Von Salome Messmer
Kunst soll Politik selber in die Hand nehmen. Sie soll in soziale Ordnungen eingreifen und diese mit ästhetischen Mitteln verändern. Kunst soll in eine neue Lebenspraxis überführen. Dieser Anspruch wurde bereits von den Avantgardisten angestrebt [1], welche das damalige Verständnis von Kunst auf den Kopf stellten. Der reine Werkcharakter wurde kritisch hinterfragt und die Künstler_innen wollten Aufgaben übernehmen, welche über das Herstellen von Objekten hinausgehen. Ihre Revolution manifestierte sich jedoch in einem ästhetischen Schock und die Bewegung konnte ihre Ziele nicht erreichen. [2] Ebenso erging es der Kunst des sozialistischen Realismus, die zwar ähnliche Ziele anstrebte, jedoch keine neue Stossrichtung in der gegeben Ordnung erzeugte, sondern vor allem als Propaganda des Systems diente. Oder dem Bauhaus, das versuchte, sämtliche Lebensformen in der Kunst zu vereinen, den Alltag ästhetisierte, jedoch an seiner Philosophie scheiterte. Als in den Siebziger Jahren völlig neue Strömungen der Kunst aufkamen, wie die Konzeptkunst oder Fluxus, wurden diese Ideen (Intervention der Kunst in den politischen und sozialen Alltag) wieder aufgegriffen. Es entwickelte sich eine neue Kunstform, welche den Dialog als ästhetische Methode etablierte und in ihrer Praxis versucht, schrittweise soziale Verhältnisse der Gesellschaft zu verändern: die aktivistische, soziale Kunst. Künstler_innen, allen voran Joseph Beuys mit seinem Begriff der Sozialen Plastik, versuchten durch Kreativität und künstlerischen Genius die gegeben Ordnungen zu sprengen und die Welt zu verändern. [3]
“Socially engaged art is on the rise, shaking up foundations of art discourse, and sharing techniques and intentions with fields far beyond the arts. But unlike its avant-garde predecessors such as Constructivism, Futurism, or Dadaism, socially engaged art is not an art movement. Instead, these cultural practices indicate new ways of life that emphasize participation, challenge power, and span disciplines ranging from urban planning and community work to theater and the visual arts.” [4]
-Thompson, 2011
Da diese Kunstform jedoch keine stilistische Bewegung war, wie beispielsweise der Dadaismus, der Minimalismus oder Futurismus und sich auch nicht werkabhängig ausdrückte, wurde sie lange vom Kunstbetrieb abgelehnt und als Aktivismus eingeordnet. Seit dem 21. Jahrhundert hat sich die soziale Kunst jedoch in der Kunstwelt etabliert. Während sich die eine elitäre Seite des Kunstsystems mit dem Spektakel und einem ‚Überbietungscharakter’ auseinandersetzt, bei welchem der Künstler selbst ein wertvoller Teil des neoliberalen Wettbewerbs wird, versucht die soziale Kunst, die soziale Ordnung zu hinterfragen und in sie einzugreifen. [5] Dies gelingt ihr durch konkrete Vorschläge, welche plangemäss umgesetzt werden können. [6]
Kunsttheoretisch fundiert wird das tragende Prinzip der sozialen Kunstpraxen, der Dialog, von Grant Kester, im Konzept der Dialogical Aesthetics (2004). [7] Der Diskurs der Moderne, Politik und Gesellschaft von der Ästhetik abzutrennen und Kunst unbeeinflusst und unabhängig von sozialen Ordnungen zu positionieren wird von Kester stark kritisiert. Er sieht das Ideal einer Kunstpraxis, bei welcher das Machen und die Erfahrung von Kunst im Tun zusammenfallen. [8] Künstler und Betrachter agieren gleichzeitig, in einem gegenseitigen Austausch. Die dialogische Praxis wird zur ästhetischen Methode. Das Involvieren von Personen mit verschieden Hintergründen sowie die individuelle ästhetische Erfahrung des Einzelnen sind dabei entscheidend.
