Visionsliteratur

Texte, die vollständig oder in grossen Teilen aus der Beschreibung visionärer Bilder und Auditionen bestehen. Das wichtigste biblische Modell ist die Offenbarung des Johannes. Neben die Erzählung visionärer Jenseitsreisen tritt im 12. Jahrhundert eine neue Form visionärer Offenbarungsliteratur, die paradigmatisch in den Werken Hildegards von Bingen (1098-1179) auftritt. In Hildegards Liber Scivias und Liber Divinorum Operum werden komplexe theologische Sachverhalte in Visionsbildern verdichtet und in den anschliessenden Auditionen in ihrer Bedeutung erklärt. Für die Geltung dieser Offenbarungen beansprucht Hildegard eine Autorität, die den biblischen Propheten gleichkommt. Im 14. Jahrhundert wird dieser Typus von Birgitta von Schweden aufgegriffen, deren Revelaciones stark in politische Streitfragen der Zeit hineinreichen. Eine ganz andere Funktion des Visionären artikuliert sich in den Texten der Erlebnismystik des 13. und 14. Jahrhunderts. In diesen überwiegend von Frauen verfassten Texten eröffnen Visionen das Tor zu einer körperhaften Annäherung und Vereinigung mit Christus, Maria und den Heiligen.

Obwohl Visionen im Mittelalter als innere Bilder verstanden wurden, sind die Texte der Visionsliteratur bemerkenswert oft unbebildert geblieben. Die Anfertigung von bebilderten Handschriften der Visionswerke Hildegards von Bingen und Birgittas von Schweden steht in Verbindung mit Bemühungen um die Heiligsprechung der beiden Frauen. In den vorangestellten Autorenbildern werden die Umstände der Offenbarung und ihrer schriftlichen Aufzeichnung definiert. Darüber hinaus enthalten der Wiesbadener Liber Scivias und der Luccheser Liber Divinorum Operum gemalte Darstellungen zu allen Visionsbeschreibungen. Fest in der Struktur des Werks verankert sind gemalte Visionsdarstellungen nur im Exemplar Heinrich Seuses, wo die Bilder der Übertragung eines vorbildlichen Lebenswegs auf die Leserinnen und Leser dienen sollen.

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