UZH Hermeneutik

Aufgaben Lektion 8

Lösung 1

Sokrates: In Anbetracht des würdigen Grundes unseres Treffens hier, lieber Phaidros, würdest du mir nicht zustimmen, dass das Auflösen des Knotens, in dem unser Freund sich jetzt gefesselt findet, vielleicht zur Vervollkommnung der anstehenden Diskussion beitragen könnte?

Phaidros: Also gut, Sokrates, ich bin nicht derjenige, der deine Hebammenkunst in Frage stellt und erlaube dir diesen kurzen Zwischenruf. Aber lasst uns nicht zu weit von dem Vorgenannten abweichen, soll der rabiate Chronos sich nicht die Früchte unseres Abends ins Nichts niederreißen.

Sokrates: Ich weiß deine Geduld zu schätzen, liebster Freund, und werde mich beeilen, ja dass der Fluss der Zeit die Knospen unseres Gesprächs nicht hinwegspüle. Nun, Agathon, widmen wir uns wieder dem Knoten, welcher dein Verstand so ungehorsam strapaziert. Wir vergegenwärtigen uns der damaligen Vorführung, von dem ich nur ein lobendes Wort zu schildern vermag. Wie unbeirrt du vor deinem wimmelnden Publikum aufgetreten bist, mit welchem Glanz du dein Stück aufführen konntest. Den ganzen Abend über kam kein verkrüppelter Satz über deine Lippen. Und doch willst du mir gestehen, die erste Ahnung eines verständigen Zuschauers hätte dich ins Krächzen gebracht.

Agathon: Sokrates, ein solch hohes Lob von einem Mann, so weise wie du es bist, das wird mein Herz einen höheren Rang gewähren, als das Gebrüll von hundert so wimmelnden Massen und das immerfort. Aber wie es mit dem Behalt meiner offenbaren Ungezwungenheit steht, werde ich deine letzte Behauptung nur erwidern.

Sokrates: Erlaube mir dann, das Belangen, dein noch verfliessendes Bildnis der Massen mit schärferen Zungenzügen zu umgrenzen; woran liegt dir dieses Wort, die Massen? Bitte, sag mir doch, worauf der Unterschied zwischen Masse und nicht-Masse beruht? Ist es vielleicht eine Beschwerde der Arithmetik, Agathon, welche in deiner Seele eine solche Beklemmung hervorruft. Wo beginnt und endet deine zählerische Qual? Anwesend waren mindestens hundert Mann, ganz zu Schweigen von den Sitzen deiner treusten Freunde.

Agathon: Ach Sokrates, auf eine solch bestimme Zahl wirst du mich wohl nicht bringen können.

Sokrates: Nun, wohl, lassen wir das Zusammenzählen bei Seite und versuchen einen anderen Weg zur Verständigung. Die Massen offenbaren sich deinem Augenschein wohl nicht in Zahl, sondern in ihrer Form, Letzteres ein Ausdruck des Ersteren. Wird deine Verlegenheit somit geometrisch herbeigeführt? Zwischen einer Menschenmenge, unkenntlich und ziellos umherfallend einem See gleich, und der vergleichsweise stillen Beschaulichkeit deiner vertrauten Genossen besteht ein raumhafter Unterschied. Stosse ich hier auf etwas fassbares, Agathon?

Agathon: Mit welcher Geschicklichkeit du die Sache meiner Beunruhigung zersetzt, Sokrates. Ich stimme dir zu, dass der Raum, der unbewegte Träger alles Bewegten, eine entscheidende Rolle spielen müsse. Aber meine Augen, worin sich doch der Raum und dessen Bilder sich offenbaren, können wir nicht vernachlässigen. Schlussendlich sind es diese, welchen sich meine Unterscheidungsfähigkeit widmet.

Sokrates: Ganz genau siehst du das, Agathon! Jetzt, wo wir das Augenschein ins Gespräch führen, nimm doch Kenntnis von dem Wort, dessen ich soeben Gebrauch machte; sehen. Wie kann ich behaupten, das du gerade etwas gesehen hast? Wo liegt dieses etwas, das dir in den Augen fallen sollte?

Agathon: Ich glaube, ich sehe – verstehe – worauf du hinaus willst, Sokrates.

Sokrates: Das lässt sich noch sehen! Stellen wir uns jetzt dieser zweien Formen entgegen, der wühlenden Masse und den kundigen Freunden. Wo befinden sich die beiden momentan?

Agathon: Sie befinden sowohl hier und nicht hier.

Sokrates: Hier, der konkreten Welt, und wo denn sonst?

Agathon: In meinem Verstand, Sokrates.