Urbane Prozesse im ästhetischen Diskurs – die Shedhalle
Obwohl die soziale Kunst den zeitgenössischen Kunstbegriff hinterfragt und den elitären Kunstbetrieb kritisiert, ist ihre Umsetzung dennoch an Institutionen gebunden. In der Stadt Zürich gibt es einen Ort, an welchem Kunstprojekte, die aktuelle Themen der Stadt diskutieren, gefördert werden: die Shedhalle. Als Teil der Roten Fabrik blickt die Shedhalle auf eine Geschichte des politischen Widerstands und des sozialen Umbruchs zurück. Finanziert von Geldern der Stadt Zürich, versteht sie sich seit ihrer Etablierung 1994 als Aushandlungsraum von gesellschaftlich relevanten und unbequemen Fragen. [9]
Zürich, Kunst und Drogenproblematik: Intervention der 8. WochenKlausur
Die Kunst soll nicht mehr von politischer Realität abgekapselt sein. Im Sinne dieser neuen Philosophie der Shedhalle wurde 1994 die Künstlergruppe WochenKlausur eingeladen. Die aus Wien stammende Gruppierung (Kern aus vier Künstlern: Pascale Jeannée, Stefania Pitscheider, Erich Steurer und Wolfgang Zinggl) führt seit 1993 soziale Interventionen in Form von konkreten Vorschläge zur Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung durch, welche sie auf Einladung von Kunstinstitutionen entwickelt und umsetzt. [10]
Zum Zeitpunkt des Projektes hatte die Stadt Zürich grosse Probleme mit Drogenkonsument_innen welche sich nach der Schliessung des Platzspitzes 1992 am Letten versammelten. Der sogenannte „Needle –Park“ erregte internationales Aufsehen und lockte Opiatabhängige von überall her nach Zürich. Der Platzspitz und später auch der Letten wurde zur Parallelwelt, hier versammelte sich der aussätzige und schwache Teil der Bevölkerung. Manche von ihnen kamen nur um sich das Heroin zu besorgen, andere lebten da in provisorisch errichteten Kartonhäusern. Der Stadtrat tolerierte die Szene jahrelang, froh dass sich diese Leute nicht auf den Strassen aufhielten. Er unterstütze Sozialhilfeleistungen, welche vor Ort Essen und saubere Spritzen verteilten. Durch Druck von rechten Parteien, welche diese Hilfeleistungen als fördernd für die Drogenproblematik anprangerte, wurden die Gelder jedoch zurückgezogen. Die Drogenkonsument_innen der Szene verwahrlosten, und viele fingen an, sich die Drogen durch Kriminalität oder Prostitution zu besorgen. Problematisch war dies vor allem für die Frauen, welche auf den Strich gingen, denn diese waren obdachlos und der Gewalttätigkeit der Freier, Zuhälter oder Dealer sowie der Willkür der Polizei ausgesetzt. Zusätzlich gab es aufgrund der Umstände damals ein hohes Risiko, sich mit HIV zu infizieren.
Die WochenKlausur intervenierte mit dem Kauf und der Gestaltung einer Pension, in der die Frauen tagsüber einen Rückzugsort fanden. Die Realisierung des Projekts bestand zum grössten Teil aus dialogischen Formaten. Über zwei Wochen fuhren über sechzig Personen jeweils zu viert von der Shedhalle aus auf den Zürichsee. Darunter waren Parteiangehörige, Fachleute der Gebiete der Drogenproblematik und Prävention, Vertreter_innen der Presse, Stadträt_innen. Der wichtigste Gesprächspunkt auf den Bootsfahrten war der Vorschlag dieser Frauenpension, für welche man sowohl politische als auch mediale Absicherung benötigte. [11] Die Stadt Zürich, der Kanton sowie das BfG übernahmen zwei Drittel der Kosten, was zu einer Realisierung des Projektes führte. Die entstandene Notschlafstelle ZORA wurde bis 2001 erfolgreich betrieben. Als die Stadt ihre Gelder zurückzog, musste sie jedoch geschlossen werden.
