hochzeitstruhen, sogenannte cassoni nuziali (Abb. 5), wurden jeweils paarweise zuerst vom Brautvater, später vom Vater des Bräutigams in Auftrag gegeben und am Ende einer Hochzeitszeremonie in einer Prozession vom Haus der Braut zu dem des Bräutigams getragen (domumductio). In diesem Möbelstück wurde die Mitgift der Braut aufbewahrt, um diese bei der Übergabe nicht publik vorzeigen zu müssen.1 Die Darstellungen auf sogenannten cassoni istoriati dienten der Illustration von in humanistischen Kreisen bekannter Literatur aus der Antike. Dabei erfreute sich die Ikonographie um die altrömische Lucretia dank der Declamatio Lucretiae des Florentiner Kanzlers Coluccio Salutati (1331-1406) grosser Beliebtheit. Mit diesem Thema wurde einerseits auf die Reinheit der Braut verwiesen, andererseits symbolisierte sie im Fall von Florenz, das sich ab 1390 erbittert gegen die Eroberungsversuche Gian Galeazzo Viscontis zur Wehr setzte, das politische Ideal der republikanischen Freiheit.2
Der Erwerb der vorliegenden Cassone-Tafel erfolgte 1903 durch das damalige Landesmuseum anlässlich einer Ausstellung kirchlicher Kunst in Bellinzona.3 Sie stammte aus der Sammlung Pagutti in Rovio (TI)4 und ist heute in einem schlechten Erhaltungszustand. Bislang wurde sie nicht restauriert oder konservatorischen Massnahmen unterzogen. Die rechte Hälfte des unteren Randes ist beschädigt. Auch die beiden Seitenränder sind angegriffen, wobei rechts die Einbussen grösser sind und sogar die abgebrochene Struktur des Holzes, das eine teilweise wurmstichige Qualität aufweist, sichtbar wird (Abb. 6). Am rechten Seitenrand sind die Nägel, mit denen die Leinwand auf der Grundierung befestigt wurde, zu erkennen. Die Tafel wird auf halber Höhe in der rechten Hälfte von einem horizontalen Riss durchzogen. Die Temperafarben sind z.T. stark verblasst, abgeplatzt oder abgeblättert. Noch gut erkennbar ist die eingetiefte Linienzeichnung, die Körperformen und Architekturelemente definiert.
Im Mittelpunkt der jüngeren Forschungsdiskussion standen die Datierung und die Urheberschaft der Tafel. Stilistische Merkmale in der Darstellung von Architektur, Mimik, Gestik und Kleidung der Figuren erlauben eine Verortung in der Florentiner Malerei des 14. Jahrhunderts. Insbesondere die Todesszene der Lucretia erweist sich als stark durch Florentiner Malerei des Trecento inspiriert. Es lassen sich beispielsweise ähnliche Muster in der räumlichen Anordnung der Figuren oder in deren Posen erkennen, wie sie in Taddeo Gaddis Tempelgang Mariens (um 1330, Cappella Baroncelli, Santa Croce, Abb. 7) oder in Giottos Stigmatisation des Franziskus (um 1330, Cappella Bardi, Santa Croce, Abb. 8) zu finden sind.
Lange Zeit war unklar, wem das Tafelbild zuzuschreiben ist. Als möglicher Künstler wurde der florentinische Meister Bicci di Lorenzo (1373-1452) gehandelt.5 Doch wurde jüngst aufgezeigt, dass ein Corpus fast identischer Tafelbilder existiert, auf denen die Geschichte der Lucretia dargestellt wurde. Dieses geht auf einen Florentiner Künstler zurück, dem der Notname „Maestro di Carlo III Durazzo“ verliehen wurde, denn auf einem seiner Werke wurde die Eroberung Neapels durch Karl III. Durazzo im Jahr 1381 verewigt.6 Weitere vergleichbare Cassone-Tafeln des Malers werden aktuell in der Hearst Collection in San Simeon in Kalifornien, dem Musée Jacquemart André in Paris und dem Ashmolean Museum in Oxford aufbewahrt.
Literatur
Baskins 1998: Cristelle Baskins, Cassone Painting, Humanism, and Gender in Early Modern Italy, Cambridge 1998.
Jahresbericht des SLM 1904: Einkäufe, in: Jahresbericht des Schweizierischen Landesmuseums 13 (1904), 47-52.
Hughes 1997: Graham Hughes, Renaissance Cassoni. Masterpieces of Early Italian Art: Painted Marriage Chests 1400-1550, Alfriston, Polegate 1997.
Lurati 2007: Patricia Lurati, Doni nuziali del Rinascimento nelle collezioni svizzere, Locarno 2007.
Miziołek 1996: Jerzy Miziołek, „Florentina libertas“. La storia di Lucrezia romana e la cacciata del tiranno’ sui cassoni del primo Rinascimento, in: Prospettiva: Rivista di storia dell’arte antica e moderna 83-84 (1996), 156-176.
Moro/Freuler 1991: Franco Moro/Gaudenz Freuler (Hg.), „Künder der wunderbaren Dinge“. Frühe italienische Malerei aus Sammlungen in der Schweiz und in Liechtenstein, Ausstellungskatalog Lugano-Castagnola, 07.04.-30.06.1991, Einsiedeln 1991.
Ruoss/Wüthrich 1996: Mylène Ruoss/Lucas Wüthrich, Katalog der Gemälde. Schweizerisches Landesmuseum Zürich, Zürich 1996.
Schubring 1923: Paul Schubring, Cassoni. Truhen und Truhenbilder der italienischen Frührenaissance. Ein Beitrag zur Profanmalerei im Quattrocento, 2 Bde., Leipzig 1923 (1915).
Witthofft 1982: Brucia Witthofft, Marriage Rituals and Marriage Chests in Quattrocento Florence, in: Artibus et Historiae 3 (1982), 43-59.