Sokrates: In deinem Verstand. Gut. Also die Erkenntnis dieser beiden Formen, woraufhin dir solch unterschiedliche Affekte aufgedrückt werden, kann als eine Sache des Verstandes, genauer des geometrischen Verstandes gefasst werden.

Agathon: Ich stimme dir zu. Bitte, sprich weiter. Ich erspüre schon die Erregung eines gleich emporsteigenden Gedanken in dir.

Sokrates: Du spürst einen Gedanken in mir kommen? Die Affekte, die du jetzt erlebst und dein Verständnis meiner Form, als redender, denkender Sokrates, stehen also in einem gewissen Zusammenhang?

Agathon: Scheint der Fall zu sein.

Sokrates: Also ist es bei deiner Angst vor der Form eines Kundigen eine gleichartige Beziehung von Affekt und Verstand?

Agathon: Genau!

Sokrates: Wir kommen dem Ziel immer näher, Agathon. Jetzt wenden wir uns doch seitens deiner Affekte, der zweiten Hälfte dieses Zwischenspiels. Die Form, welcher dir ein vernünftiger Zuhörer beigesellt, übersetzt sich also in dieser Angst, die dich in Verlegenheit bringt. Haltest du mich und deinen Freunden etwa für eine angemessene Verbildlichung der Angst?

Agathon: Auf keinen Fall, Sokrates. Wenn überhaupt, dann finde ich meine gemütlichste Zuflucht in der Gesellschaft meiner lieben Freunde. Soll jedoch das Moment der absichtlichen Aufführung in unsere Beziehung einfließen, mit euch als Empfänger meiner Darbietung, dann laufen meine Affekte plötzlich aus dem Ruder.

Sokrates: Mit höchstem vergnügen Empfangen wir deine Aufführungen. Aber ist es nicht auch der Fall, dass du von deinen Zuschauern etwas empfängst? Vielleicht, etwas, worauf deine Seele sogleich hinstrebt? Und nicht nur deine Seele, sondern all diejenige Seelen gesunder Zusammensetzung? Und was ist dieser Schatz, das Empfangen wonach dir bei dessen niedrigeren Verstandes so viel leichter fällt, als bei einem Verständigen, dementgegen du in dieser Angst gerätst.

Agathon: Der Beifall? Die Umarmung? Der Kuss?

Sokrates: Sind alles Ausdrücke des…

Agathon: Eros!

Phaidros zwischenzeitlich betrunken entseelt

Sokrates: Das Eros ist also das, was sich mittels und jenseits der konkreten Formen gebärdet, und deine Affekte wankelmütig lässt. Jetzt wo du, weiser Agathon, uns endlich auf das Wesen deines Seelenstreites zurecht gelenkt hast, können wir eine letztendliche Unterscheidung dieser Formen anhand deines Eros-Empfängnis versuchen. Sagen wir, dass der Logos, das hauptsächliche ist, was einem Verständigen von den unverständigen Massen auszeichnet und das der Eros das eigentlich begehrte darstellt. Sag mir nun, wessen Eros strahlt tiefer in deiner Seele, Agathon?

Agathon: Dasjenige des Verständigen, natürlich.

Sokrates: Weswegen, denn?

Agathon: Der gemeine Athener, vor allem in Menschenmengen seinesgleichen eingenistet, scheint nie zu wissen, was er eigentlich bejubelt. Er sieht dieselbe Handlungen wie ich und bricht dennoch in Gelächter oder Trauer aus, der in völligem Widerspruch zu den Höhen und Tiefen steht, die ich in meinem eigenen Tun wahrnehme. Ich kann nicht behaupten, dass er meine Arbeit für das schätzt, was sie in Wirklichkeit ist. Sein Eros fliesst von meiner Seele herab, wie Wasser einem Entenleib.

Sokrates: Und der Verständige, mit seinem vergleichsweise hohen Anteil an Logos, ist derjenige, wessen Eros zu erlangen dich in Schrecken versetzt.

Agathon: So ist es.

Sokrates: Kann es dann vielleicht sein, dass der Eros sich in Formen gebärdet, sei es der gemeine oder weise Mann, deren Empfangen dem in den Verstand derselben waltenden Anmass an Logos ausgesetzt ist?

Agathon: Meine Angst vor dem Eros ist also als Demut vor dem Logos entlarvt worden.

Sokrates: Der wahrhaft weiser Schluss eines wahrhaft weisen Mannes, wie du es schon immer warst.

Agathon: Sokrates, die Worte fehlen mir, in dem Versuch, zu beschreiben, welche Ehrfurcht ich dir gerade entgegenbringe. Meine ganze Welt hat sich soeben erhellt.

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