Zürich, Kunst und Urban Citizenship – das Projekt die ganze Welt in Zürich
Ende Mai 2018 wurde der Platzspitz nach über 25 Jahren wieder besetzt. Diesmal jedoch nicht von Drogenabhängigen, sondern von Aktivisten, welche mit Konzerten und Ständen auf eine neue Problematik der Stadt aufmerksam machen wollten: die verstärkte Migration und die Herausforderung von Sans-Papiers, sich in Zürich einzufinden. Mit der Jahrtausendwende und der verstärkten Globalisierung stieg die Zahl der Migrant_innen in der Stadt. Im Jahr 2017 Zürich betrug diese Zahl 32.4 %. [12] Das ist ein Drittel ohne Schweizer Pass. Folglich ein Drittel, der von politischer Teilhabe ausgeschlossen ist. Keine Mitspracherechte, erschwerter Zugang zu sozialen Dienstleistungen, Bildung, Arbeitsplätzen und öffentlichen Institutionen. Die Debatte der Urban Citizenship (dt. Stadtbürgerschaft), welche in den Neunziger Jahren aufkam, untersucht dieses Problem und sucht Lösungen, um die demokratischen Instrumentarien auf lokaler Ebene anzupassen. Gesellschaftliche Teilhabe soll nicht mehr abhängig von Staatsangehörigkeit sein. In New York City wurde dies mit einer Grünen Karte erreicht, mit der marginalisierte Gruppen und Migranten sich als Bürger von New York ausweisen können und somit in sämtliche Teilhabeprozesse eingebunden werden. Auch in Zürich sollte dieses Thema aufgearbeitet werden. Das in der Shedhalle gezeigte Kunstprojekt Die ganze Welt in Zürich hatte zum Ziel, konkrete Vorschläge zu einer Stadtbürgerschaft in Zürich zu sammeln, ihre politische Machbarkeit auszuloten und öffentlich vorzuschlagen. Initiiert wurde das Projekt von der kuratorischen Leiterin der Shedhalle, Katharina Morawek und dem Künstler Martin Krenn. Beide greifen in ihrer Arbeit gesellschaftsrelevante Themen auf und versuchen, durch Verstrickungen in politische Kämpfe und durch künstlerische Interventionen neue Stossrichtungen in der gegebenen Ordnung zu erreichen.
Nun sollte durch Mittel der Kunst eine ‚Demokratisierung der Demokratie’ in der Stadt Zürich zu erlangen, sowie konkrete Interventionen in der Schweizer Migrationspolitik durchzusetzen werden. Die Umsetzung des Projekts geschah in Zusammenarbeit mit einer transdisziplinären Arbeitsgruppe. Man legte Schwerpunkte fest: Aufenthaltsfreiheit, Diskriminierungsfreiheit und Gestaltungsfreiheit. [13]
Auch dieses Projekt bestand hauptsächlich aus Dialogformaten, und auch hier wurde die Lage der Shedhalle genutzt, um mittels Bootsfahrten den regulären Ausstellungsraum aufzubrechen. Der Hafen in Wollishofen stand dabei sinnbildlich für eine globale Vernetzung, aber auch für ein sicheres Gewässer, in welchem Schiffe von überall her anlegen können. Die Dialoge, bestanden aus nicht –öffentlichen „Hafengesprächen“ und öffentlichen „Hafenforen“. In beiden wurden die Problematiken von einer Reihe Betroffener und Fachleute aus Migration, Gewerkschaft, Vertretern der Politik, sowie Spezialisten der Stadtforschung und Kunstvermittlung diskutiert.
Entstanden sind budgetierte Nachfolgeprojekte, welche bis heute daran arbeiten, die Situation der Migrant_innen in Zürich zu verbessern: Die Erarbeitung einer City Card für Zürich, welche sich an die New York City Card anlehnt, die Allianz gegen Racial Profiling, welche sich gegen rassistisch motivierte Polizeikontrollen einsetzt und der ‚Salon Bastarde’, ein postmigrantischer Club.
Abschliessende Gedanken
Beide Projekte der Shedhalle haben das Ziel, neue Stossrichtungen in der Politik zu schaffen. Die Kunst setzt sich für marginalisierte Gruppen ein (Prostituierte und Migranten) anstatt Profit zu generieren. Die Kunstaktionen sollen in die soziale Ordnung eingreifen und sie neu strukturieren. Gemeinsam etwas zu verändern ist das Ziel der Intervention, das Mittel dazu ist die Kunst. Die direkte Einbindung der Rezipent_innen in die künstlerische Praxis soll die Kunst neu vermittelten und die Lebenspraxis überführen. Somit gelingt es ihr nicht nur den politischen Status Quo zu hinterfragen, sondern auch eine neue Denkweise im Verständnis der zeitgenössischen Kunst zu ermöglichen.
[1] Vgl. Webseite der Wochenklausur, Kunst, auf http://www.wochenklausur.at/kunst.php?lang=de, abgerufen am 23.6.18
[2] Vgl. Bürger, Peter 1995: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main, 1995, S. 11ff.
[3] Vgl. Zinggl, Wolfgang 2002: WochenKlausur Vom Objekt zur Intervention, in Borderline Strategien und Taktiken für Kunst und soziale Praxis, hrsg. Borderline Kongress AG, Wiesbaden 2002, S. 86.
[4] Thompson, Nato 2011: Living as Form, auf http://creativetime.org/programs/archive/2011/livingasform/curator_statement.htm, 2011, abgerufen 4.6.2018.
[5] Vgl. Krenn, Martin 2016: das Politische in sozialer Kunst. Intervenieren in soziale Verhältnisse, 2016, auf https://www.p-art-icipate.net/cms/das-politische-in-sozialer-kunst/, abgerufen 5.6.2018.
[6] Vgl. Zinggl, Wolfgang 2002: WochenKlausur Vom Objekt zur Intervention, in Borderline Strategien und Taktiken für Kunst und soziale Praxis, hrsg. Borderline Kongress AG, Wiesbaden 2002, S. 70f.
[7] Vgl. Kester, Grant 2015: On the Relationship between Theory and Practice in Socially Engaged Art, Fertile Ground, 2015, auf http://www.abladeofgrass.org/fertile-ground/on-the-relationship-between-theory- and-practice-in-socially-engaged-art/ abgerufen 4.6.2018.
[8] Vgl. Krenn, Martin & Morawek, Katharina (Hg.) 2017: Martin Krenn, Zur Demokratisierung der Kunst, in Urbæn cit’zën Şhip. Democratising democracy, Wien, 2017, S. 247.
[9] Vgl. Hoffman, Anke & Volkart, Yvonne 2013: Eindeutigkeiten sprengen: kuratorische Praxis Shedhalle 2009 – 2012; curatorial practice Shedhalle 2009 – 2012 = subverting disambiguities, Zürich, 2013, S. 9.
[10] Vgl. Jeanée, Pascale 2002: WochenKlausur. Kunst und konkrete Intervention, hrsg. Borderline Kongress AG, Wiesbaden 2002, S.73f.
[11] Vgl. WochenKlausur: Schlafplätze für drogenabhängige Frauen, auf http://www.wochenklausur.at/projekt.php?lang=de&id=4, abgerufen 3.6.2018.
[12] Vgl. Statistik Bevölkerung der Stadt Zürich 2017 auf https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/themen/bevoelkerung/nationalitaet-einbuergerung-sprache/anteil-auslaendische-bevoelkerung.html, abgerufen 23.6.18.
[13] Vgl. Krenn, Martin & Morawek, Katharina (Hg.) 2017: Urbæn cit’zën Şhip. Democratising democracy, Wien, 2017, S.13ff.
Abbildungsverzeichnis
Abb.1 (Beitragsbild): Rote Fabrik, Zürich, 7. Juli 2018, Foto: Die Verfasserin.